Politische Justiz gibt es in der Bundesrepublik nicht, schon gar kein politisches Strafrecht. Es gibt aber einschlägige Paragraphen, deren Tatbestände nur von Andersdenkenden erfüllbar sind. Die inflationäre Anwendung der §§ 129a und 130 StGB beispielsweise hat seit Merkels Sonderweg 2015 und der Einführung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes von 2017 einen beachtlichen Keil in die Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik getrieben.
Wer sich gegen die Massenmigration organisiert, muß gewärtig sein, daß der Generalbundesanwalt schon die Mails mitliest und einen Prozeß wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung (§ 129a StGB) vorbereitet. Wer seiner Wut oder berechtigten Kritik am aktuellen Sonderweg öffentlich Luft macht, kann mit einer Standardanzeige der Internetpolizei wegen Volksverhetzung (§ 130 StGB) rechnen und damit, daß Anklageschrift und Urteil (böse Zungen behaupten, bereits vor Beginn der Hauptverhandlung) ebenso standardmäßig wortgleich sind.
Selbstredend sind aber Strukturen hinter offenkundig linksradikalen Anschlägen auf Polizisten, Behörden und Ämter oder gar die Leipziger Außenstelle des BGH am 31. Dezember 2018 nicht unter § 129a StGB subsumierbar, denn dort handelt es sich, falls überhaupt Täter gefaßt werden, höchstens um Einzelstraftaten, ein bißchen § 306a hier und eine Prise § 308 StGB da. Alles Einzelfälle ohne konspirativen Zusammenhang. Und daß Blogs ohne Impressum, die im Wahlkampfjahr 2019 zu Morden an Politikern aufrufen, den § 130 StGB nicht erfüllen können, versteht sich ebenfalls von selbst. Soviel zur Gegenwart.
Vom 6. Mai 2013 bis 11. Juli 2018 fand vor dem Oberlandesgericht München der unpolitischste Strafprozeß mindestens seit dem RAF-Prozeß von 1975 statt. Der NSU-Prozeß kostete nach neusten Schätzungen 30 Mio. Euro und umfaßte stolze 438 Hauptverhandlungstage. Die Hamburger Rechtsanwältin Angela Wierig nahm bis zu ihrer Entpflichtung satte 401 Tage an diesem Spektakel teil und vertrat als Nebenklägervertreterin die Schwester eines Opfers. Soweit die Ausgangslage. Wierig ist nun, und darauf kommt es hier an, keine »Gerichtsnutte«.
So werden unter aufrechten Strafverteidigern die »Kollegen« bezeichnet, welche auf zauberhafte Weise eine Flatrate auf Pflichtverteidigungen gebucht haben und bei denen die Mandatierungen schon vorliegen, ehe die Straftat überhaupt begangen wurde, beziehungsweise eine Zehntelsekunde danach. Daß diese Gerichtsnutten im Prozeß kaum wahrnehmbar und nicht sehr widerspruchsfreudig sind, ist reiner Zufall und hat selbstverständlich nichts mit ihrer Gerichtsnuttigkeit zu tun. Wierig nun hat während des NSU-Prozesses (und sicher auch sonst) überdurchschnittlich oft den Mut gehabt, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Was dazu führte, daß diese politisch nun wirklich überhaupt nicht verdächtige oder vorbelastete Strafverteidigerin nach ihrem Plädoyer am 12. Dezember 2017 ihr Mandat verlor und zum Opfer einer derben Medienkampagne wurde, die ihr nicht nur Mandantenverrat unterstellte, sondern auch, selbst Nazi zu sein, mindestens jedoch, AfD-Botschaften durch die heiligen Hallen des OLG München zu posaunen – nur, und darauf kommt es hier weiterhin an, weil sie im Gerichtssaal den Mut hatte, den Kaiser als nackt anzusehen.
Über diesen Eiertanz, der in ihrer Schilderung von einer Komödie zur Groteske abgleitet, hat Wierig ein ungeheuer unterhaltsames Buch geschrieben und damit ein weiteres Sakrileg begangen: Man darf mit ihr über den NSU-Prozeß lachen. In schnoddrigem Ton, der vor nichts und niemandem Halt macht und an Virginie Despentes erinnert, läßt Wierig in ihrem Prozeßbericht keinen Stein auf dem anderen, ohne, und daß ist eine weitere Leistung dieses Buches, sich den weitverbreiteten Verschwörungstheorien zum NSU anzuschließen. Sie ist Juristin durch und durch und in ihrer unkonventionellen Art so sachlich, daß es ihren stromlinienförmigen »Kollegen« der Nebenklage von Anfang an sehr sauer aufstieß. Das Plädoyer und das letzte, unveröffentlichte Kapitel findet man in einem von Wierigs Blogs unter nazisinside.com
Angela Wierig: Nazis Inside: 401 Tage NSU-Prozess, Hamburg: Osburg 2018. 230 S., 20 € – hier bestellen