Der Hallenser Hugo Fischer (1897–1975) war in der Zwischenkriegszeit ein enger Freund der Brüder Friedrich Georg und Ernst Jünger, außerdem brachte er sich in Ernst Niekischs national- und sozialrevolutionärem „Widerstandskreis“ (ca. 1928–1934) ein.
Fischer verfaßte in dieser explizit auch politischen Schaffensphase – nach 1945 hielt er sich u. a. als Professor für Philosophie in München fern jeder Meta- wie Realpolitik – seine große Lenin-Schrift, die postum 2018 veröffentlicht wurde (vgl. die Besprechung in der 82. Sezession). Fischer begeisterte sich für Lenins Politik im Sinne einer Philosophie der Praxis. Lenin, so zeigte sich Fischer in dem 1933 fertiggestellten Manuskript überzeugt, habe einen neuen politischen Realismus entlang der Trias Revolution, Reich und Räte geschaffen.
Einer der beiden seinerzeitigen Herausgeber, der Philosoph Steffen Dietzsch, hat nun – gemeinsam mit dem Brünner Philosophen Miloš Havelka – einen weiteren Fischer-Schatz gehoben: Der Realismus und das Europäertum erschien 1930 in einer Festschrift für den tschechischen Philosophen und ersten Staatspräsidenten der Tschechoslowakei Tomáš Garrigue Masaryk (1850–1937), mit dem Fischer in Briefkontakt stand (zwei der Briefe sind in vorliegender Edition enthalten).
Dieser einst an so entlegener Stelle publizierter Essay kommt 2019 durchaus zur rechten Zeit: Allerorten wird über Europa, die Europäische Union und die Zukunft des Nationalstaates insbesondere in Europa debattiert, auch die Sezession gewährte diesen und weiteren Herausforderungen breiten Raum (vgl. das Themenheft „Nation und Europa“, Nr. 86).
Fischers Ansatz ist diesbezüglich, einmal mehr, unkonventionell, wobei die in Lenin. Der Machiavell des Ostens ausführlich dargelegte Wertschätzung neuer, übernationaler Herrschaftsformen bereits augenfällig wird. Schwärmerei und Utopismus – das ist dabei explizit nicht die Sache Fischers: „Der Europäer ist notwendig Realist, und der Realist ist notwendig Europäer“, heißt es einleitend.
Nur in steter Fühlungnahme mit dem aktuellen Geschehen könnten Ziele bestimmt werden. Fischer nennt dies den Standpunkt des „Perspektivismus“, der die Wirklichkeit einbeziehe, ohne an ihr verhaften zu bleiben, der ihre Prämissen also grundlegend einbezieht, während er vorwärts zu einem neuen Ziel drängt, das nicht vollständig ausformuliert besteht, sondern sich „vor dem Auge“ festigt.
Denn just während des Tätig-Seins für ein aus dem Geist der antiken, christlichen sowie nietzscheanischen Philosophie genährtes übernationales Europa entfalte sich das vorher noch nicht fest umschriebene Ziel „und nimmt immer konkretere Gestalt an“.
Seine Gewährsleute für diesen Ansatz sucht sich Fischer in der europäischen Geistesgeschichte: Augustinus als „Metaphysiker“, Karl Marx als „Sozialpolitiker“, Bismarck als „Innenpolitiker“ und schließlich Masaryk als „revolutionärer Innen- und Außenpolitiker“ sind für Fischer sinnbildliche Typen des europäischen Realismus, wobei insbesondere Masaryk zeige, daß eine „leidenschaftliche Liebe zur engeren Heimat“ der Grundantrieb dafür bleibe, ein immer weiter ausgreifende europäisches Handeln zu forcieren.
Man ist als Europäer, so legt Fischer dar, „eine Einheit von Gegensätzen“, und er ruft, um dies zu untermauern, Dichter, Denker und Schriftsteller aus Süd und Nord, Ost und West an. Doch Fischer will dieser Einheit von Gegensätzen keinen bürokratischen Superstaat oktroyieren, sondern wählt als Bild für eine künftige Vereinigung Europas als „eine Art konkretes Apriori“ den „Bund“, in dem sich „die typisch europäische Vermählung von religiösem Glauben, erdennahem Wirklichkeitssinn und praktischer Energie“ verkörpere.
Dieser Bund könne nicht anhand bloßer Absichtserklärungen oder Verfassungskonstrukten aufgebaut werden, er lasse sich nicht „fabrizieren“ oder „wie ein Glockenguß künstlich überstülpen“. Vielmehr bedürfe es der Akzeptanz dessen, daß „ein künftiger politischer Bund nur aus wirklichen geschichtlichen Ansätzen und aus den Lebensantrieben, Instinkten und Interessen der Beteiligten hervorgehen kann“.
Die Akzeptanz sieht Fischer durch unvermeidlich fortschreitende Prozesse gewährt, zumal die Potenz außereuropäischer Mächte den europäischen Zusammenschluß logisch erscheinen lasse. Notwendig sei eine „übernational-europäische Wirtschaftsorganisation“ samt Institutionen, eine ökonomische Machtentfaltung, der man rechtliche und politische Formen beigesellt.
Fischer ist gleichwohl kein Ökonomist oder Materialist: Europa müsse seinen Verfall zuallererst dadurch überwinden,
- daß es auf sein widersprüchliches und unermeßlich reiches kulturelles, religiöses wie gesellschaftspolitisches Erbe zurückgreife;
- daß es zum europäischen Gemeinwohl finde, in dem der „bündische gegen den egoistisch-individualistischen Geist“ gesetzt werde;
- daß es die Einsicht beherzige, wonach die Beibehaltung von „Klassenkampf“ undemokratisch und damit abzulehnen sei;
- daß die neue europäische Demokratie „antikapitalistisch“ sein müsse, weil in der wahren Volksherrschaft die Reichtümer gleich verteilt würden und weil der „Bund“ und nicht das „Individuum“ die „Früchte der Kollektivarbeit“ ernte usf.
Entscheidend für Fischer ist die fehlende Gleichschaltung der Bundes-Glieder. „In seiner Differenziertheit“, betont Fischer, „hat das ganze politische Gebilde sein Relief und seine Physiognomie. Der Dynamik und Schichtung und der Homogenität des Einzelstaates entspricht die Dynamik und Schichtung und die Homogenität im Leben des ganzen Bundes“.
Fast deckungsgleiche Ideen entwickelte zur selben Zeit der französische Schriftsteller Pierre Drieu la Rochelle, was im bisweilen zusammengeschustert wirkenden Nachwort bedauerlicherweise ebenso unerwähnt bleibt, wie entsprechend frappierende Parallelen in der Nietzsche-Rezeption Fischers und Drieus.
Gegen Ende der Nachbetrachtung wird dann behauptet, daß der „Widerstandskreis“ unter Einfluß Fischers den Nationalismus hinter sich ließ, „um zu einer neuen europäischen Synthese als politisch-gesellschaftlicher Zukunft für Deutschland zu gelangen“. Dieser Aspekt, so reizvoll er klingt, wird nicht ausgeführt – und kann vielleicht gar nicht ausgeführt werden, weil die Annahme, daß Der Realismus und das Europäertum irgendeine europäisierende Wirkung auf ebenjenen Widerstandskreis hatte, nicht haltbar ist.
Im selben Verlag erschien unterdessen eine kleine Schrift des schweizerischen Sinologen Jean François Billeter, der sich ebenfalls als „Europäist“ begreift. Doch Fischers kluger Essay liest sich wie das explizite Gegenstück zu Billeters Text. Legt man Fischers Maßstäbe für eine europäische Einheit an Billeters Thesen an, so wird man nicht umhin kommen festzustellen, daß der Schweizer alle Fehler begeht, die sich mit Fischer überhaupt vorstellen lassen.
Denn während dieser eine „Zurückhaltung in der konkreten Bestimmung des Ziels“ forderte, verlangt Billeter – als Anhänger Ulrike Guérots – explizit eine bestimmte „europäische Republik“. Während Fischer die Völker Europas vereint sehen wollte, damit diese bewahrt werden könnten, gibt es für Billeter – wie für Guérot – keine Völker: Ein „Volk“ werde erst geschaffen, indem die europäische Republik gegründet würde.
Und während Fischers Europa eine sukzessive aufgebaute, organische Konstruktion verkörperte, die aus den Erfordernissen der Weltgeschichte herrührte und die Nation als einen bedeutenden Baustein zu einer höheren, dann übernationalen Ordnung begriff, ist Billeters Aufruf zur Abschaffung der Nation und der Einrichtung von 50, 60 gleichgeformten Regionen eines neuen, durch die Menschenrechte und den Feminismus geprägten EU-Europas eher dazu in der Lage, Europa-Skeptiker von ihrer Anti-Haltung zu überzeugen.
Billeter hat dabei Recht: „Es braucht einen gewissen Sinn für das Neue“. Aber dieses Neue muß an bestehende Traditionslinien und Errungenschaften rückgebunden sein und den europäischen Realismus eines Fischers verinnerlichen, will es nicht als abstrakt gebliebene Spielerei linksliberaler Eliten verenden.
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Hugo Fischer: Der Realismus und das Europäertum, Berlin: Matthes & Seitz Berlin 2019. 158 S., 14 €.
Jean François Billeter: Europas Zukunft, Berlin: Matthes & Seitz Berlin 2019. 60 S., 8 €.
Imagine
Zu Lenin ist anzumerken, dass dessen Revolutionskonzept einer „jakobinischen Revolution“ entsprach, die auf den Prozess der Machtergreifung fokussierte. Dieser Revolutionstyp war jedoch für eine sozialistische Revolution in den industriell entwickelten Ländern ungeeignet. Und konnte deshalb dort auch nicht erfolgreich sein.
Wenn man sich mit der Geschichte der Revolutionstheorien beschäftigt, so sollte Otto Rühle nicht unerwähnt bleiben. Denn er ist m.E. einer der – vielleicht sogar der - bedeutendste Revolutionstheoretiker der damaligen Zeit.
Die Revolutionstheorien von Marx, Lenin, Trotzki etc. all sind schon lange ein Anachronismus. Sie gehören auf den „Müllhaufen der Geschichte“ bzw. ins Museum.
Die Entwicklung wissenschaftlicher Revolutionstheorien ist nicht stehengeblieben. Aber sie sind kein Thema mehr in den universitär etablierten Sozialwissenschaften. Das war in der revolutionären 68-er-Zeit bekanntlich anders.
Heute strebt der Zeitgeist jedoch nicht nach Revolution, sondern nach Erhalt der alten, im Untergang begriffenen Strukturen.