Wer sonst als die Lehrer hätte die Schule nur verlassen, um zwischendurch ein paar Jahre zu studieren. Und dann zurück in diese Kinderwelt, wo es doch – nach Freud – eine Kulturleistung wäre, sich davon abzukoppeln, anstatt weiterhin ein behütetes Leben in geschützt geschlossenen Räumen zu führen.
Außerhalb des Schulgeländes die dramatisch bewegte Welt, drinnen das ewige Experiment, meist in der wohlwollenden, aber trügerischen Illusion, die Schule – möglichst ganztags! – biete das Wahre, Gute und Schöne in reiner Gestalt, als trügerisches Paradiesgärtlein der Unvertriebenheit, frei von Sünde und noch ganz ohne Kain. Statt des gefährlichen Lebens inszenierte Projekte, die den guten Menschen herausbilden. Vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen wird zwar gekostet, aber Geltung hat nur das Gute.
Lehrer verbringen Jahrzehnte damit, anderen die Welt zu erklären – eine kommunikative Situation, die außerhalb des Klassenraumes so dreist wie peinlich erschiene. Und das noch mit dem zweifelhaften Kunststück, die „freiheitliche Grundordnung“ ebenso schlüssig darstellen zu können wie die „Diktatur des Proletariats“, wenn für die jeweiligen Auslegungen ein Ministerium die Rechtfertigungen liefert und das Gehalt überweist. Typus korrumpierter Erklärbär?
Provokant gefragt: Ist nicht jede Schulbildung in einem weitgefaßten Sinne wesentlich Übergriff und „Mißbrauch“, mindestens gedankliche Penetration, wenigstens Distanzüberschreitung, indem sie im Auftrage wechselnder Autoritäten und Auffassungen permanent Menschenbilder prägt, durch die Manipulation eines Publikums, das schulpflichtig festgesetzt und zwangsvereinnahmt ist?
Wo überhaupt gibt es vergleichbare Interventionen wie in der Schule, die von der Weltliteratur hinlänglich als Ort verordneter Langeweile, wenn nicht gar als übelste Korrektur- und Kränkungsanstalt dokumentiert ist, bevor sie seit den Siebzigern des vorigen Jahrhunderts einer Art innerem Sozialismus mitten im Kapitalismus zugeschlagen wurde? Was an der ihr eigenen Impertinenz und den Indoktrinationen nichts ändert, sondern diese nur zeitgemäß bunter erscheinen läßt: Schule ist cool! Niemand glaubt das, aber alle müssen mit.
Wenn sich Lehrer nach langen Jahren im Dienst immer noch darüber echauffieren können, wie Schüler, diese Rohware der Natur, so sind (fehlende Hausaufgaben, blutrünstige Ballerspiele, Pöbeleien auf Facebook), liegt das sicher an deren „Erziehungsauftrag“, aber vor allem an der naiven Erwartung, der Mensch, schon der heranwachsende, wäre vernünftig oder – mit Goethe – edel, hilfreich und gut. Oder, wie in der DDR, ein „glühender Sozialist“ oder, wie im Dritten Reich, ein junger Nationalsozialist oder, wie in der Bundesrepublik, ein überzeugter Demokrat, der sich nach dem Wahlrecht mit sechzehn oder vierzehn sehnt, selbstverständlich dank politischer Bildung ausschließlich auf die „demokratischen Parteien“ orientiert.
Und demokratische Parteien sind derzeit allesamt links, denn rechts zu stehen gilt als pathologisch. – Konservativ zu denken gilt nur als eine gefährliche Vorform des rechten Denkens. Wer sich als konservativ bezeichnet, der ist längst infiziert. Wer von Nation und Heimat spricht, bei dem bricht rechte Symptomatik schon durch, so daß er in Quarantäne muß.
So wie man als Kind vom „Sozialismus in der Schule“ hörte, höre man jetzt von „Demokratie in der Schule“. Und erlebte beides als fragwürdige bis gefährliche, jedenfalls inszenierte Propagandismen. Wobei das ideologisch Bestimmte nicht so blutarm wirkte wie das von der Kultusbürokratie über all die Initiativen und Flyer neuerdings Verordnete. Immerhin konnten DDR-Schüler ab sechzehn Traktor oder LKW fahren, schrubbten Schichten in der Produktion und spielten nicht Counter-Strike, sondern schossen beim militärischen Mehrkampf Kalaschnikow-Kleinkaliber.
Nach Bewährung mußten sie nicht lange suchen. Man warf ihnen die Verantwortung zu wie ein Werkzeug, das sie zu fangen hatten. Es hieß, sie würden gebraucht! Man müsse sich auf sie verlassen können, sie wären die sozialistische Elite des neuen Jahrtausends. Zwar ging die Geschichte darüber schulterzuckend hinweg, aber genau diese Grundvereinbarung zwischen den Generationen erlosch. Denn werden die gerade Heranwachsenden wirklich gebraucht? Über ihre Rolle aus Konsumenten hinaus? Sie sind sich dessen nicht sicher, und dieser Zweifel macht ihnen zu schaffen.
Lehrkräfte, schon physisch meist zerknittert, erschöpfen sich psychisch an der ihnen abverlangten Rollentäuschung, selbst auf dem Weg zum besseren Menschen – heute zum Demokraten, vormals zum Sozialisten oder Nationalsozialisten – bereits ziemlich weit vorangekommen zu sein. Die hoch gehandelte Vorbildwirkung strengt nicht nur an, sie kann schnell zu einer unfreiwilligen Karikatur verrutschen. Wilhelm Busch und die „Feuerzangenbowle“ setzten das eindrucksvoll ins Bild und waren darin schon damals realistischer, als es offizielle Studien und dauernde „Evaluierungen“ je sein können.
Schule will heutzutage zwar ausschließlich lust- und freudvoll verfahren, aber keinesfalls komisch sein. Sie ist es dennoch durchweg, auf bittere Art. Vielleicht wird es in Anlehnung an Adornos Begriff der „negativen Dialektik“ Zeit für eine „negative Pädagogik“. Die Übereinstimmung wäre sinnfällig, insofern der von links zu kurzschlüssig verstandene Philosoph jenes Denken als negativ dialektisch auffaßte, das sich selbstkritisch gegen die Herrschaft der Begriffe wendet – mit dem Ziel, daß sich der Vorrang des unmittelbar Gegebenen vor den Worten wieder zeigen kann.
Kaum ein Bereich ist derart von irren Täuschungs- und Trostbegriffen umstellt wie die Bildung in Deutschland. Man greife nur einige der Modewörter heraus – Inklusion, Binnendifferenzierung, Coaching, Methodenkompetenz, Ganztagsschule – , prüfe diese und ermesse, was für Lebenslügen oder gar welcher Nonsens sich hinter vielen dieser Konstrukten und Euphemismen verbergen.
Wenn neuerdings beispielsweise der Mangel das Zusammenlegen von Klassen verschiedener Altersgruppen verlangt, wird das nicht etwa als Malus beschrieben, sondern als Innovation „jahrgangsübergreifenden Unterrichts“. Lehrerausfälle im naturwissenschaftlichen Bereich, die über Wochen nicht vertreten werden können, kaschiert Mecklenburg-Vorpommern mit der Sprachregelung „selbstverantwortetes Lernen“.
Grundsätzlich müßte eine „negative Pädagogik“ bereit sein, den Menschen einmal nicht ausschließlich als aller Möglichkeiten voll und per se als Talent anzusehen, nur weil er auf die Welt und zwangsläufig in die Schule gekommen ist, sondern ihn durchaus mit pessimistischem Lebensernst und gerade deswegen wohlwollend in seinen Grenzen betrachten, und zwar die Lehrer wie ihre Schüler. Dies entspannte nicht nur die angestrengte Situation des aufdringlichen Dauerlächelns, sondern ließe klarer erkennen, was Schule kann und wovon sie lieber lassen sollte.
Vor allem: Weniger versprechen, dafür an echten Befähigungen viel mehr bieten. Die geschmähte Schule des Kaiserreiches verstand sich darauf, die ganze Nation zu alphabetisieren. Selbst der Landarbeiter konnte lesen und schreiben, im Vergleich zum heutigen Durchschnitt sogar qualifiziert. So viel „funktionaler Alphabetismus“ wie in der „Bildungsrepublik Deutschland“ war nie! Was für ein Kulturverlust!
Beispiel: Weil das Leben weit mehr ist als sein Vehikel, die Wirtschaft, könnte man wieder darauf kommen, streitbare Persönlichkeiten zu bilden, kraftvoll in der Weise, daß sie sich zu positionieren verstehen und ihnen Urteils- über Marktfähigkeit, Haltung über Geschwätz und Wissen über simplen Pragmatismus geht. Abgesehen vom kultusministeriellen Gedöns wäre dieser Anspruch vor allem von einer Grundbedingung abhängig: Die Lehrer müßten selbst Persönlichkeiten sein.
Waren sie das je? Durften sie es? Mitunter können Pädagogen zwar von vermeintlich großartigen Methoden erzählen, wissen aber in den Klassenräumen nicht mal eine kommunikative Situation herzustellen oder die Relevanz ihrer Unterrichtsthemen so geschickt nachzuweisen, daß ihre Schüler aufgeschlossen mitziehen.
Immerhin: Fast jeder, der durch die Schule ging, kennt charaktervolle Lehrer, die – im Gegensatz zu den faden Pflichterfüllern und ängstlichen Anpassern – Schüler zu inspirieren und ihnen Fenster aufzustoßen verstanden. Glücklicherweise, denn sie haben uns geprägt, manchen gar entscheidender als die Eltern. Konformisten waren solche echten Pädagogen nie, und Karriere im System interessierte sie wenig. Sie waren von ihren Fächern und Gegenständen selbst begeistert und setzten auf das, was zunehmend verpönt ist, ja fast schon als bildungsreaktionär gilt, nämlich auf Inhalte und auf den Erwerb anwendungsbereiter Fähigkeiten. Sie waren fair auch in der Weise, daß sie manchem rieten: Schule und Studium ist nicht deine Sache, aber versuch’s mit einem guten Handwerk. Oder in der Kunst! Aber jemanden aufs ehrenwert Praktische zu orientieren galt lange als Negativauslese, als diskriminierende Selektion.
Ein allzu positives Menschenbild kann – ganz entgegen seiner vermeintlichen Absicht – früh zu einer Mißerfolgskonditionierung führen, indem sich allzu viele der als abiturabel Deklarierten trotz ständig reduzierter Anforderungen immer noch überfordert sehen. Schon das Wort und den traditionellen Anspruch „Gymnasium“ verstehen die meisten gar nicht.
Von einer dazu erforderten Einstellung ganz zu schweigen. Überhaupt gehört das gegenwärtige Gymnasium selbst zu jenen Begriffen, die lediglich noch vortäuschen, was einst Bildungsrealität war. Ein trauriger Etikettenschwindel, der nicht nur verspricht, was er nicht halten kann, sondern gar nicht mal mehr weiß, was er sagen will.
Die von der Schule an Schülern verursachten schmerzlich ambivalenten Überspreizungen zwischen egozentrischen Allmachtsphantasien und tiefer Verunsicherung, zwischen Akzelerationssexismus und neurotischer Verklemmtheit, zwischen narzißtischem Geltungsdrang und mangelnder Erprobung und Bewährung sind durch die bereits zwei, drei Generationen prägenden „Reformen“ der „Erziehungswissenschaft“ und „Bildungsforschung“ immer weitergetrieben worden.
Hinzu kommt das gesamte Spektrum psychischer und psychosomatischer Krankeheitsbilder bei jenen, die erschöpft sind, weil sie trotz oder gerade durch Dauerförderung und Dauerbetreuung mit Anforderungen gestreßt werden, die sie nicht erfüllen können. Indem ferner die Zertifikate inflationiert und mit Zeugnissen ungedeckte Schecks ausgestellt werden, macht man der Gefällt-mir-Generation des Leitmediums Facebook zwar kurzfristig Komplimente, läßt sie langfristig aber mit der Hypothek im Stich, schmerzlich erfahren zu müssen, wieviel Kompetenz zum Leben und Arbeiten selbst bei hochgerechneten Schnitten fehlt.
Ein System, das nicht mehr qualifizieren will, quantifiziert dafür um so mehr. Aller Schulstreß geht auf Quantifizierungen zurück und eben nicht auf qualitative Ansprüche. Es ist allein der Streß der Klausurpläne und Schnitte, nicht aber der inhaltlichen Herausforderungen.
So, wie derzeit benotet wird, deutet ein Zweierabitur auf Limitierungen und mangelnde intellektuelle Belastbarkeit, eines mit Drei aber schon auf kognitive und sprachliche Defizite hin. Konnte man vor dreißig Jahre mit einer befriedigenden Reifeprüfungen noch alles studieren, dürfte einem damit heute bereits die Lektüre des Feuilletons oder der Wirtschaftsseiten schwerfallen, abgesehen davon, daß die kaum mehr ein Durchschnittsabiturient liest. Die Welt wird ihnen von Power-Point-Stichpunkten und Youtube-Clips erklärt.
Daß ein direkter bildungspolitischer Zusammenhang besteht zwischen der wachsenden Überzahl an Abiturienten und allzu wenigen Absolventen in Naturwissenschafts- und Ingenieurfächern des MINT-Bereichs, ging der Politik noch gar nicht auf. Wenn sie ihre Zielstellungen formuliert, so um sich selbst zu beruhigen oder aus rein praktischem Kalkül, etwa der Kurzschlußlogik folgend, daß, wenn Abiturienten besser „in Jobs zu bringen“ sind, eben flott mehr davon hermüssen, und zwar am bequemsten über rechtlich garantierte Ansprüche.
Daß jeder kreativ, also schöpferisch wäre, nur weil er in einem „Kompetenztraining“ bloßen Machens irgendwas tut, und daß ihm dank eines Abwahlen und Resultatsoptimierung sichernden Regulariums beinahe überall ein Zeugnis ausgedruckt wird, das früher mal Reifezeugnis hieß, sind unlautere Verheißungen. – Mehr Redlichkeit!
Es kann schon heute nur der Lehrer mindestens vor sich selbst bestehen, der bereit ist, in Wahrnehmung seiner Verantwortung bewußt gegen gängige „Richtlinien“ zu arbeiten, denen der pädagogische, also anthropologische Unfug seit vierzig Jahren folgt, ausstaffiert wie in Andersons Märchen von des Kaisers neuen Kleidern, dessen Schneider in diesem Fall jene Experten sind, denen die Welt lediglich ein Wunschbild ist, zu dem alle nur noch „erzogen“ werden müssen.
Mut dazu, innerhalb dieser Farce konsequent eigene Wege zu gehen, etwa auf Inhalte und die Ausbildung echter kognitiver, sprachlicher und praktisch „polytechnischer“ Fähigkeiten zu setzen, muß nicht heroisch sein. Es reicht dazu die aufmerksame Prüfung der Ziele völlig aus, denn eine „Schulaufsicht“ existiert nur in bezug auf reine Formalien.
Sie prüft, ob alle Spalten ausgefüllt sind und an deren Ende ein Signum steht. Und sie ist müde, sehr müde, so müde wie das System selbst, so müde wie die Kollegen in den Lehrerzimmern, die erschöpft aus ihren Stunden kommen und Kaffee brauchen, anstatt für eine geistige und mentale Selbsterfrischung zu sorgen, die wirksamer wäre, die aber, wie stets, einer Revision des eigenen Standorts bedürfte.
Monika
Schade, ich hätte im Strang „Der Islam und die Rechte“ gerne noch A. Kovacs, nom de guerre, Michael B. und Juergen geantwortet. Aber der Kommentarberich ist leider schon geschlossen.
☹️🙁🙁
Kositza: Ja. Das Thema "Beschneidung" nahm komischerweise überhand...