Mich interessieren die Stimmung, die sie zu tragen scheint, und die Fragen, die sich aus ihr ergeben. Sachaussagen über den Islam treffe ich keine, das überlasse ich den Kollegen von der Orientalistik.
Zunächst: Gibt es „den“ Islam? Nicht nur in der Weißmann-Stürzenberger-Diskussion, auch anderswo taucht diese Frage immer wieder auf. Karl-Heinz Weißmanns Insistieren, daß es „den“ Islam nicht gebe, ist durchaus nachvollziehbar. Das Argument wird von linken Islamunterstützern regelmäßig vorgetragen, was seiner möglichen Richtigkeit selbstverständlich nichts nimmt.
Allerdings muß man sich klarmachen, daß dieses Argument eine „Kippfigur“ darstellt. Es handelt sich nicht um eine „essentialistische“, sondern eine rein perspektivische Aussage. Zwar kann man behaupten, daß es “den” Islam als solchen nicht gebe, wenn man Sunna, Siebener-oder Zwölfer-Schia, Alawiten usw. einerseits, unterschiedliche regionale und nationale Weisen ihn zu leben andererseits sowie fundamentalistische von moderaten Muslimen unterscheiden möchte.
Genauso gut kann man aber argumentieren, daß es ihn sehr wohl „gibt“, weil all diese Varianten durch einen kleinsten gemeinsamen Nenner zusammengehalten werden, der ihnen erst erlaubt, sich als islamisch zu beschreiben und von außen so beschrieben zu werden.
Argumente vom Typus „es gibt/es gibt nicht“ sagen also zunächst nur etwas darüber aus, was der Sprecher gerade beobachten möchte, das Verbindende und Gemeinsame oder das Trennende und Unterscheidende. Es wird damit weniger eine Aussage über die als existent/inexistent erklärte Größe (in diesem Fall der Islam) als über Perspektive und Interessen des Sprechers getätigt. Unnötig zu bemerken, daß daher beide Aussagen legitim sind und nur im Rahmen der jeweiligen Gesamtargumentation bewertet werden können. Alles andere ist der prototypische Streit um des Kaisers Bart.
Israel/Palästina: Stark emotional grundiert ist die Frage nach Recht und Unrecht im Verhältnis von Israel zu seinen arabischen Nachbarn, wie unter anderem die Debatte zwischen von Waldstein und Gerlich vorführt. Wird das Thema in den Ring geworfen, ist das in den meisten Diskussionsrunden dem Wurf eines Fehdehandschuhs vergleichbar.
Ich bin mir bewußt, aus dem Rahmen zu fallen, wenn ich persönlich mit solchen Emotionen nicht aufwarten (und sie auch nicht nachvollziehen) kann. Auf die Gefahr hin, kaltherzig zu wirken: Ich halte die Diskussion darüber für reinen Kräfteverschleiß. Hier ist nichts beeinflußbar. Den Konflikt machen die Betroffenen samt den jeweils engagierten Großmächten miteinander aus, ohne daß jemand auf linke, rechte oder wie immer geartete Kommentare aus Deutschland gewartet hätte.
Wortgefechte über das welcher Seite wann- von-wem-warum zugefügte Unrecht sind zwar eine Art deutscher Volkssport, können aber nur von den anstehenden Aufgaben im eigenen Haus ablenken – angesichts der auf das Land und das eigene politische Lager zukommenden Herausforderungen ein reiner Luxus, bei dem man übrigens schnell in die für die neuere Linke typische Stellvertreterposition gerät.
Stellvertretertum (hier einmal nicht in Hinblick auf Minoritäten) ist nur dort sinnvoll akzeptabel, wo es um Gruppen geht, die sich nicht selbst helfen können (Kinder, Tiere), außerdem noch solche, mit denen einen aufgrund eines geteilten relevanten Merkmals eine gewisse Solidarität verbindet (verfolgte Christen, weiße Farmer in Südafrika usw.).
Parteinahmen und Bekenntnisse pro oder contra stehen sicher jedem frei, schaffen allerdings nur ein (völlig unfruchtbares) Konfliktfeld mehr und tragen übrigens auch zur Islam-Debatte (die, um einen politischen Sinn zu haben, nur eine Debatte über die Präsenz des Islam in Deutschland und Europa sein kann) nichts bei.
Ähnlich sehe ich auch die Positionierung in Sachen (Anti)-Amerikanismus. Es ist, denke ich, unstrittig, dass die amerikanischen Interventionen in muslimischen Ländern ausnahmslos katastrophal und moralisch durch nichts gerechtfertigt waren. Und ja, das macht die Erbitterung in diesen Ländern und eine gewisse Radikalisierung nachvollziehbar.
Nur, was folgt daraus für uns? Ändert sich mit dieser Feststellung irgendetwas an der muslimischen Zuwanderung und dem Wachstum dieses Bevölkerungsanteils in Deutschland? Wäre in der Verlängerung die letzte Konsequenz, Verständnis für islamistische Attentate aufzubringen, womit man dann bei einer beliebten linken Position („geschieht ‚uns‘ ja recht“) angekommen wäre?
Wohlgemerkt, ich unterstelle nicht, daß jemand aus unserem Umfeld tatsächlich so argumentiert, ich denke lediglich zu Ende, was sonst eigentümlich bezugslos im Raum steht. Die Vergehen und Fehler der Amerikaner und vor ihnen der Kolonialmächte sind hinlänglich bekannte historische Fakten. Bloß erhellen sie die derzeitige Situation nur sehr bedingt, denn ihr einziger Erkenntniswert besteht darin, daß sie „Zornbanken“ (Sloterdijk) geschaffen haben, mit denen für uns kein „Kapitalverkehr“ möglich ist.
Stattdessen wird das symbolische Schuldkonto des Westens, zu dem auch Deutschland gerechnet wird, täglich mit immer aberwitzigeren Summen belastet. (s. „Die Zukunft der Schuld…ist die Zukunft des Westens“ in der aktuellen Ausgabe von Tumult.) Die Frage, wie pro- oder antiamerikanisch man sich positionieren möchte, kann sich für mich nur strikt an den Interessen des eigenen Landes und politischen Lagers orientieren. Alles andere bildet eine schiefe Ebene in Richtung auf einen Schulddiskurs von rechts.
Ich folgere daraus, daß auf der Rechten Fremdidentifikationen (mit den genannten Ausnahmen) möglichst unterbleiben sollten. Die Konzentration auf die Interessen der und des (kulturell) Eigenen müssen die Leitlinie für jegliches Engagement bilden − was natürlich interessierte Kenntnisnahme über den Zaun und ggf. humanitäre Hilfe (s. Aha!) keineswegs ausschließt, das Hochhalten fremder Paniere aber sehr wohl.
Schließlich ist der tieferliegende Drehpunkt der aktuellen Diskussion die Liberalismus-Frage. Darüber, daß ein, sit venia verbo, fundamentalistischer Liberalismus die Ausbreitung des Islam in Europa erst ermöglicht hat, werden hier keine Meinungsverschiedenheiten bestehen. Es liegt auf der Hand.
Nicht auf der Hand liegen die Folgerungen. Ich habe in den auf Twitter geführten Diskussionen, aber auch in persönlichen Gesprächen den Eindruck gewonnen, daß hier, sehr verkürzend gesprochen, zwei Übel gegeneinander aufgerechnet werden und die Islamisierung dabei als das geringere gewertet wird, verspricht der Islam doch jene Struktur, Klarheit und Regelgewißheit, die entgrenzte westliche Gesellschaften schuldig bleiben. Die äußerste Konsequenz dieser Haltung wäre dann mit dem Stichwort „White Sharia“ bezeichnet.
Ich halte das für eine Fehlwahrnehmung, eine situativ bedingte Neugeburt, gezeugt vom alten europäischen Orientalismus mit der eben so alten Romantisierung vormoderner Gesellschaften; allerdings für eine, die mindestens zwei interessante Fragen stellt: Wenn die Rechte sich durch Bezug auf das Eigene, auf übergeordnete Identität definiert, wie würde sich dann diese (noch latente) Neigung, gerade dem Islam eine Vorbildfunktion zuzugestehen, rechtfertigen lassen? Hat das historische Europa mit seinen gefügten Gesellschaften nichts anzubieten?
Und: Im Gegensatz dazu ist der Liberalismus, mit allen Fehlentwicklungen, zu denen er geführt hat und in ununterbrochenem Crescendo führt, im weiteren Sinne ein aus der europäischen Aufklärung hervorgegangenes Syndrom, also sehr wohl Teil unserer Geschichte, es mag uns gefallen oder nicht. Man kann ihn, je nach programmatischem Geschmack in Teilen oder gänzlich verwerfen, aber wenn man ihm den Islam vorzieht (statt sich zur Korrektur auf okzidentale Ressourcen oder, wie der Systemtheoretiker sagen würde: Bordmittel zu beziehen), hat man eine anti-identitäre Entscheidung getroffen.
Was bedeutete eine solche Entscheidung dann für das bislang stets hochgehaltene Konzept einer ethnokulturellen Identitätsbestimmung? Schließlich wären im Falle einer solchen Präferenz beide Bestandteile, die Kultur und das ethnische Element, als Bezugsgrößen weitestgehend Makulatur.
Diese Fragen sind zugespitzt, gewiß. Aber präzedenzlos ist die neue Sympathie für den Islam keineswegs: Nicht nur sympathetisches Interesse, auch Konversionen von Intellektuellen hat es immer wieder gegeben (beliebig herausgegriffen René Guénon und Roger Garaudy), und ich vermute, daß auch wir im Laufe der nächsten Jahre die eine oder andere erleben werden. Meine persönliche Option wäre übrigens eine Kombination aus der Achtung und dem Respekt gegenüber einer Weltreligion mit größtmöglicher Distanz.
Der_Juergen
Ein guter Kommentar. Insbesondere pflichte ich der Meinung der Verfasserin bei, dass wir aufhören sollten, uns in den Nahostkonflikt einzumischen, den wir ohnehin nicht zu beeinflussen vermögen, und uns zu Sittenrichtern über die eine oder andere Seite aufzuwerfen. Äquidistanz ist hier angebracht.