Dieser hat einen programmatischen Namen gewählt. Während die “blaue Pille” den Normalo im Mainstream-Tiefschlaf hält und die “rote Pille” die Erweckung aus der Scheinwelt der globalistischen Lügen bringt, so bedeutet die “schwarze Pille” den Absturz in den Pessimismus: Das erblickte Biest kann niemals besiegt werden und die Niederlage all dessen, woran man glaubt und hängt, scheint gewiß.
Das ist eine Gemütlage, die unter Rechten nicht selten anzutreffen ist, und es wird uns generell gerne vorgeworfen, daß wir notorische und zwanghafte Schwarzseher, Untergangspropheten oder Möchtegernkassandren seien. Ich selber zähle konstitutionell auch eher zu diesem Typus, möchte allerdings niemanden dazu “ermuntern”, es mir gleichzutun.
Das besagte Video hat den Titel “How High Is Your Tolerance? (“Wie hoch ist deine Toleranzschwelle?”), und es fesselte meine Aufmerksamkeit, weil es über weite Strecken um eine (immer noch aktive) Ein-Mann-Band aus den neunziger Jahren geht, die ich einmal sehr mochte: Nine Inch Nails. Die Fortsetzung zu dem Video gibt es hier. Wer des Englischen mächtig ist, dem empfehle ich vor der weiteren Lektüre, sich die Videos anzusehen.
Stack stellt sich darin die Frage, inwiefern das, was er als “degeneracy” (Entartung, Verkommenheit) der heutigen Welt wahrnimmt, durch ein langsames, jahrzehntelanges Senken der ästhetischen und moralischen Toleranzschwellen vorbereitet wurde. Was war nötig, um die (angloamerikanische) Gesellschaft derart zu konditionieren, daß sie heute unfaßbare Phänomene wie das “Transgender-Kind” Desmond teilweise passiv hinnimmt, teilweise als den letzten Schrei von Fortschritt, Emanzipation und Individualismus feiert?
Um dies ergründen, schildert Stack den emotionalen Schock, den ihm als Teenager Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre die Begegnung mit der Musik von Trent Reznor bereitete. Als ein Mensch, der in einem religiösen Umfeld aufwuchs, hatte er das Gefühl, etwas Verbotenes und Böses zu tun, wenn er Platten wie “Pretty Hate Machine” oder “Broken” auf seinem Walkman hörte. Etwas, das ihm ewige Schande brächte, würde er dabei erwischt. Und genau dieses Gefühl versetzte ihm einen Kitzel, der ihn süchtig machte.
Von Album zu Album wurde die Musik extremer, wurden die Texte finsterer, und um den initialen Schauder zu wiederholen, mußte die Dosis gesteigert werden, gleich einer Droge. Die Gewöhnung setzte rasch ein, härteres mußte her. Rückblickend meint Stack, daß ihm die Musik teilweise auch heute noch “gefällt”. Aber möglicherweise würde es ihm auch “gefallen”, Heroin zu nehmen oder sich allerlei Lastern hinzugeben. Nur, weil einem etwas “gefällt”, muß es noch lange nicht “gut” sein. Die Musik von Nine Inch Nails, mit ihren Texten voller Verzweiflung, Trauer, Gewalt, Aggression, Schmerz, Einsamkeit, Perversion, Wahnsinn, Nihilismus, Sadomasochismus und so weiter, habe das Ziel, den Hörer “so weit von Gott zu entfernen wie nur möglich”.
Ich habe mir das Video (optisch voller Anspielungen auf den berüchtigten Videoclip zu dem Song “Closer”) und sein Sequel zwar mit großem Interesse, aber mit gemischten Gefühlen und unentschiedenen Gedanken angesehen.
Es gibt etliche Songs von Nine Inch Nails, die mir zu früheren Zeiten tief aus der Seele gesprochen, kathartische Kicks und einen etwas perversen Rausch verschafft haben. Viele mag ich heute noch, und sei es bloß deswegen, weil sie in mir nostalgische Erinnerungen an meine Zeit in der Gothic-Szene wecken. Aber ich hatte schon anno 1995 kapiert, daß es in dem Song “Closer” mit dem Zeilen “I want to f**k you like an animal / You get me closer to God!” nicht um Sex ging, wie manche wähnten, die nur sehr oberflächlich hinhörten.
You can have my isolation
You can have the hate that it brings
You can have my absence of faith
You can have my everything…
Ich sehe diese Art von Musik oder Kunst immer noch als legitim an. Anders als Devon Stack meint, hatte ich nie das Gefühl, daß Nine Inch Nails gezielt zum Bösen und Satanischen verführen wollen. Das wäre mir schon deswegen lächerlich erschienen, weil es sich hier bloß um Popmusik, Entertainment handelt, wenn auch der eher abwegigeren Sorte. Oder? Das war vielleicht naiv von mir oder vielleicht reflektierte meine Haltung bloß meine eigene, recht firme Liebe zum Guten und Schönen, die mir solche Geschmacksausflüge ohne größeren Schaden erlaubte. Auf keinen Fall waren Reznors Songs, wie “Black Pilled” heute urteilt, Aufrufe zu einem seichten, nihilistischen Hedonismus und “anything goes”: Hurra, Gott ist tot! Alles ist erlaubt!
Eher erschienen mir die Songs als Rollenprosa, die von allerlei finsteren Gemütszuständen erzählte, und das mit einer Radikalität, die gewiß auf viele erschreckend und abstoßend gewirkt hat. Diese Songs erzählten, ziemlich glaubhaft und authentisch, vom Grauen und der Qual der von Gott verlassenen Seelen, allerdings zogen sie daraus unzweifelhaft eine abseitige, ekstatische Lust, wie Stack formuliert, “ein trügerisches Gefühl der Macht” oder Ermächtigung.
Konnte man sie dennoch auch als Warnungen vor dem Abgrund hören? Der Ahnherr aller Schockrocker, Alice Cooper, ist abseits seiner Bühnenpersona ein gläubiger evangelikaler Christ, der behauptet, daß seine Songs vor der Sünde und dem Bösen warnen wollen, und wenn man sich etwa seinen Klassiker “Poison” unter diesem Gesichtspunkt anhört, ergibt das sogar einen gewissen (wenn auch ambivalenten) Sinn.
Im Juli 2017 besuchte ich das Johnny-Cash-Museum in der Country & Western-Hauptstadt Nashville, Tennessee. Dort lief als Dauerschleife das Video zu einem Song aus Cashs Alterswerk, den “American Recordings”, seinen wohl schönsten Alben, die seinen Kultstatus generationenübergreifend zementiert haben. “Hurt” ist ein sehr trauriges, sehr schönes, sehr einprägsames Lied, eines von Cashs populärsten, mit einem sehr schönen, sehr traurigen, sehr bewegenden Video.
Und es ist ein Cover eines Songs von Trent Reznor, dessen Text sich wie das Psychogramm eines Menschen mit Borderlinesyndrom oder ähnlichem seelischen Leiden liest.
Zu diesem Zeitpunkt dachte ich viel über Amerika nach. Cash, einer der unangefochtenen Götter der Country-Musik, war zeitlebens ein vom Südstaaten-“Bible Belt” geprägter, gläubiger Christ, dem es mit seinem Glauben sehr ernst war. Er war auch ein glühender amerikanischer Patriot der alten Schule.
Gleichzeitig war Cash, Jahrgang 1932, so etwas wie der “Grufti” unter den Country-Sängern, der Mann mit dem harten, melancholischen Gesicht und dem schwarzen Hemd, das er, wie er in einem Lied sang, aus Mitgefühl mit den Erniedrigten und Beleidigten, den Hoffnungslosen und Hungrigen trug, und denen, die nie auf die Worte von Jesus gehört hatten. Viele seiner Songs handelten von reuigen und unreuigen Sündern, und er scheute sich nicht, sich per Rollenprosa in die Perspektive von Mördern und Kriminellen zu versetzen: “I shot a man in Reno just to watch him die.”
Und er wußte um seine eigenen dunklen Seiten, und um die Notwendigkeit sie – mit Gottes Hilfe – in Zaum zu halten:
The beast in me
Is caged by frail and fragile bars
Restless by day
And by night rants and rages at the stars
God help the beast in me…
Trent Reznor, der 1965 geborene Kopf von Nine Inch Nails, hingegen, steht für ein spätes, gottloses, dekadentes, “entartetes” Amerika, voller Selbstzweifel und sogar Selbsthaß. Wie Cash hatte er zeitweilig mit Drogensucht zu kämpfen, allerdings in einem weitaus heftigerem Ausmaß. Sein Prinzip schien aber eher zu sein, “das Tier in mir” von der Leine und toben zu lassen.
Um sein Album “The Downward Spiral” (1994) aufzunehmen, mietete er sich allen Ernstes das Haus, in dem die Manson-Family 1969 Sharon Tate ermordete, vermutlich, um die finstere Energie zu channeln, oder Fühlung mit dem “Mythos” von Charles Manson aufzunehmen, der jahrzehntelang – allmählich gerät er in Vergessenheit – als popkulturelles Symbol für die dunkle Seite der USA und der sechziger Jahre galt, jener Dekade, in der (in einem gewissen Sinne) die Büchse der Pandora endgültig geöffnet wurde, sodaß sich ihr Inhalt über die ganze Welt ausbreitete wie eine Seuche.
Meinem Kaplaken “Rassismus – Ein amerikanischer Alptraum” wollte ich ein Zitat von Manson als Motto voranstellen:
The United States of America is the demon of the world.
Ich finde das sehr treffend, und sehr ironisch, daß es aus dem Munde des dämonischen Outlaws und Hippie-Messias kam, der aus dem Mittleren Westen, dem Herzland der USA, stammte (er verstarb letztes Jahr im Gefängnis).
Das Zitat war von mir als doppelbödiger, schwarzer Witz gedacht, wie die beiden Zitate von Milo Yiannopoulos und Ta-Nehisi Coates, die ich stattdessen verwendete, da sich Götz Kubitschek hartnäckig gegen Manson gesträubt hatte und ich mich seinem Verlegerwillen beugen mußte.
Nun also sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts Johnny Cash und Trent Reznor miteinander verschmolzen (Cashs Version hat auf Youtube 30 Millionen Aufrufe), und obwohl Cash das Lied “Hurt” gleichsam “erlöst” und ganz seinem abgeklärten Sündertum angeeignet hat (mit einer signifikanten Textänderung), scheint mir dieser Vorgang doch eine gewisse Symbolik zu haben, was den inneren Zustand der USA angeht. Die Vereinigten Staaten sind in ihre Zerfallsphase übergegangen, und vermutlich werden noch einige, die heute leben, ihren Niedergang mit eigenen Augen sehen.
Nun bleibt für mich die Frage offen, inwiefern ein Kunstwerk ein authentisches Kunstwerk sein und dennoch eine verderbliche Wirkung ausüben kann. Explizit hat die Frage wohl erstmalig Charles Baudelaire aufgeworfen, dessen lyrische Meisterschaft niemand bestreitet, und den Walter Nigg zu den “großen Unheiligen” zählte, den heiligmäßig Begabten, die so nahe am Licht sind, und es am Ende doch verraten, die berufen, aber nicht auserwählt sind.
Die einfachste Antwort kann man in das Auge des Betrachters verlegen. “One man’s meat is another man’s poison”, was den einen nährt, vergiftet den anderen, was den einen hinabzieht, bereitet dem anderen eine heilsame Katharsis. Die einen können an den Blumen des Bösen schnuppern oder sich mit Nine Inch Nails stimulieren, und gewinnen womöglich an Geistigkeit und innerer Erfahrung, die anderen nähren damit nur eine Krankheit und den Spleen der Seele. Ein- und derselbe Mensch mag sich zu einem Zeitpunkt seines Lebens an Dingen laben, die ihm zu einem anderen den Magen umdrehen.
Aber ist die Kunst wirklich jenseits von Gut und Böse (und ich sage nun nicht, daß Nine Inch Nails große Kunst sei)? Hört sie auf, Kunst zu sein, wenn sie aufhört, sich dem Wahren, Guten, Schönen zu verpflichten? Kann es soetwas wie einen satanischen Bach oder einen satanischen Michelangelo geben? Ohne Zweifel kann ein Künstler seine Meisterschaft in sehr fragwürdige Dienste stellen. Und wenn das Sujet des Künstlers das Dämonische, das Häßliche, das Abgründige ist, wo verläuft die Grenze, sich zu seinem Medium zu machen? Wann geht die “Mitte” verloren? Hans Sedlmayr etwa war der Ansicht, daß Goya Zeuge der Dämonen, Picasso aber bereits ihr Komplize sei.
Ich zeigte einer Freundin die Gemälde von Saturno Butto, und sie wich zurück vor Ekel. Eben noch war ich im Bann der altmeisterlichen, an der Renaissance-Malerei orientierten Perfektion, und nun sah ich, daß diese Bilder bis ins Mark satanisch waren. Das mag nun etwas komisch klingen, denn die Motive sind explizit und offensichtlich satanisch. Aber meine Bewunderung für das Können Buttos hatte mich geblendet, und ich bin immer noch empfänglich für baudelaire’sche Reize. Früher war für mich der Könner alles, war gleichsam ein Gott, der stets Respekt verdient, und ich hatte mir abgewöhnt, Kunst auch moralisch zu betrachten.
Lag ich falsch? Ist es manchmal doch von Bedeutung, was ein Gemälde darstellt, und nicht wie es dargestellt wird, was Gevatter Michael Klonovsky immer wieder als Hauptsache betont? Nun, hier ist kein Widerspruch: Denn was Buttos Gemälde so satanisch macht, ist exakt die Art, wie er das Satanische malt. Nicht, daß er Teufel malt, sondern daß er diese Teufel im Stil von Caravaggio-Heiligen malt, sie schön, attraktiv, reizend macht, sie verherrlicht, ihnen eine sakrale Aura verleiht – das ist das eigentlich Satanische und Blasphemische an seinen Bildern. Das Urteil über ein Kunstwerk kann sich also meiner Ansicht nach nicht auf die Frage beschränken, ob es “gut” gemalt ist – analog zur obigen Frage, ob einem etwas “gefällt” oder nicht.
Nun mag mancher einwenden: Macht das einen großen Unterschied? Gott und der Teufel sind gleichermaßen Fiktionen und Phantasien der menschlichen Seele. Ein Bild ist ein Bild und sonst nichts. Wer damit nicht umgehen kann, oder es zu ernst nimmt, ist selber schuld.
Nun, da wäre ich mir nicht so sicher.
Die Bilderstürmer von Konstantinopel hatten einen Kern Wahrheit auf ihrer Seite. Sie wußten, daß ein Bild, ein Bildnis, ein Abbild aufhört, harmlos zu sein, wenn es entscheidende geistige Dinge darstellen will. Und das wußten auch die Ikonophilen, die strenge Regel aufstellten, wie das Sakrale zu repräsentieren sei. Eine Ikone kann noch so meisterlich gemalt sein, wenn sie Charles Manson oder Josef Stalin zeigt, hört sie auf, eine zu sein, und mehr noch: sie wird teuflisch.
Toleranzschwellen gegenüber bestimmten geistigen Einflüssen können steigen und sinken. Manche Menschen können, wie gesagt, mehr verdauen als andere, und sich mehr Toleranz leisten, andere wiederum werden intolerant, weil sie die Gefahr bemerken, die für ihr Inneres ausgeht, oder weil sie sich eine Reinheit und Unschuld bewahren wollen, die eine Quelle ihrer Kraft ist. Andere wollen sich schlicht und einfach nicht abstumpfen lassen.
Dávila bemerkte:
Der Mensch gewöhnt sich mit entsetzlicher Leichtigkeit an die absolute Häßlichkeit und das reine Böse. Eine Hölle ohne Qualen verwandelt sich leicht in einen etwas heißen Urlaubsort.
Nun erinnere ich mich an etliche Gespräche, Begegnungen und Szenen, in denen mich diese Frage berührte. Bei einem abendlichen Gespräch mit Ellen Kositza und anderen erklärte Kubitschek sein völliges Unverständnis dafür, wie man freiwillig Scheußlichkeiten wie Stephen-King-Romane lesen und in seinen Kopf hineinlassen könne. Seine Toleranzgrenze für das Abgründige und Perverse ist sehr niedrig, er hat hier keinen Funken Affinität, und einen Charles Manson wollte er auf keinen Fall in eines seiner Bücher schlüpfen lassen, nicht einmal als ironisches Moment.
Ich selbst hatte leider mit elf Jahren einen Roman von King in die Hände bekommen, viel zu früh, und mich damit geradezu traumatisiert. Bis heute bereue ich die Lektüre, und doch habe ich damals eine Intensität erfahren, die ich später in dieser Form nicht mehr erlebt habe. Ich habe mich im Laufe der Jahre nicht abgebrüht, und sehe mir selten Horrorfilme an; und doch kenne ich zwei, drei Menschen, die damit ihre Angstpsychosen in den Griff bekommen haben - similia similibus curentur.
Dann denke ich an die junge, sehr vergeistigte Frau, die zunehmend Abschied von ihrem geliebten Richard Wagner nahm, je frommer und gläubiger sie wurde, nicht aus “moralistischen”, sondern “organischen” Gründen, aus einer Wandlung der Seele und daraus entstehenden chemischen Unverträglichkeiten heraus.
An einen katholischen Freund, der eines Tages eine tiefgreifende “Metanoia” und Konversion erfuhr, und heute die Helden seiner Jugend wie Current 93, Psychic TV und Death in June nicht mehr hören kann (ganz im Gegensatz zu mir).
An einen Mönch, der mit Leidenschaft E. T. A. Hoffmann las, aber entsetzt war, daß ich Gefallen an einem teuflischen Sadisten wie Edgar Allan Poe fand, der für seinen Geschmack viel zu weit ging.
Und an die Tatsache, daß ich selbst inzwischen bei manchen Szenen von “Das Leben des Brian” geradezu physisches Unbehagen empfinde, so sehr ich immer noch über den Film lachen kann.
Fredy
Sehr starker, wichtiger Text!
Bei aller Erkenntnis über die Scheußlichkeiten sind wir eben auch selbst, mal in hohem mal in geringerem Maß, auch Opfer dieser. Wir wandeln auf dieser Welt, und da werden die Stiefel nunmal dreckig. Wir können nur dem groben Schlamm ausweichen. Und manchen geht es dabei wie dem Hund, der zuerst das Wasser scheut, aber sobald er nass ist, das Wasser nicht mehr verlassen will.