Identität des einst neokonservativen, inzwischen zur linken Mitte neigenden Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama bestätigt die wesentlichen Analysen und Prämissen identitärer und neurechter Vordenker, vor allem was die Bedeutung der nationalen Identität für das Gemeinwesen und die Problematik der Multikulturalisierung ehemals relativ homogener Nationen betrifft.
Fukuyamas Buch ist eine Antwort auf den Trump- und Brexit-Schock. Das Establishment der westlichen Welt werde Konzessionen an seine »populistischen« Herausforderer machen müssen, will es an der Macht bleiben. Anknüpfend an seine berühmte These vom »Ende der Geschichte« untersucht er erneut den unausrottbaren Störenfried auf dem Weg ins Nirvana der »letzten Menschen« – den nach Platon »dritten Teil der Seele«, den Thymos, der den Drang nach Anerkennung, Ehre und Genugtuung befeuert. Diesen sieht er in problematischer Weise in den Exzessen der linken »Identitätspolitik« ebenso am Werk wie im Aufstieg des »Rechtspopulismus«, den er allerdings moralisch geringer wertet als das Engagement für »Black Lives Matter« oder »#MeToo«.
Fukuyama kritisiert den linken Verrat an der weißen Arbeiterklasse, nicht nur der amerikanischen Linken, die immer neuen Minderheitenstämmen Geltung und Aufwertung zu verschaffen sucht, in der Regel verbunden mit einer sich aggressiv gebärdenden Abwertung der weißen, »angloprotestantischen« Noch-Mehrheit, des Christentums, der Landbevölkerung oder traditioneller Familienwerte.
Fukuyamas eigentliche Sorge scheint aber der daraus resultierende Backlash des »weißen Nationalismus« zu sein: Das »bedeutsamste Problem der heutzutage von der Linken praktizierten« und von den Eliten geförderten Identitätspolitik bestehe darin, »daß sie eine entsprechende Politik der Rechten ausgelöst hat. Die linke Identitätspolitik zieht eine politische Korrektheit nach sich, deren Ablehnung zu einer wichtigen Mobilisierungsquelle für die Rechte geworden ist.«
Fukuyama sieht hier nicht nur den Zerfall der Vereinigten Staaten als Nation durch eine Überdosis an »Diversität«, sondern die Krise des liberalen Systems schlechthin, dessen Pluralismus nicht als Pluralismus von Kollektiven, sondern von Individuen konzipiert ist. Der Konstruktionsfehler im Bauplan dieses Systems ist der moderne, auf den Protestantismus zurückgehende Glaube an ein »Individuum«, das ein von allen sozialen und kollektiven Bindungen und Bedingungen gelöstes, zur Entfaltung drängendes »wahres, inneres Selbst« beherberge. Nun richtet sich die Forderung nach Anerkennung und Gleichstellung gerade in einer »diversen« Gesellschaft zunehmend auf Gruppenidentitäten, die einen sozialen Sinn stiften können, der umfassender ist als »Selbstverwirklichung«.
Fukuyama hat also wenig Gutes über die Folgen der »Diversität« zu sagen. Andererseits sei der Weg zurück zu den homogeneren Gesellschaften der Vergangenheit weder möglich noch wünschenswert. Was also tun?
Die Herausforderung für zeitgenössische liberale Demokratien angesichts der Zuwanderung und der wachsenden Vielfalt« bestünde im Zusammenspiels aus Integration, Assimilation und formender Anpassung, »um eine inklusive nationale Identität zu erschaffen, die der vielförmigen gesellschaftlichen Realität gerecht wird und Neuankömmlinge assimiliert.
Fukuyamas Vorschläge, wie dieses Kunststück gelingen soll, sind der schwächste Teil des Buches: Das Modell des Staatsbürger- und Bekenntnisnationalismus setzt mindestens einen fundierten historischen und symbolpolitischen Konsens voraus, der in den USA gerade rapide zerbröselt. Diejenigen, die das »Experiment« der Multikulturalisierung auch in Europa durchziehen wollen, haben ebensowenig wie ihre amerikanischen Pendants eine Ahnung davon, wie es gelingen soll.
Francis Fukuyama: Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet, Hamburg: Hoffmann und Campe 2019. 240 S., 22 € – hier bestellen
Niekisch
"Diejenigen, die das »Experiment« der Multikulturalisierung auch in Europa durchziehen wollen, haben ebensowenig wie ihre amerikanischen Pendants eine Ahnung davon, wie es gelingen soll."
Das haben Experimente bisweilen so an sich: sie sind ergebnisoffen, aber alle möglichen Ergebnisse stellen die Experimenteure zufrieden. Hauptsache, es kommt nicht der Zustand heraus, der zuvor bestand.