Während Adinolfi (vgl. Sezession 55) als Aktivist der außerparlamentarischen Rechten die »Bleiernen Jahre« der 1970er und frühen 1980er erlebte – als linke und rechte Militante unter maßgeblicher Beeinflussung durch Geheimdienstaktivitäten folgenschwere Anschläge verübten (»Strategie der Spannung«) –, war Negri auf der kommunistischen Gegenseite aktiv. Der Unterschied: Der Veteran der radikalen Rechten Adinolfi problematisiert bis heute die Rolle der »Dienste« für die tödliche Gewalteskalation; der Veteran der radikalen Linken Negri sieht keinen Anlaß zur Fundamentalkritik des einstigen Handelns.
1979 wurde Negri verhaftet und als führender Mitstreiter der terroristischen Roten Brigaden angeklagt, 1983 ging er (wie Adinolfi) ins französische Exil, wo er (anders als Adinolfi) eine Anstellung als Dozent für Politische Theorie an der Universität Paris VIII erhielt, bevor er zwischen 1997 und 2003 erneut in Italien inhaftiert wurde. Heute lebt Negri wieder in Paris und gilt als einer der führenden Denker des »undogmatischen«, sich kosmopolitisch artikulierenden Linksradikalismus mit anhaltender weltweiter Ausstrahlung. Sein gemeinsam mit Michael Hardt veröffentlichtes Werk Empire (dt. 2002) gilt Teilen der Linken bis heute als richtungsweisendes Manifest, die beiden Fortsetzungsbände (Multitude, dt. 2004; Common Wealth, dt. 2010) richten ihr Augenmerk auf das Ziel einer staats‑, nations- und volkslosen Weltgesellschaft der Vielen. Diese biographischen und ideologischen Marker gilt es in Erinnerung zu rufen, wenn die vorliegende Erstübersetzung von Marx oltre Marx (1979) aufgeschlagen wird, die nicht als »Marx über Marx hinaus« im Berliner Karl Dietz Verlag erschienen ist, sondern als Über das Kapital hinaus.
Die Titelmodifizierung ergibt Sinn in zweifacher Hinsicht: Einerseits weisen die Ideen des mit diesem Werk einsetzenden Negri-»Postoperaismus« – dies umschreibt grob: Revolutionärer Kampf plus Poststrukturalismus – über die kapitalistische Gegenwart hinaus, und zwar in Folge aktueller Debatten um immaterielle Arbeit und das neuerdings kolportierte Ende klassischer Lohnarbeit in Folge der vielschichtigen »Industrie 4.0«. Andererseits legen die abgedruckten Pariser Vorlesungen Negris, die sich den Marxschen Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie (1857 / 58) widmen, nahe, daß Marx in diesen stürmischen Vorarbeiten zu seinem Kapital einige Positionen vertrat, die er in seinem später erschienenen dreibändigen Hauptwerk dann revidierte bzw. nicht mehr mit dieser Vehemenz vertrat. Negri meint also, die Grundrisse weisen in ihrer »lebendigen«, kämpferischen Sprache auch über das Kapital – als wissenschaftlicher, methodischer, nüchterner Darlegung – hinaus.
Negri widmet sich den Grundrissen vor allem in rebellischem Sinne: Er liest die Grundrisse durch die Brille des Militanten und stürzt sich auf jene Stellen, in der die »revolutionäre Vorstellungskraft« Marxens ebenso hervorsteche wie dessen »revolutionärer Wille«. Die zweifelsohne anspruchsvollen Betrachtungen der Marxschen Texte durch Negri, die eine Lektüre für Marx-Interessierte trotz genannter Idiosynkrasien empfehlenswert macht, dienen dem Autor der Vorlesungen aber letztlich der Feindbestimmung und der Zuspitzung. Mehr als über Lohn und Profit, die Mehrwerttheorie, das proletarische Subjekt, das Wertgesetz, die Kategorien des Kapitals, Zirkulation und den Weltmarkt lernt man möglicherweise über das antagonistische Grundverständnis gesellschaftlicher Auseinandersetzungen in Negris ideologischem Umfeld. Es geht um »die Entmystifizierung jeder pazifistischen Hypothese«, um »die Demonstration von Stärke als dem entscheidenden Element«.
Proletarische Gewalt erscheint in diesem Kontext als »positive Andeutung des Kommunismus«, politische Gewalt von links als »eine erste unmittelbare, machtvolle Bejahung der Notwendigkeit des Kommunismus«. Auch hier geht Negri weit über Marxens bildungsbürgerliche Sozialisierung hinaus: »Im Kommunismus lebt man oder lebt man nicht. Die Entscheidung liegt vor uns, in den Bedingungen des Klassenkrieges.« Negris Finale furioso mündet in eliminatorischem Eifer: »Der Gegner muss vernichtet werden.«
Diese konstanten Wechsel zwischen anspruchsvoller Vorlesung und Aufruf zum Terror sind lesenswert, nicht zuletzt, um sich in Erinnerung zu rufen, daß der offen artikulierte Fetisch der vernichtenden, entgrenzten Gewalt – ob 1979 oder 2019 – im antifaschistischen Beritt seine beständige Wohnstatt findet. Überdies markieren die Pariser Vorlesungen Negris unmißverständlich die Grenze zwischen kommunistischer Ideologie und nichtmarxistisch-sozialistischen Ideen unterschiedlicher Couleur: Negris Kommunismus sucht »ein neues Subjekt, das (…) die Wirklichkeit verwandelt und das Kapital zerstört«. Sozialismus? Ein Binnensystem des Kapitals. Marcel Mauss nannte »Sozialismus« demgegenüber jede Lehre von der »Übernahme der ökonomischen Macht« mittels »Nationalisierung« und »Schaffung eines unter nationaler Kontrolle stehenden industriellen und kommerziellen Eigentums«. Anders gesagt: Hie Staatsfeindschaft und gewaltsame Abschaffung der (Lohn-) Arbeit, da Organisation der Arbeit und ihres Ertrages zugunsten einer Gemeinschaft.
Antonio Negri: Über das Kapital hinaus, Berlin: Karl Dietz Verlag 2019. 264 S., 29.90 € - hier bestellen