Historische Vergleiche erscheinen aus der Grundannahme möglich, daß sich die wesentliche innere Verfaßtheit des Menschen nicht in dem Maße wandelt, wie sich die gesellschaftlichen und technischen Existenzbedingungen fortlaufend ändern, die er sich allerdings selbst einrichtet.
Unser gegenwärtiges Dasein ist bestimmt von einem Grundwiderspruch: Zum einen erhöht sich in exponentiellem Tempo die Frequenz der Reproduktionszyklen, wird der Takt der Veränderungen und Innovationen immer hektischer, drehen die Laufwerke sich schneller und schneller, Druck und Hektik wachsen, so daß der Mensch sich verzweifelt den Bedürfnissen der von ihm kreierten Maschinerie anpaßt, jedoch erschrocken bemerkt, daß nicht er sie, sondern sie ihn zum Vehikel hat; zum anderen aber lassen diese Beschleunigungen vermissen, wonach er eigentlich sucht – Frieden, Glückseligkeit, Muße und Sinngebung.
Wir können uns nun mal nie fest einrichten, sondern bleiben Getriebene, ewige Wanderer ohne Ziel, dabei aber Hoffnung, ja Erlösung ersehend. Darin besteht unser mythisch anmutendes Dilemma, aus dem heraus die Religion befragt wird. Der neuerdings beschworene Globalismus bleibt abstrakt, konkret erfahrbar ist jedoch der Verlust von Heimat, Bindung, Schutz und Vertrauen. Besinnung, Ruhe und Kontemplation fehlen, weil derlei Grundbedürfnisse der durchweg geforderten Effizienzsteigerung entgegenstehen, die zunehmend eine Selbstoptimierung verlangt, auf daß man darwinistisch passabel plaziert bleibe und in der Nahrungskette der Verwertereien nicht zu weit vorn schwimme.
Positiv konnotierte Begriffe, die als politische Werbeträger mittlerweile inflationär gebraucht werden, deuten nicht etwa darauf hin, daß das, was sie bezeichnen, sich real erfüllt findet, sondern daß es vielmehr vermißt wird: Authentizität, Empathie, Inklusion. Insofern ökonomisch fortschreitend eine harte soziale Exklusion erfolgt, als Preis des allseits geforderten leistungsbasierten Wachstums, so wird andererseits um so mehr Inklusion ersehnt – national, indem Limitierte mitgetragen, ja sogar bevorzugt werden, international, um Armutsmigranten zu ihrem vermeintlichen Recht kommen zu lassen. Wo beides mit rigoroser Unbedingtheit völlig unrealistisch gefordert wird, ohne daß die Probleme dabei gesehen werden wollen, beginnt der Bereich des Moralismus und der Propaganda.
Namentlich die Linke steht ganz unfreiwillig vor einem sie aufreibenden Problem: Der große Internationalismus des vermeintlich Menschlichen, den sie erträumt, wird ihr nur globalkapitalistisch geliefert, also eben nicht als das final herzustellende Paradies, sondern als nächster Akt der Vertreibung daraus; dennoch hält sie an ihrer globalistischen Idee verzweifelt fest, selbst verwundert über ihren mephistophelischen Partner, das vermeintlich böse Kapital. Kaschiert wird dieser linke Selbstwiderspruch durch laufende Updates der Illusionen idealistisch befrachteter Aufklärung und durch gedankliche Nachauflagen von Kants Traum „Zum Ewigen Frieden“.
Im Bereich der Bildung spiegelt sich der Widerspruch zwischen Erlebtem und Ersehntem, zwischen sachlicher Tatsachennähe und politischem Trance, sehr signifikant: Wo das Schulsystem nicht mehr qualifizieren will oder kann, wo es überdies auf echte Forderung und interessante Anregung längst verzichtet, dort quantifiziert es um so mehr.
Wenn die Schule derzeit, wie vielfach beklagt, überhaupt streßt, dann vor allem mit Quantifizierungen, also mit einem überbordenden Kalender, mit wechselnden politischen Kampagnen, mit Bürokratie, Verwaltungsaufwand und mit Verrechtlichungen. Letztlich streßt sie sich selbst, indem sie lauthals verspricht, was sie nicht halten kann und gar nicht versprechen sollte, etwa die sozialpädagogische Heilung gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten, anstatt sich mit neuer Redlichkeit auf ihre Aufgabe zu besinnen, nämlich so zu bilden, daß die vermittelten Fähigkeiten anwendbar sind, und so zu erziehen, daß ihre Absolventen Anstrengungen in Selbstüberwindung eigenverantwortlich und „resilient“ bewältigen können. Bildung statt „Bildung“!
Bildung bedarf eines ideellen Zentrums, und genau dieses Zentrum liegt verwaist. Menschen bilden sich und werden aus Ideen heraus gebildet. Diese setzen eine im Vorfeld zu bestimmende Anthropologie voraus, mit deren Hilfe grundvereinbart werden sollte, woran uns gesellschaftlich liegt. Durchaus, man hört andauernd Bekenntnisse, nur sind diese entweder verphrast durchideologisiert oder eben abstrakt.
Zurück zum Beginn: Kann man die Gegenwartspolitik mit der Zeit vor hundert Jahren vergleichen? In Deutschland? Einiges drängt sich auf. Das Reich prosperierte wirtschaftlich, damals sogar noch befeuert von einer so ergiebigen wie erfolgreichen naturwissenschaftlichen und ingenieurtechnischen Grundlagenforschung. Dafür stehen Albert Einstein, Max Planck, Fritz Haber und viele, viele andere. Wenn Deutschland je Weltmacht und dabei nicht nur Exportweltmeister war, dann damals.
Wir erreichen in der heutigen „Bildungsrepublik“ nicht mal die damalige Alphabetisierungsrate. Selbst sozial herrschte kraft Bismarckscher Sozialgesetzgebung ein innerer Frieden, freilich auf anderem Anspruchsniveau und dank der landläufigen Befähigung zu Maß und Bescheidenheit.
Aber dennoch schien auch damals das Zentrum der Lebensinspiration zu veröden, weil wirtschaftliche Sachlichkeit und politische Parolen nicht ausreichen. Kraftvoll wirkte die Sozialdemokratie; sie erstrebte mit wachsendem Selbstvertrauen in die eigene Kraft einen Volksstaat der Gerechtigkeit und hatte ihn bereits dank allgemeinem, gleichem und geheimem Wahlrecht – jedenfalls reichsweit und nur für Männer – trügerisch nah vor Augen. Allgemein jedoch lag eine Schwüle in der Luft, die den Expressionisten ein Gewitter anzukündigen schien. Andere verloren die bisher vertraute Sprache. Man lese noch mal Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief:
Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.
Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte »Geist«, »Seele« oder »Körper« nur auszusprechen.
Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament oder was Sie sonst wollen, ein Urtheil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urtheil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.“
Obwohl das Reich also nicht nur funktionierte, sondern gesund und leistungsfähig schien, vermißten die sensiblere Geister Inspiration und Sinn. Der Ausdruck dafür wurde nicht nur im expressionistischen Schrei gefunden, sondern ebenso im Bemühen um ein erstaunlich breites Spektrum an Weltanschauungs‑, Religions- und Lebensreformen, wozu als besonders starker Part die Jugendbewegung gehörte, die sich ihren eigenen Stil ersann, den Jugendstil.
Geradezu unheimlich aber, daß diese Zeit andererseits eine Flammenschrift wahrzunehmen schien, die als Menetekel auf den Ersten Weltkrieg hindeutete, den man mindestens nicht in der Dimension erwartete, wie er sie schließlich grausig offenbarte, beinahe als Fleischwerdung expressionistischer Prophezeiungen, wenn man etwa an Georg Heyms Lyrik denkt. Aber selbst der Beginn dieses Krieges wurde vielfach als eine Befreiung aus einer geradezu physisch empfundenen Lethargie begrüßt.
Die gesellschaftliche Situation also scheint bedingt vergleichbar, insofern äußerer Erfolg und positive Leistungsbilanz mit innerer Erschöpfung einhergehen, nur fehlt (Noch?) der Ausdruck der Alternativen, die geistige Bewegung, das Erneuerungsbewußtsein. Denn „Fridays for Future“ wird nichts Stilbildendes zustande bringen, insofern die Kinder-Aktivisten ohne echtes Charisma eher dem schlechten Gewissen ihrer grün wählenden Mittelstandseltern folgen, dystopische Klimatod-Bilder entwerfen und vor allem von anderen mehr fordern als selbst gestalten. – Oder hat der Mangel an markanter Artikulation schon demographisch schlechthin mit dem Mangel an Jugend überhaupt zu tun?
Die Alterspyramide der Gesellschaft deutet auf eine Verwachsenheit hin, die auf andere Weise auch der gesellschaftliche Bodymaßindex offenbart. Vital und unverwechselbar ließ sich allein die „Identitäre Bewegung“ vernehmen. Und die wurde durchaus gehört, sogleich beargwöhnt und schließlich unter Verdacht und Kuratel gestellt. Die Exekutive reagierte mit einem Allergieschub, also mit einer Überreaktion ihres ansonsten schwachen Immunsystems. – Es wird andere Ausdrucksformen geben, durchaus wohl „expressionistisch“, also expressiv.
Monika
Heino Bosselmann, der Anselm Grün der Neuen Rechten.
Und das meine ich durchaus anerkennend !