Ob freiwillig, wie im Falle der sozialen Frage, oder von außen aufgezwungen, wie in der Klimadebatte: Die gewachsene Kraft lädt zu einem neuen Anlauf ein, endlich ein umfassendes Gegenprogramm zum bestehenden Konsens aufzustellen.
Zu den großen Schwierigkeiten des Sprungs von der Fundamentalopposition in die Regierung zählt, daß eine bisherige Ein-Themen-Bewegung den Staat in allen Aspekten der Politik regieren muß. Die Unerfahrenheit Einzelner wäre verschmerzbar. Das größere Problem ist, daß diese Bewegung über viele Bereiche, die sie jetzt gestalten muß, nie öffentlich, das heißt: im Kollektiv, nachgedacht hat.
Das hat zwei unangenehme Folgen: Erstens gibt es nicht den Ansatz eines Grundkonsenses darüber, wie jetzt zu verfahren sei. Dadurch ist die Theoriearbeit den Launen Einzelner ausgeliefert. Welches zweitens, wenn diese Einzelnen besonders feste Meinungen zu einem Thema vertreten, das nicht den Kern der Bewegung ausmacht, oft zu jener Art Wirrköpfen zählen, die dissidente Politik nun einmal anzieht.
Das gilt bedauerlicherweise besonders für die Jugend, welcher man die Leidenschaft oft als Privileg zuweist. Oswald Spengler klagte 1924 in einer Rede über die „Politischen Pflichten der deutschen Jugend“:
Ich höre täglich Gespräche, die mich erschrecken, naive Vorschläge zu grundlegenden Wirtschaftsreformen von jungen Leuten, die nie ein Hüttenwerk gesehen und nie eine Abhandlung über modernes Kreditwesen gelesen haben; Ideen über Verfassungsreformen ohne die geringste Vorstellung davon, wie heute ein Ministerium aufgebaut sein muß, um arbeiten zu können, und was alles zu seiner geschäftlichen Leitung gehört.
Die Bemühungen, das rechte Lager frühzeitig breiter aufzustellen, ernsthafte Theoriearbeit zu leisten und außerhalb der bereits bewirtschafteten Parzellen der Identitätspolitik und Migrationskritik neuen Boden fruchtbar zu machen, sind daher uneingeschränkt zu begrüßen.
Wir dürfen darüber indessen nicht vergessen, welch’ großen Herausforderungen sie gegenüber stehen, sollen sie nicht ebenso versanden wie alle früheren Versuche, irgendeine Thematik rechts zu besetzen.
In einem Podcast des Jungeuropa Verlages sprach Benedikt Kaiser das größte Problem hierbei en passant an. Für seine Richtung eines Solidarischen Patriotismus bestehe die Schwierigkeit, daß die libertären Gegner über einen theoretischen Hintergrund verfügen, ihren Hayek oder Friedman gelesen haben. Dem Solidarischen Patriotismus fehle bisher ein solches Fundament.
Diese Diagnose läßt sich auf fast alle Bereiche übertragen, in denen die Rechte sich mit systemischen Fragen beschäftigen müßte. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Da rechte Publizistik von den Staatströgen ausgeschlossen ist, muß sie sich in irgendeiner Weise, sei es durch Käufer oder Spender, selbst tragen. Der Markt für abstrakte, oft mathematisch anmutende Analysen ist dabei sehr viel kleiner, als der für feuilletonistische Kritik der herrschenden Verhältnisse oder historische Abhandlungen.
Alles was jenem halbintuitiven Bereich des Erkennens zuzuordnen ist, den Spengler den Takt genannt hat, ist populär und anschaulich darstellbar. Dazu gibt es eine rechte Literatur, die keinen Vergleich, abgesehen von dem der bloßen Auflagenziffern, zu scheuen braucht – und auch hier rasch aufholt.
Dahingegen ist Theorie im strengen Sinne immer noch Mangelware. Eine Theorie ist eben nicht dasselbe wie ein Standpunkt oder eine Perspektive auf die Dinge, sondern eine axiomatisch begründete, deduktiv erarbeitete Struktur. Erst sie erlaubt die wissenschaftliche Interpretation der induktiv gewonnen Informationsmassen, von denen die heutige Publizistik überquillt.
Die Entschuldbarkeit dieser Schwäche mindert jedoch nicht im Geringsten ihre Folgen. Diese gehen über die unmittelbare Praxis hinaus. Die Rechte ist die Partei der Wirklichkeit gegen die Beliebigkeit. Die Strukturen dieser Wirklichkeit, dasjenige was man philosophisch als Wahrheit bezeichnen kann zu erkennen, muß ihr ureigenstes Anliegen sein.
Anderenfalls degeneriert sie zum Konservatismus, welcher, mit Chesterton gesprochen, demselben prinzipiellen Fehler verfällt wie der Progressismus: Er knüpft den Wert einer Aussage an ihr Datum anstatt an ihre Wahrheit.
Die naheliegende (Not-)Lösung besteht nun daran, sich das für den eigenen Bedarf Passende aus der Produktion des akademischen Betriebes herauszurecherchieren. Dies stößt jedoch an die Grenze dessen, was dieser akademische Betrieb selbst zu leisten willens und in der Lage ist.
Das ist nicht nichts, auch wenn man gerne über die Universitäten lästert. In den Sozialwissenschaften ist es jedoch weniger als erforderlich wäre. Das hat wenig mit der linken Grundausrichtung heutiger Universitäten zu tun.
Das Problem liegt im Stand der Theorie selbst. Zum Standardrepertoire Horace „Woody“ Brocks, des Präsidenten der Denkfabrik Strategic Economic Decisions und einem der besten systemischen Denker unserer Zeit, gehört die Feststellung, daß das größte Problem der Sozialwissenschaften darin besteht, daß unter ihnen nur die Ökonomie über eine ausgearbeitete Theorie verfügt.
Jeder angehende Wirtschaftswissenschaftler lernt die Theorie von Angebot und Nachfrage als Grundlage aller ökonomischen Modelle. Andere Sozialwissenschaften, vor allem die Politikwissenschaft, haben dem nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen. Was in diesen Wissenschaften als Theorie bezeichnet wird, ist wenig mehr als bestimmte Blickwinkel auf einen Sachverhalt.
So streiten sich die Theoretiker der Internationalen Beziehungen darüber, ob die Betrachtung von Staaten als geopolitische, von Sicherheitsinteressen determinierten Akteure (Neorealismus), als Vertreter interner Interessengruppen (Liberalismus), oder als Träger kulturell bedingter Werte (Konstruktivismus) die größte Erklärungskraft hat. Das ist nicht müßig. Aber es ist weit weniger, als eine auf Axiomen aufgebaute, deduktiv begründete Theorie.
Dieses Ungleichgewicht zwischen den Disziplinen führt zum ökonomischen Imperialismus, und gemeint ist nicht das Verhalten der USA auf der Weltbühne, sondern die Tatsache, daß die wirtschaftlichen Paradigmen mangels Alternativen die Sozialwissenschaften dominieren.
Das ist ein Problem. Denn das ökonomische Grundmodell von Angebot und Nachfrage ist von zahlreichen Bedingungen abhängig: Rechtssicherheit, Transparenz, Verbindlichkeit von Verträgen, Abwesenheit von Korruption. Es sind Bedingungen, die keinesfalls garantiert sind und die nur politisch hergestellt werden können. Selbst im Bereich der Wirtschaft gibt es weite Bereiche, die mit der rein ökonomischen Theorie nicht erfaßbar sind. Das politische Denken bedarf hier ganz neuer Ansätze.
Brock ist der Ansicht, daß es die notwendige Theorie längst gäbe, nämlich das Nash-Harsanyi-Selten-Modell für multilaterale Verhandlungen, für welches 1994 der Wirtschaftsnobelpreis verliehen wurde. Dies werde ich in einem weiteren Beitrag einordnen.
Thomas Martini
Das noch viel größere "Problem", das sich zur "Theorie als Mangelware" gesellt, ist die Tatsache, daß die Rechte offensichtlich nicht geneigt ist, Praktiker zu fördern.
Was nützt es denn, wenn einer mal ein Hüttenwerk von innen sah und ein Buch über das Kreditwesen las, wie Spengler 1924 klagte, wenn derjenige nie in einem Hüttenwerk oder im Kreditwesen gearbeitet hat?
Bestes Beispiel: Die Führerscheinprüfung. Es reicht einfach nicht, die ganzen Regeln und Vorschriften theoretisch zu kennen. Wenn der Theoretiker ohne praktische Erfahrung im Auto sitzt, wird er nicht weit kommen, oder rasch einen Unfall verursachen. Die Theorie alleine berechtigt niemanden zum Führen eines Fahrzeugs.
Reine Theoretiker sind eine Plage, da sie ihre "Konzepte" und "Ideen" nie selbst ausbaden müssen. Das müssen jene Leute tun, die deren Vorschriften in der Praxis ausbaden müssen.
Ferner gebe ich zu bedenken, daß wir in einem Staat leben, wo eine Familienministerin im Handumdrehen zur Verteidigungsministerin avanciert, ein Justizminister über Nacht das Außenministerium leiten kann. Heute Bäcker, morgen Metzger, und übermorgen Klempner: In der Wirtschaftspraxis unvorstellbar.
Es stellt sich also die große Frage, ob eine Partei hierzulande wirklich "den Staat in allen Aspekten der Politik regieren muß", oder ob das Regieren nicht schon längst in anderen, nicht sichtbaren Händen liegt?
Den "ökonomischen Imperialismus" getrennt vom "Verhalten der USA auf der Weltbühne" zu betrachten, ist so, als würde man den Motor eines Ferrari von seinem Fahrverhalten getrennt einschätzen. Eine solche Differenzierung ist un-alles: unlogisch, unnütz, unpraktisch und unnötig.
Abschließend noch ein paar Worte zu Oswald Spengler, und man beachte bitte Kesslers Hinweis auf den jungen Arbeiter:
"Beginn der Nietzsche-Tagung nachmittags in der ›Erholung› mit dem Vortrag von Spengler über ›Nietzsche und das zwanzigste Jahrhundert‹. Der Saal war überfüllt, so daß mir erst ein Stuhl hineingetragen werden mußte. Viele standen.
Dafür wurde Spenglers Vortrag zu einem Debakel. Ein dicker Pfaffe mit einem fetten Kinn und brutalem Mund (ich sah Spengler zum ersten Mal) trug eine Stunde lang das abgedroschenste, trivialste Zeug vor. Ein junger Arbeiter in einem Arbeiterbildungsverein, der sich bemüht hätte, seine Kollegen mit Nietzsches Weltanschauung bekannt zu machen, hätte es besser gemacht. Nicht ein eigener Gedanke. Nicht einmal falsche Diamanten. Alles einförmig seicht, glanzlos, platt, langweilig.
Ja, Spengler hat es fertiggebracht, Nietzsche langweilig zu machen. Nur ein paar drollige falsche Behauptungen erheiterten die trübe Stunde. In England hätten die Philosophen über den Staat nie nachgedacht, ›weil England kein Staat sei‹! (Hobbes' ›Leviathan‹ usw. inexistent; oder wahrscheinlich hat Spengler nie von Hobbes und seinen Nachfolgern gehört.)
Man vergleiche Spengler mit Renan (ohne irgendwie den Wert, den ganz ungleichen Wert, beider in Parallele stellen zu wollen). Das Traditionelle, Unoriginelle ist beim Deutschen (mittleren ›Genies‹) meistens der Inhalt, der ›letzte Schluß‹, zu dem er kommt, beim Franzosen gleichen Niveaus die Form, die Hülle, in die er seine mehr oder weniger neuen Gedanken kleidet."
https://gutenberg.spiegel.de/buch/tagebucher-1918-1937-4378/10