Über Wochen hinweg wurde diskutiert, ob es nun ein Zeichen politischer Reife sei, die Spielregeln der Verfassung zu umgehen, oder ob hier die Grundordnung in Frage gestellt werde. Was den Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis zu der Bemerkung veranlaßte, daß er „die offensichtlich so fragil geeinte Nation nicht in einer wirklichen Krise erleben“ wolle.
Das alles ist bemerkenswert, weil die Vorstellung, daß der Staat oder die Demokratie in eine Krise geraten könnten, bis vor kurzem kaum vorstellbar schien, bestenfalls ein Rest historischer Erinnerung: in der Vergangenheit hatte es Staatskrisen gegeben, zerstörerische sogar wie im Fall der Weimarer Republik, aber das schien ein fernes Gerücht wie der Untergang Roms, ohne Bezug auf die Gegenwart. Womit nicht gesagt sein soll, daß es überhaupt an Krisenwahrnehmung mangelte. Seit den sechziger Jahren hatten wir Krisen der Gesellschaft, des Bildungs‑, des Parteienund des Rentensystems, hinter der man schließlich die demographische Krise ausmachte, sowie eine das ganze dauernd begleitende Krise des Arbeitsmarkts, außerdem noch diverse sexuelle und ökologische Krisen.
Das Gerede über die Krise hat uns stumpf gemacht gegenüber dem alarmierenden Charakter jeder Krisendiagnose und ein eher diffuses Gefühl hinterlassen. Auch der Begriff der Krise wurde unscharf, und genau das sollte nicht passieren, denn das zugrundeliegende griechische Wort krisis wird von einem Verb abgeleitet, das soviel wie „scheiden“, „entscheiden“, „auswählen“, „richten“ oder „beurteilen“ heißen kann. Die Spannweite der Bedeutungen ist dementsprechend groß: Für Aristoteles war nur derjenige Vollbürger, der in der Polis am Richten (krisis) und am Regieren (arche) teilnahm; im Sinne von „göttlichem Gericht“ wird krisis in der Septuaginta, dann im Neuen Testament und bei den frühchristlichen Autoren verwendet. Daneben spielte der Begriff eine Rolle für die Medizin, die damit gleichermaßen den zur Entscheidung über Gesundheit oder Tod treibenden Krankheitsverlauf wie auch die Entscheidung des Arztes über die anzuwendende Therapie belegte.
Obwohl die Philosophie seit der Antike das Bild des „Großen Menschen“ für Staat oder Gesellschaft kannte, wurde erst im 17. Jahrhundert das medizinische Verständnis der Krise auf den politischen Bereich übertragen. So erschien im Vorfeld des englischen Bürgerkriegs ein Pamphlet mit dem Titel This is the Chrysis of Parliaments; we shall know by this if Parliaments live or die. Solche Vorstellung von der Krise als Entscheidungsvorgang im Hinblick auf politisches Sein oder Nichtsein kann für länger nur in Großbritannien und Frankreich nachgewiesen werden. Hier verband sich der Terminus auch mit einer neuen geschichtsphilosophischen Anschauung. Krise tendierte seit dem Ende des 18. Jahrhunderts dazu, ein „Dauerbegriff für Geschichte schlechthin“ (Reinhart Koselleck) zu werden, und zwar gerade deshalb, weil die Partei der philosophes danach strebte, die Geschichte in der Utopie aufzuheben.
Das späte Auftreten des Wortes Krise in dem uns vertrauten Sinn darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß Krisenzustände immer zur Geschichte der Menschheit gehörten, daß sie über lange Zeiträume sogar latent waren. Was damit gemeint ist, kann man sich vergegenwärtigen an der Lebenslage von Wildbeutern, die ohne Vorratshaltung von der Hand in den Mund lebten, ohne Möglichkeit, das Jagd- oder Fundglück zu sichern, gar nicht zu reden von der Gefahr, in die jeder Beutezug brachte. Ähnliches gilt für die agrarischen Gemeinschaften mit ihrem permanenten Risiko der Mißernte oder des Wetterumschlags. Der Dichter Gorch Fock vermerkte noch Anfang des letzten Jahrhunderts über den Friedhof der Finkenwärder Fischergemeinde: „Wenn ein Finkenwärder Seefahrer an Land stirbt, so schreibt man es auf den Leichenstein, weil es so selten vorkommt. Was auf der See lebt, stirbt auch auf der See und braucht keinen Kranz und keinen Stein.“
Der Behauptung, daß die vormodernen Gesellschaften „Risikogesellschaften“ waren, scheint die Tatsache entgegenzustehen, daß sie ein erstaunliches Maß an Stabilität aufwiesen. Der Grund dafür lag in der Fähigkeit, das Zusammenleben der Menschen, instinktarmer und insofern verhaltensunsicherer Wesen, über „Außenhalte“ (Arnold Gehlen), vor allem Institutionen, auf Dauer zu bringen und so die Krisenbewältigung zu steuern. Man gab sich kaum der Täuschung hin, die Krisen oder ihre Ursachen ganz abstellen zu können, aber die Krise wurde auf verschiedenen Wegen gebannt.
Das gelang bis zu einem gewissen Grad sogar bei den großen, nicht alltäglichen oder periodisch wiederkehrenden Krisen – Invasionen, Glaubens- oder Dynastiewechsel, Seuchen, und wahrscheinlich hat homo sapiens sapiens eine dieser großen Krisen vor siebzigtausend Jahren nur knapp, mit einem Bestand von tausend bis zweitausend Individuen, überlebt. Ein Grund für diese Widerstandsfähigkeit lag wohl darin, daß die Krise nicht in der uns bekannten Weise zum Gegenstand der Reflexion wurde. Der Auszug Israels aus Ägypten zeigt mit dem politischen und religiösen Konflikt, der ökologischen Katastrophe und Pandemie alle Züge einer umfassenden Krise. Aber nichts davon wurde als innerweltlicher Vorgang begriffen, und noch im 17. Jahrhundert vermerkte ein Prediger: „Die Sucht der Pestilentz / wie vns die Heylige Schrifft lehret / ist / die Hand Gottes / ein Ruth Gottes / ein Schwerd seines Grimmens / ein Donner vnd Blitz deß Zorn Gottes“.
Erst in dem Maß, in dem die Geschichte nicht mehr als göttliches, sondern als ein von Menschen und anonymen Mächten bestimmtes Schauspiel erschien, bekam der Begriff der Krise seine moderne Bedeutung und begann mit der „Krise des europäischen Geistes“ (Paul Hazard) das systematische Nachdenken über die Krise. Dabei erhöhte die Mehrdeutigkeit des Wortes seine Eignung für alle Formen der politischen Argumentation. Die französischen Aufklärer verwendeten den Begriff, um ihre Bürgerkriegsposition so zu überhöhen, daß der Untergang des Ancien Régime unvermeidbar, ihre eigene Position unbesiegbar, aber auch unantastbar erschien. Wenn Rousseau für die Zukunft einen „Zustand der Krise“ vorhersagte, in dem der Absolutismus untergehen werde, dann machte er also nur explizit, was auch ohne sein Zutun eintreten würde. Er handelte aber gleichzeitig als Agent der Krise, indem er die Situation zuspitzte, deren Umschlag in eine neue Lage zuletzt und in jedem Fall bevorstand. Der Angloamerikaner Thomas Paine gründete 1776, zu Beginn des Unabhängigkeitskriegs der dreizehn Kolonien, eine Zeitschrift mit dem Titel The Crisis, in der er für seine radikaldemokratischen Positionen warb, die er mit der Vorstellung verband, daß es sich bei der Krise nur um einen Übergang handele, eine mehr oder weniger notwendige Unterbrechung des Fortschritts, der letztlich durch die Krise befördert werde.
Dagegen verwendete Edmund Burke, als die Revolution in Frankreich begann, den Terminus Krise in einem negativen Sinn, um jene Prozesse zu charakterisieren, die die ganze bekannte Ordnung zu beseitigen drohten. Ähnlich argumentierte auch Friedrich Gentz, wenn er von der Französischen Revolution sprach, als „der größten und fürchterlichsten Krisis …, welche die gesellschaftliche Verfassung von Europa seit mehreren Jahrhunderten erfuhr“. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitete sich die Auffassung, daß 1789 ein Vorgang einsetzte, der die gesamte gesellschaftliche, kulturelle, religiöse und wirtschaftliche Struktur erfaßte und insofern eine totale Krise auslöste.
„Das Bürgertum hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt. Das Bürgertum, wo es zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Es hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung‘. Es hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Es hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Es hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt. Das Bürgertum hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Es hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in seine bezahlten Lohnarbeiter verwandelt. Das Bürgertum hat dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt. … Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit der Bewegung zeichnet die bürgerliche Epoche vor allen früheren aus. Alle eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“
Der Text stammt nicht von einem Konservativen, sondern aus dem Kommunistischen Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels, es wurde für unsere Zwecke lediglich „Bourgeoisie“ durch „Bürgertum“ ersetzt. Marx und Engels erwarteten übrigens eine noch „gewaltigere Krise“ als diejenige, deren Zeugen sie schon waren, bevor das bessere Morgen zum Durchbruch kommen würde. Ihre Auffassung hing mit einer dialektischen Betrachtung der Geschichte zusammen, der zufolge die Krise – wie Hegel gelehrt hatte – als notwendiger Durchgang zu einer höheren Stufe der Entwicklung betrachtet werden mußte.
Nach und nach gewann diese Anschauung und mit ihr der Marxismus den größeren Teil der europäischen Linken. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß Marx in ambivalenter Perspektive auf seine eigene Zeit sah: „Es gibt eine große Tatsache, die für das 19. Jahrhundert charakteristisch ist und die keine Partei ableugnen kann. Auf der einen Seite sind industrielle und wissenschaftliche Kräfte zum Leben erwacht, wie sie keine frühere Geschichtsepoche je ahnen konnte. Auf der anderen Seite machen sich Anzeichen eines Verfalls bemerkbar, der die vielgenannten Schrecken aus den letzten Zeiten des römischen Reiches in Schatten stellt.“
Der Historiker Jacob Burckhardt, ein Mann, der anders als Marx mit jeder Faser am alten Europa hing, hätte dieser Diagnose vorbehaltlos zugestimmt, indes die Wahrscheinlichkeit des Niedergangs für größer gehalten. Burckhardts Geschichtspessimismus war nicht konsequent, aber sein Blick auf die „große Krise“, unbestochen durch utopische Erwartungen. In seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen entwickelte er eine Krisensystematik, die man deshalb noch immer als lehrreich auffassen kann. Burckhardt vertrat vor allem die Ansicht, daß „echte Krisen“ ein sehr seltenes Phänomen seien. Der Dramatik eines sozialen, ökonomischen oder kulturellen Geschehens, das von den Zeitgenossen als Krise wahrgenommen werde, entspreche häufig nicht seine tatsächliche historische Bedeutung. Nur Vorgängen wie der Völkerwanderung oder den Turbulenzen seiner eigenen Zeit wollte Burckhardt den Rang „echter“ Krisen zugestehen, weil sie tatsächlich alles Bestehende umwälzten. Davon verschieden seien die Normalkriege, politischen Machtwechel oder technischen Neuerungen wie die Erfindung der Eisenbahn, die man vielleicht als „sekundäre Krisen“ bezeichnen kann. Es handele sich dabei vor allem um „beschleunigte Prozesse“ im Unterschied zu jenen allmählichen Entwicklungen, die sonst die Geschichte kennzeichnen.
Weiter müsse von der „gescheiterten Krise“ gesprochen werden, vor allem bedingt durch Verschleppung des Ausbruchs, unerwartetes Versagen der angreifenden Kräfte, Ausscheiden der Anführer zur Unzeit oder dadurch, daß das „Lebensalter“ eines Volkes, einer Kultur den Umbruch nicht mehr zuläßt; Beispiele könnten die lange Fortdauer des byzantinischen oder chinesischen Reiches sein, trotz innerer Erstarrung und äußerer Bedrohung. Die Krise erscheint merkwürdig auf Dauer gestellt, ohne daß die ihr innewohnende Tendenz zur Entscheidung stark genug werden kann.
Im Kern war auch Burckhardts Krisenbegriff der medizinische. Er nannte die Krise ein „Fieber“, eine „Aushilfe der Natur“. Es wirken sich seiner Meinung nach Vitalkräfte aus und führen zur Zerstörung des Altersschwachen und zum Aufstieg des Lebenskräftigen. Vom „Trost mit einem höheren Weltplan u. dergl.“ hielt er bekanntlich wenig und hoffte insofern auch nicht auf einen krisenfreien Endzustand des Menschengeschlechts. Vieles von dem, was er in den Betrachtungen sagte, zeigte seine Furcht vor der „echten Krise“, die er miterleben mußte. Zu erwarten stehen deshalb seine Erwägungen dazu, wie man eine Krise „abschneiden“ könne, aber außer einem kursorischen Hinweis auf Bismarcks Reichseinigung findet sich wenig. Große Aufhalter sind rar, und in der „echten Krise“ steht kein Napoleon parat, Kanonen auf den Stufen des Konvents zu postieren und mit Kartätschen zu laden.
Die Zurückhaltung Burckhardts an diesem Punkt erklärt sich auch daraus, daß er den Ausbruch einer Krise im Grunde als Ergebnis physikalischer oder biologischer Prozesse betrachtet: wenn es soweit ist, hält nichts mehr der Kritik stand, dann pflanzen sich die aufrührerischen Ideen wie im Funkenflug fort, finden sich überall Mutige, die den Angriff auf die eben noch uneinnehmbaren Bastionen wagen, bricht sich ein Enthusiasmus des Anfangs Bahn und wird die Beseitigung des gerade noch allgemein Anerkannten ohne Zögern ins Werk gesetzt. Er kommt dann auch auf die Schattenseiten zu sprechen: die Ernüchterung, die Resignation, das oft jämmerliche Gesamtergebnis der großen Anstrengung. Das darf man bei einem Konservativen erwarten. Eher unerwartet findet sich aber auch das „Lob der Krisen“: „ … die Leidenschaft ist die Mutter großer Dinge, das heißt die wirkliche Leidenschaft, die etwas Neues und nicht nur das Umstürzen des Alten will. Ungeahnte Kräfte werden in den einzelnen und in den Massen wach, und auch der Himmel hat einen andern Ton. Was etwas ist, kann sich geltend machen, weil die Schranken zu Boden gerannt sind oder eben werden.“ Die Krisen stoßen voran, sie „räumen auf“, was es an „Pseudoorganismen“ gibt, die gar kein Recht auf Dasein haben, und schließlich: „Die Krisen beseitigen auch die ganz unverhältnismäßig angewachsene Scheu vor ‚Störung‘ und bringen frische und mächtige Individuen hervor.“
Das letzte erscheint besonders aktuell, weil der Satz von der „ganz unverhältnismäßig angewachsenen Scheu vor ‚Störung‘ “ unsere Lage trifft. Wir erleben nicht nur den Versuch, alle echte Opposition zurückzudrängen oder amüsant zu machen, sondern auch ein Bemühen, „Konsens“ zum Maßstab der Wahrheit und des guten Lebens zu erheben. Das sind aber nur noch Versuche der Defension aus starker Stellung, jedoch ohne Zukunftsglauben und schon gepaart mit dem Gefühl, daß die Beschwörung wenig helfen wird. Hans-Ulrich Jörges, der Chefredakteur des Stern, meinte unlängst, man dürfe die neue Bundesregierung nicht übermäßig angehen, die einflußreichen Medien hätten eine besondere Verantwortung, denn das gegenwärtige Führungspersonal sei „das vorletzte Aufgebot“.
Das war ein bißchen kokett, und man muß kein Prophet sein, um vorauszusagen, daß solche Stillhalteappelle kaum Erfolg haben werden, wenn sich die Lage weiter verschärft. Einige sind schon so weit, eher am Rande des Establishments, aber mit Brückenköpfen in den Einflußbereichen, so daß Wolfgang Sofsky den kommenden Bürgerkrieg und Gunnar Heinsohn die Invasion der afrikanischen und asiatischen Massen prophezeien kann, nicht nur, um den Satten Schauer über den Rücken zu jagen. Noch ist derlei seltener als die Beschwörungen, mit denen den Deutschen mehr Hoffnung, mehr Familien- und Kinderfreundlichkeit und sogar mehr Patriotismus eingeflößt werden soll. Still und heimlich hat sich die Bekehrung der Antipatrioten, Familienverächter, Fruchtabtreiber und Nihilisten vollzogen, aber es mangelt ihren frischen Überzeugungen an Resonanz. Wer vor zehn oder fünfzehn Jahren versucht hat, in diese Richtung umzusteuern, mußte noch mit heftiger Abwehr rechnen, das ist jetzt vorbei, so wie die begründete Hoffnung, daß milde Mittel anschlagen werden.
Im Kern handelt es sich um Versuche, die Krise abzuschneiden. Man hält das für möglich, weil die Hoffnung überwiegt, daß die Krise keine „echte Krise“ ist. Dabei sprechen die meisten Anzeichen für eine Umwälzung, die mehr und anderes in Frage stellt als Parteienproporz und Verteilungsschlüsel. Die ganze Reform- und Modernisierungsrhetorik verliert ebenso an Glaubwürdigkeit wie das ängstliche Beharren auf Üblichkeiten, an die man sich im „kurzen“ 20. Jahrhundert gewöhnen durfte. Die Undeutlichkeit dessen, was kommt, erklärt das Zögern, und zu der Auffassung, daß die Krise ihr Gutes hat, bekennt sich kaum jemand. Das kann auch nicht überraschen, denn die Krise wäre der Ernstfall, und die Verfassung ist seit je eine „unheroische“ (Josef Isensee), die den Ernstfall nicht nur meidet, sondern seine Möglichkeit bestreitet, die vom Bürger keine andere als monetäre Leistung verlangt und nicht weiß, wie sie an Gemeinschaftssinn und Opferbereitschaft appellieren soll. Schäubles Feststellung einer „Staatskrise“ hat insofern eine Bedeutung, die er selbst kaum intendiert haben wird. Denn jede Feststellung der Krise ist eine polemische Feststellung. Sie besagt, daß der Feststellende die Lage für gefährlich und veränderungsbedürftig hält. Insofern besteht ein zentraler Zusammenhang zwischen Kritik und Krise. Die Ähnlichkeit der beiden Begriffe ist nicht zufällig. Die Kritik will ja urteilen und in der Krise wird das Urteil vollzogen. Insofern muß alles mit der Kritik beginnen, bevor die Leidenschaft zu ihrem Recht kommt, die „großen Individuen“ auftreten und der Himmel „einen anderen Ton“ annimmt.