Der 200. Geburtstag von Karl Marx im Mai 2018 begangen. Mit einer Bücherflut zu Leben und Werk des Philosophen ist zu rechnen. Bereits jetzt liegen Bücher vor, die sich mit den Auswirkungen des Marxschen Œuvre beschäftigen oder sich gar an einer integralen Biographie versuchen.
Hervorzuheben ist zunächst eine Studie Jürgen Neffes (Marx. Der Unvollendete, München 2017, 656 S., 28 €). Der promovierte Naturwissenschaftler und studierte Philosoph sieht sich einer »Rückkehr zum vorbehaltslosen Umgang mit Marx und seinem Werk« verpflichtet; die später zusammengeschusterte, dogmatische Ideologie namens Marxismus sei nicht im Sinne des Meisterdenkers gewesen.
Das populärwissenschaftlich verfaßte Buch kennt Stärken und Schwächen: Der streckenweise krampfhaft jovialen und umgangssprachlichen Ton stört. Daß die Marxsche fundamentale Scheidung in »Über«- und »Unterbau« in allgemeinverständlicher Form erläutert wird, versteht sich – gemessen an dem Anspruch, ein Marx-Porträt für eine breite Öffentlichkeit vorzulegen – von selbst.
Aber muß man den Überbau – die herrschenden Vorstellungen einer Gesellschaftsordnung – wirklich als »Chefetage im Penthouse« darlegen? Muß man die vom Autor kenntnisreich untermauerte geistige Flexibilität, die Marx von seinen auf ihn folgenden Vereinfacherern so stark separiert, wirklich mit einem »schönen Gruß an die späteren sozialistischen Machthaber« enden lassen? Auch die Rede von dem »Kreativteam Marx & Engels« oder von einem Analysten, der »den eigenen Schuß nicht gehört« hat, läßt die Lektüre stellenweise zu einer irritieren- den Angelegenheit werden. Aber, und das ist die gute Nachricht für alle Leser, die in der Sturzflut des Gedruckten eine empfehlenswerte, aktuelle Marx-Gesamtdarstellung suchen: Es bleibt bei diesen kleinen Abzügen in der Endwertung. Ansonsten ist die Darstellung Neffes nämlich überaus gelungen.
Der preisgekrönte Publizist versucht mit Erfolg, das vielfältige Werk Marxens (und Engels’) im Kontext seiner spezifischen Epoche und konkreten Wirkungssphäre zu beschreiben und zusammenzufassen. Das alleine hätte indes keinen Neuigkeitswert; darstellende und erklärende Marx-Biographien gibt es einige.
Eine Stärke Neffes ist die gegenwartsorientierte Herangehensweise. Bei verschiedenen Aspekten wählt er aktuelle Beispiele und Vergleichsparameter, ohne dabei krampfhaft bemüht zu wirken. Die Marxsche Religionskritik wird beispielsweise nicht nur untersucht, sondern auch mit Houellebecqs Unterwerfung zusammengedacht, und die heute wieder reüssierenden Fabel vom »schlanken Staat« kritisch unter die Lupe genommen. Sie wird als das gekennzeichnet, was sie ist: die Hoffnung privatwirtschaftlicher Akteure auf neue Anlagemöglichkeiten, die fortschreitende Kommodifizierung des Alltags. Lesenswert auch, wie Neffe das »Maschinenfragment« Marx’ unter heutigen Bedingungen der Digitalisierung liest und interpretiert.
Stets erweist sich der Autor als kluger Beobachter seiner Zeit. Die treibende Kraft menschlicher Geschichte, wußte Marx, ist die Entwicklung neuer Produktionsmethoden, die wiederum Lebens‑, Arbeits- und Denkverhältnisse umkrempeln. In diesem Sinne liest sich Jürgen Neffes Betrachtung von Phänomenen wie der Sharing economy und dem Internet als »Macht der Maschine selbst« ebenso gewinnbringend wie zaghafte Diskussionsanstöße zu den durch die Macht der Algorithmen entstehenden zukünftigen Handlungsoptionen (»marktorientierte Planwirtschaft« bzw. »geplante Marktwirtschaft«).
Jürgen Neffe ist somit eine Marx-Biographie gelungen, die aufgrund ihrer gelungenen Verschränkung mit zeitgenössischen Prozessen für jeden Leser empfehlenswert ist – einerlei ob er bereits Porträts des bärtigen Trierers in seiner Bibliothek weiß oder sich erstmals an die Materie Marx heranwagt.
Selbiges läßt sich von Thomas Steinfelds Essaysammlung Der Herr der Gespenster. Die Gedanken des Karl Marx München 2017, 288 S., 24 €) nicht sagen.
Steinfeld leitet sein Buch zwar ebenfalls mit dem Anspruch ein, bei der Darstellung essentieller Marx-Denkmotive stets den Blick in die Gegenwart zu werfen. Nur: Neffe leistet dies gescheiter und weniger elaboriert. Steinfeld, der als Feuilletonkorrespondent der Süddeutschen Zeitung in Venedig lebt, schreibt dabei nichts sachlich Falsches.
Allein, es fehlt der Neuigkeitswert, das Originelle, mithin ausgerechnet dasjenige, das vorliegen sollte, damit man die Notwendigkeit verspürt, noch ein Buch zu Marx oder zu der von ihm erarbeiteten Theorie in die Sammlung aufzunehmen.
Lesenswert ist Steinfeld zweifellos dann, wenn er seine eigene Vorliebe zur Literaturgeschichte kenntnisreich mit Marxens Wirkungsgeschichte verweben kann. Geschmälert wird diese Stärke allerdings wiederum durch Lücken in der Rezeptionsgeschichte: Denn auch wenn es einleuchtend erscheint, daß man wie Steinfeld keine große Begeisterung ob der bisweilen esoterisch anmutenden Marx-Philologie um Intellektuelle wie Moishe Postone oder Robert Kurz entwickelt. So bleibt es doch zumindest kritikwürdig, wie man einen Essay über den Fetischcharakter der Ware formulieren kann, ohne etwa Wolfgang Fritz Haugs bleibende Analysen Kritik der Warenästhetik zuletzt Frankfurt a.M. 2009) auch nur en passant miteinzubeziehen.
Staunend läßt einen hingegen Christina Morinas Neuerscheinung Die Erfindung des Marxismus. Wie eine Idee die Welt eroberte, München 2017, 592 S., 25 €) zurück. Staunend, weil dieses Buch aus ihrer Habilitationsschrift geformt wurde und sich dabei doch so flüssig wie ein spannender Roman lesen läßt.
Aktualisierung der Marxschen Gedanken durch Relektüre anhand gegenwärtiger Bedingungen – das ist nicht das Anliegen der ostdeutschen Forscherin. Morina geht es um Historisierung, um die Suche nach dem Ursprung der marxistischen Ideologie entlang erfahrungsgeschichtlicher Perspektiven.
Als Herangehensweise wählt sie die werkbiographische Darstellung von neun Denkern, die direkt nach Marx und Engels daran arbeiteten, aus deren epochalem Werk eine Weltanschauung für die Arbeiterbewegung zu gestalten. Das Gruppenporträt umfaßt Karl Kautsky und Eduard Bernstein, Rosa Luxemburg und Victor Adler, Jean Jau- rès und Jules Guesde sowie die Russen Georgi Plechanow, Peter B. Struwe und Wladimir Lenin. Diese Gründergeneration porträtiert die Autorin als Gruppe.
Das heißt: Das Buch gliedert sich nicht in einzelne Kapitel zu den jeweiligen Autoren wie dies viele klassische Sammelbände handhaben. Morina schreibt die gemeinsame Geschichte der neun Marxisten vielmehr in drei Etappen: Sozialisation, Politisierung, Engagement. Immer im Fokus steht die Rezeption des Marxschen Opus, der Zugang zu ihm, die unterschiedlichen Lektüreerfahrungen, der Versuch schließlich, diese Eindrücke vereinfacht politischen Gruppen als Lehrmaterial weiterzugeben.
Lenin schuf hierfür den durchaus treffenden Begriff »Marxpopularisatoren«. Alle Porträtierten waren in diesem Sinne ideal geeignet: Morina zeichnet u. a. die Bildungswege nach, die von erstaunlichen Leistungen geprägt waren; keiner der neun Köpfe sprach zudem weniger als vier Sprachen. Das lag natürlich auch daran, daß alle – in unterschiedlicher Abstufung – durchaus bürgerliche Lebensstile pflegten und Familien entstammten, die für entsprechende Bildungswege sorgen konnten.
Ein anderer Aspekt, der von Morina hervorragend akzentuiert wird, ist die These, wonach es sich bei der Entdeckung des Proletariats als universeller Kategorie durch und mit Marx um eine Denkfigur handelt, die man – mit einem variierten Benedict Anderson – als »imagined community«, als ideologisch konstruierte Gemeinschaft, bezeichnen könnte. Die marxistischen Intellektuellen lebten bisweilen in einer eigenen Sphäre des Exils und der Gruppendynamik, wo ihr an Marx geschulter Anspruch, immer konkret den Menschen und die ihn umgebenden Verhältnisse zu analysieren, häufig der ideologischen Projektion weichen mußte – mit allen mittel- und langfristigen Folgen für die entstehende marxistische Ideologie, die Christina Morina bei ihrer »Erfindung« begleitet.
Sie legt damit nicht nur ein Gruppenporträt urmarxistischer Denker vor, sondern schreibt zugleich auch die Mentalitäts- und Kulturgeschichte einer ganzen Generation als Entwicklungsroman. Ideengeschichte par excellence ist dieses Werk ohnehin.
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