Noch alle politischen Strömungen und kulturellen Richtungen wurden, hatten sie sich erst etabliert, schließlich doch spießig, plüschig und dekadent, Karikaturen ihrer selbst.
Alles verbraucht sich mit seiner Zeit. Revolutionäre Ansprüche verkamen zum Kitsch, Heroen schrumpften zu Gartenzwergen, aus Revoluzzern werden Angestellte. Nur hatte man sich das mit der einst jungen bundesdeutschen Linken lange nicht so vorstellen können, wie es sich neuerdings eindrucksvoll offenbart.
Die SPD, ja, schien immer schon ältlich und bieder kleinbürgerlich, eigentlich bereits zu Bebels Zeiten. Stehkragenproletarier, Arbeiteraristokratie, ernsthafte Forderungen, geschichtsbildend, aber ohne Sexappeal. Deshalb zog es die jungen expressiven Wilden und Bohemians der vorvorigen Jahrhundertwende auf der Suche nach politischem Chic eher zu den rabiaten Kommunisten und zur Restsüße Rosa Luxemburgs. Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und Gustav Noske hatten wohl die junge Republik gerettet, aber letztlich um den Preis, selbst als Renegaten zu gelten.
Sebastian Haffner schrieb später, diese führenden Sozialdemokraten wären nicht nur Verräter gewesen, sie sahen auch noch so aus. Und die vielen Redlichen in der SPD blieben bis in Ministerränge hinein, eben einfach nur redlich. Das ist ehrenwert, macht aber keinen an. Es gab in der SPD viel Zivilcourage und sogar Widerstand; dennoch wirkten viele Kommunisten kantiger, couragierter und widerständiger, ihr Blutzoll tragischer.
Die Sozialdemokratie blieb im Nachkriegsdeutschland die Partei jener, die gern zu den Besserverdienern gehört hätten, denen aber nun mal das Zeug oder leider das Vermögen dazu fehlte, so dass sie sich latent indigniert mit einfacherer Konfektion bescheiden mußten. Zukurzgekommene, die nach Gerechtigkeit, heute nach „Teilhabe“ rufen. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert sollte die noch mit hohem Ethos erarbeitet werden, heute aber will man sie bequemerweise gleich dekretiert wissen. Jedem ein Recht auf alles. Studium und zweite Bildungsweg kosteten durchaus Anstrengungen, die neue Abitur- und Studienverordnungen längst ausräumten. Bachelor wird jeder, der nicht geistig limitiert ist und morgens leidlich gut hochkommt. Offenbar motivierte frühere Ungerechtigkeit zuweilen stärker zur eigenen Leistungsbereitschaft.
Als Alternative zum Aufstieg hätten Bescheidenheit, gar Verzicht und Askese Größe, und gute Handwerker oder Facharbeiter galten lange als respektabel, aber Asketen oder einfache Leute wollten die Sozis kaum mehr sein, sie hielten nach Revision ihres früheren Maßes selbstbewußt die Hand auf und verlangten mindestens einen immer größeren Schluck aus der Lohnpulle. Verständlicherweise. Der Mumm wich der Wampe.
Dennoch wirkten die Genossen immer etwas verkniffen, nicht gleich so wie Herbert Wehner, der sinistre Ex-Kommunist, aber doch schon wie Ralf Stegner, der Linkssozialdemokrat, gern in der Geste kraftvoll, aber wegen Dauerfrust ohne erfrischendes Esprit und feinen Humor. Manchmal intellektuell, das schon, immerhin in Tradition der Arbeiterbildungsvereine, aber selbst das statt mit Klasse und Nonchalance eher mit christlichem Ernst, wie ihn etwa Johannes Raus personifizierte. Oder eben oberlehrerhaft, solange Bildung und Erziehung erstrebenswert schienen und die besseren Zeugnisse nicht wie gegenwärtig auf kultusministeriellen Erlaß hin inflationär ausgedruckt wurden.
Selbst Willy Brandt dozierte eher, als daß er leichthin beredt eine geistreiche Rhetorik feuilletonistischen Stils entwickelt hätte. Wer Willy heißen will, muß im Wort ja fester sein. Man hörte zu, weil der Mann Reputation hatte, weil er eben der große Herbert Frahm war, exilerfahren und couragiert. Beinahe wirkte das schnarrige patriarchalische Timbre seiner Stimme gewichtiger als sein Text. Der martialische Ton der „Wochenschau“ scheint in vielen Politikerreden des Nachkriegs noch lange nachzuhallen.
Während man Helmut Schmidt schon noch den einstigen Leutnant abnahm und er überdies eine eigenwillig proletarische Variante hanseatischer Arroganz zu entwickeln verstand, bei der von Frisur bis Zigarette alles stimmte. Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl war bei Schmidt durch nichts anzukränkeln, bei Schröder ebensowenig. Nachgeordnete Partei- und Gewerkschaftsredner bevorzugten hingegen weiter das Pastorale oder eben das proletarisch Deftige; sie wollten glaubwürdig ihre Leute vertreten, was in Ordnung ging, aber so richtig zündete es nicht mehr, weil in Ergebnis all der Aufstiege schließlich die Arbeiter selbst zu fehlen schienen.
Letzte echte Dynamik erreichten Linkssozialdemokraten in der Abrüstungsbewegung der Achtziger, versammelt um Epplers Baskenmütze. Vermutlich nahm man den Parteibürokraten nie so recht den Arbeiter ab, den sie noch mit Krawatte geben wollten. Immerhin gab es eine Weile lang eigenes Liedgut. Seit aber „Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘“ unfreiwillig komisch wirkte und die letzten Barden ausstarben, nachdem sie vorher zur DKP übergelaufen waren, bleiben nur solche Anleihen wie jüngst bei Grönemeyer.
Sicher, Lafontaine, der zündete, aber er war offenbar glaubwürdig mindestens eine saarländische Identifikationsfigur und wurde später – schon aus tiefer Verletztheit heraus – ein zorniger Demagoge, während sich sein späterer Genosse Gysi durchaus nuanciert auf die Pointe verstand, aber wiederum nicht auf mehr, ein geistreicher Schwätzer eben, ein Blender, klug und sensuell hellwach, der sich sofort aus der Verantwortung stahl, als er sie in Berlin mal kurz übernommen hatte – als Wirtschaftssenator, was freilich an sich schon ein Witz war.
Gysi, der Genußmensch, lohnte eine nähere Analyse, avancierte er doch zeitweise zur Stimme des von den Treuhand-Lokatoren gebeutelten Ostens. Mal einer, der reden konnte und den Wessis bei Talks die Show stahl. Gut für die Seele, ein Blues des Grand Old East, made in GDR. Aber Gysi ist mehr als Kämpfer vermutlich Narzißt, der der Bewunderung bedarf. Das gilt zwar für jeden Politiker, naturgemäß, aber Gysi wußte das geschickt zu verbergen oder war sich – schlimmer noch – dessen selbst nicht bewußt.
Etwas zurück: Bei der altlinken poststalinistischen, hinterm Eisernen Vorhang einkonservierten Konkurrenz wiederum degenerierte die gehärtete Lenin‑, Trotzki- und Stalin-Physiognomie des Kommunismus zur bräsigen Ulbricht‑, Breschnew- und Honecker-Schwundstufe. Bürokratie statt Budjonny. Die Politbürokomparsen der Sechziger, Siebziger und Achtziger wirkten, als wären sie schon frühalt auf die Welt gekommen und allzu zeitig fürs Mausoleum zurechtgemacht worden.
Die Präsidien der kommunistischen Bruderparteien des Ostblocks erschienen alle gleichermaßen wie aufgebahrt oder mindestens wie eine aufgeräumte gerontologische Station. Chopins Trauermarsch hätte spätestens seit den Achtzigern als Gesamthymne des Ostblock sehr passend geklungen. Und die Beisetzungen häuften sich ja: Athritischer Gang der Genossen über den Roten Platz, um immer mehr teuren Toten die letzte Ehre zu erweisen.
Junge Helden wuchsen indessen nicht nach, und die markigeren Gesichter und interessanteren Stimmen waren längst Opfer der großen Säuberungen geworden, die nur mittelmäßige Anpasser davonkommen ließen. Selbst einer wie Egon Krenz galt ja nicht wenigen als „Hoffnungsträger“! Nicht nur der linke Geist war sediert, auch die Konterfeis hatten diese unheimlich nichtssagende Anmutung. Sie sahen sich alle doch irgendwie ähnlich, ganz so wie die Brillenmodelle, die sie trugen. – Als mit Gorbatschow endlich ein etwas jüngerer Charakterkopf erschien, erwies der sich als Vollstrecker und riß das Weltreich aus Stahlbeton ein. Hätte Schostakowitsch noch gelebt, wäre dieser Untergang vielleicht Grundlage seiner sechzehnten Sinfonie gewesen.
Letzte Anziehungskraft, letzte Erotik und revolutionäre Hitze verströmte Kuba, passenderweise eine Karibikinsel: Fidel und Che jugendlich, urmännlich-testosteronig wirkend, Jeans und aufgeknöpfte Hemden, überhaupt nicht harmlos, sondern verdammt viril, Bart und schwarzes Haar auf der Brust, stilbildende Ikonen seit den abenteuerlichen Tagen in der Sierra: Che früh für die Sache gefallen und damit um so geeigneter als Objekt der Verklärung und auf ewig Symbol, Fidel selbst als Greis noch fidel im Adidas-Dress, beeindruckender Charismatiker, gerade in seiner widerständigen Ignoranz, von seinen kleinformatigeren lateinamerikanischen Wiedergängern oft kopiert, aber nie erreicht.
Alle Achtung, er hielt sich, blieb sich treu und nahm sich selbst mit Whiskyglas und Cohiba Robusto wie der nicht anders zu denkende Werbeträger für ein Label aus, das zwar die besten Zeiten hinter sich hatte, aber doch wenigstens noch nostalgisch im Retro-Look die Hintergrundstrahlung der gescheiterten Idee ahnen ließ. Tragisch ja, aber Tragik hat nun mal Größe. Man denke an die uralten Autos der Marke „Wolga“, die noch immer durch Havannas Verkehr schwimmen. Ja, das hat was, spürt der Westtourist.
Die deutsche Nachkriegslinke jedoch: Man erinnert sich an Dutschkes schmissigen Scheitel, an seinen ausdrucksvollen, etwas gehetzten Blick neben den tiefen traurigen Augen Ernst Blochs, man erinnert sich der grobkörnig wirkenden Fahndungsplakate mit RAF-Terroristen – junge Radikale, alles Bürgerliche von sich geworfen, auf Gedeih, vor allem aber auf Verderb untergetaucht, kreuzgefährlich, aparte Frauen dabei, blutjung, aber allzu früh mythisch nachgedunkelt, existentialistisch wirkend, entschlossen zum Allerletzten.
Ja, kriminell, verbrecherisch, tendenziell gar psychopathologisch, riskant lebend bis in den Selbstmord, aber doch mit bitterster Konsequenz, Bankräuber, Kidnapper, Killer gar, völlig Verlorene, stürzende finstere Engel, die still noch im Knast Pahl-Rugenstein-Bände lasen und intellektuell-revolutionäre Pamphlete für die versprengten Getreuen da draußen verfaßten. Schon dieser Begriff: Gefangene. Huh, da klang Schicksalsschwere mit, die man erst mal tragen mußte. Selbst linke Verbrecher haben zuweilen in Schuld und Scheitern Format. Was aber hat Claudia Roth?
Man kann zu diesen Outlaws stehen, wie man will: Sie waren gefährliche Gegner der „demokratischen Grundordnung“. Und sie sahen wirklich so aus. Heiliger Ernst, Fanatismus, Apokalyptiker im Spätkapitalismus. Im Vergleich dazu erscheinen die Grünen und Neulinken als das, was sie offenbar sein möchten, als ein Kinderladen, der gern unter sich ist, um sich einen utopistischen Budenzauber vorzumachen. Jüngst kam Greta dazu. Sie paßt. Jede Bewegung generiert nicht nur ihre Botschaften, sondern über die eigene Ästhetik und Bildwelt hinaus sogar ihr Antlitz. Man schließe die Augen und flüstere das Wort „Veganer“. Es bildet vorm inneren Auge sogleich ein spezieller morphologischer Typus aus. Ein Klischee, mag sein, aber auch ein Klischee folgt einem Wesen. Man kann das übrigens mit allerlei Leitbegriffen ausprobieren, die Menschen politisch oder im Sinne von Lifestyle auf sich beziehen … – (Was sieht man bei „Europäer“? Jean-Claude Juncker? Oder doch Prinz Eugen und den wackeren Johann Sobieski?)
Wer distanziert bleibt und nicht grün mitspielen will, wer eben Schwierigkeiten mit all den ausgemachten Regeln zu Diskursethik, Lebensweise, Geschlecht, Ernährung hat, wem es einfach an dieser spezifischen Sorte linksgrünen Hurra-Optimismus fehlt, der gilt als böse, böse, böse. Das aber ist um so schlimmer, da den linksgrünen Meinungsbildnern und politisierenden Helikopter-Eltern schon der größte Teil der Nationalgeschichte als schlimm düsteres Terrain einer endlich durch die Sonnenblumenkinder aufgehellten Wolfszeit erscheint. Und überhaupt Nation! Faschistoid! Nation bedeutet Krieg! Und Vaterland? Sexistischer Sprachgebrauch.
Preußisches Schnätteretäng, von dem man doch weiß, wohin es führte! Was aber ist mit dem Wort Muttersprache? Wenn es noch akzeptabel sein sollte, dann nur mit allen ausgleichenden und Teilhabe sichernden Neukonstruktionen, derer sich schon „Studierende“ befleißigen müssen. Die Grünen wollen – wie alle Linken mit der Genetik der Aufklärung und des deutschen Idealismus – vor allem erziehen. Sie kommen der Gesellschaft mit Didaktik, weil sie ja verbessert werden soll.
Wen würden solche Literaten wie Arno Schmidt oder Thomas Bernhard heute als die neuen Spießer und altbackenen Stagnateure ausmachen und attackieren? Ihre Unflätigkeiten und Suaden kamen in den Nachkriegsjahrzehnten unweigerlich von links. Nachvollziehbar, denn die jungen Bundesrepublik hatte, so Böll, nun mal tatsächlich ein altes Gesicht. Aber Autoren, die von links aus heutzutage etwas Gewitztes oder gar erfrischend Neues eintragen, sind derzeit überhaupt nicht auszumachen.
Klar, es gibt selbsterklärte linke Autoren, in großer Zahl sogar. Nur eben keinen darunter, der aus seiner Welt-Anschauung heraus große Literatur hervorbringt. Gerade das erscheint symptomatisch. Das Linke ist über sich selbst hinaus nicht mehr stilbildend, ihr philosophischer Impuls verebbte, die Künste, lange Zeit links inspiriert, kommen ohne ideologische Spannung aus oder suchen sich Anleihen eher im Dystopischen als Utopischen. Die Linke entwirft entweder irren Illusionismus oder sie quengelt, weil so viele ewig Gestrige sich ihrer schönen neuen Welt nicht jubelnd anschließen wollen, obwohl das „vernünftigerweise“ nach ihrer Überzeugung ein spätaufklärerischer Selbstläufer sein müßte.
Um so bedrückender mutet an, wie es der überlebten linksgrünen Leitkultur gelang, dem eher neoliberal bestimmten Neubürgertum eine sich positiv gebende Selbstlegitimation zu verpassen, im Dauermantra von Toleranz, Buntheit, Gerechtigkeit, Inklusion statt Exklusion, Teilhabe von allen und jedem, Weltoffenheit, Weltbürgertum und Flüchtlingshilfe. Selbst die härtesten Ausbeuter sind neuerdings dafür und tönen von universellen Menschenrechten. – Je mehr diese Begriffe aber auf ihre Semantik hin geprüft werden, um so deutlicher wird, daß wir offenbar wieder vor einer kulturellen Wende stehen – mit großen Chance, aber gleichsam wachsenden Gefahren.
Gotlandfahrer
Physiognomie folgt Charakter, und die protagonistischen Charakteure folgen dem mimetischen Zyklus: Aufbau, Ordnung, Dekadenz, Zerfall. Claudia Roth ist eine Figur die am Übergang von Dekadenz zum Zerfall hochgespült wird.