verantwortungslosen politischen Führung der letzten dreißig Jahre, die ihre Rente in dem Bewußtsein zu verprassen nun ansetzt, daß es für sie noch reichen wird; angesichts der sitzenden Schimpfer – selbst die jungen Hartz IV-Empfänger schimpfen sitzend, bei Laune gehalten durch ein warmes Wohnzimmer, Nachschub an Fraß und Flüssigem, eine Spielkonsole, Fernseher, DVD-Gerät und der Möglichkeit, dank der Pille folgenlos die Restenergie über der Freundin zu entladen; angesichts der gescheiterten und der nie gemachten Experimente eines zersplitterten, personell und materiell schwachen rechten Flügels unserer politischen Landschaft; weiterhin angesichts der Krise, die eine grundlegende Veränderung der Tonlage im Land notwendig macht; angesichts der verrinnenden Zeit – ständig läuft jemandes Zeit ab: die der nie gezeugten, die der ungeboren gemordeten, die der jämmerlich erzogenen Kinder: Es ist jedesmal die Vorbereitungszeit auf die Zukunft Deutschlands, die da verstreicht, ohne daß etwas Zukunftsträchtiges geschähe; angesichts dieser Lage also sollte vor einer Umwälzung der Verhältnisse keine Angst herrschen. Das Grausen sollte uns nur dann packen, wenn wir feststellen müssen, daß unser Volk – und das sind in diesem Fall die jungen Männer und Frauen – keine Kraft mehr zu einer Umwälzung hat.
Karlheinz Weißmann beschreibt in seinem Beitrag über das „Lob der Krise“ (S. 8 – 12) mit Jacob Burckhardt die Krise als fiebrigen Zustand. In ihm müsse sich erweisen, ob für eine Genesung noch genügend Kraft im kranken Körper steckt. Im kritischen Zustand werden also stets zwei Wege sichtbar. Der eine führt nach vorn und erprobt das Neue, der andere verweist zurück in einen Zustand des Sich-Dreinschickens: Zwar ist der Moment der Krise überstanden, das fiebrige Gefühl verflogen; an seinen Platz aber ist kein neues Leben, sondern bloß erneutes, halbzufriedenes Siechtum getreten.
So ist der kritische Zustand der Moment des Möglichen: Möglich ist, was vorher unvorstellbar war. Die Krise bedrängt, bedroht den Kranken und weckt seinen Mut, ins Unvorhersehbare abzuspringen: Nur kein Rückfall ins Siechtum, ins Latente, ins Erdulden! Und so beseitigt die Krise auch die „ganz unverhältnismäßig angewachsene Scheu vor ‚Störung‘ und bringt frische und mächtige Individuen hervor.“ Dann ist kein Halten mehr, dann „pflanzen sich die aufrührerischen Ideen wie im Funkenflug fort, finden sich überall Mutige, die den Angriff auf die eben noch uneinnehmbaren Bastionen wagen, bricht sich ein Enthusiasmus des Anfangs Bahn und wird die Beseitigung des gerade noch allgemein Anerkannten ohne Zögern ins Werk gesetzt“ (Weißmann, S. 11).
Was sich wie eine physikalische oder biologische Gesetzmäßigkeit liest, ist keinesfalls ein zwangsläufiger Prozeß: Was geschieht, wenn der Drang nach Genesung, nach einem Sprung ins Offene, nach Erneuerung, nach Umwälzung nicht stark genug ist? Was, wenn die Sicherheitsdenker – die dem Durchwurschteln, dem kleinen Leben etwas abgewinnen können – den Schritt nach vorn verhindern? Wenn das Volk, die Mehrheit, die Gesellschaft träge und schwer keinen Ruck verspüren, sondern weiterblinzeln möchte? Auch dann ändert sich die Lage: etwas geschieht. Es fällt da keine Entscheidung, es handelt da niemand und es steht nicht die nach vorn gerichtete Frage im Raum: „Was werden wir tun, um die Krise zu überwinden?“. Vielmehr läßt ein Volk, eine Gesellschaft einfach etwas geschehen, läßt etwas mit sich machen und duldet amorph. Dies ist der Moment, in dem uns das Grausen packt.
Doch so weit ist es noch nicht. Die Krise unserer Nation und darüber hinaus unseres Kulturkreises wird in ihrem ganzen Ausmaß gerade erst sichtbar, die ersten Fieberschübe haben Rufe nach den Tatkräftigen laut werden lassen: Selbständige, Kinderreiche, Hochbegabte, Arbeiter ohne Krankentage, sie alle sollen’s richten, sollen einen Karren, unseren Karren aus dem Dreck wuchten und als Leitbilder andere anspornen, sich mit vorzuspannen. Plötzlich ist da ein „Wir“, plötzlich ist man „Deutschland“, jeder einzelne zwar vor allem für sich, aber doch alle zusammen auch für die vielen Ichs, für ein buntes Wir, weil’s von uns Normalbürgern einer alleine nicht packen kann.
Merkt denn keiner, wie es die Macher solcher Kampagnen anekelt, daß sie dieses „Wir“, dieses halb totgeschlagene „Wir“, wieder reanimieren müssen? Hört denn keiner, daß es dieselben Stimmen sind, die heute von Zusammenhalt, von Solidargemeinschaft, von nationalem Aufbruch sprechen, und die doch gestern und die letzten dreißig Jahre überhaupt an diesem Land, an Deutschland kein gutes Haar lassen konnten? Die sich als gutbezahlte, narrenfreie Aufseher über die ewig unberechenbare, ewig bescheuerte deutsche Nation sahen und sehen? Die konsterniert über den Ausbruch kollektiver Macht in den Tagen und Jahren der Widervereinigung für eine Weile nicht wußten, ob ihr Fähnchen jemals wieder würde im Wind flattern dürfen, und die durchatmeten, als sich die Begeisterung und die Opferbereitschaft endlich legten und der Dunst eines rigiden Meinungsklimas westdeutschen Zuschnitts auch in den neuen Ländern in jede Gehirnfalte sich zu senken begann? Spürt also keiner, daß die Verantwortlichen für die Zerrüttung Deutschlands einfach noch ungestört davonkommen wollen, wohl wissend, daß all die Fülle, in der sie trotz Nachkrieg und deutscher Teilung groß werden durften, auf Jahrzehnte verschleudert, die geistigen Grundlagen für eine Regeneration unter Eimern von Jauche erstickt und verrottet sind?
Weil wir aber dieses verantwortungslose Intellektualisieren, dieses experimentelle Politisieren, dieses perfide Denunzieren, dieses satte Spötteln über den deutschen Michel; weil wir die listige Absicht, der Krise scheinbar abzuhelfen und das Fieber künstlich zu senken, durchschauen und die halb gelangweilten, halb beunruhigten Akteure kennen; weil wir also einen Gegner haben, ist es an uns, die Krise als Chance zu nutzen, die Begriffe zuzuspitzen und den Gegner zu kennzeichnen. Provokation ist dafür das geeignete Mittel.
Natürlich ist „Provokation“ ein Modebegriff, ein ausgequetschtes Wort; viele, nicht alle Künstler, Querdenker, In-Denker, Vordenker provozieren bewußt und dosiert oder hemmungslos, je nach Selbstentwurf und Marktnische. Die Netzseite www.provocation.ch stellt Fragen: „Ist Provokation ein legitimes Mittel, um in unserer Gesellschaft etwas zu verändern oder nur eine strategische und verkaufsfördernde Maßnahme? Muß man heute provozieren, um noch wahrgenommen zu werden? Was erregt die Menschen im Zeitalter der Tabubrüche noch? Wer läßt sich provozieren, was sind die Regeln und welche Rolle spielen dabei die Kunst und die Medien?“
Vieles läßt sich leicht beantworten: Angesichts des Zustands unseres Lands ist praktisch jedes Mittel legitim, das zu Veränderungen führt. Provokation muß, wenn sie der Auftakt zu Umwälzungen sein will, als Baustein innerhalb einer Strategie ihren Platz haben. Sie ist oft das einzige Mittel der Schwachen: Wer über Machtmittel verfügt, drückt, was er möchte, einfach durch, erzählt, was er möchte, einfach auf allen Kanälen. Wer keine Macht hat, bereitet sich lange und gründlich vor, studiert die Reflexschemata des Medienzeitalters und erzwingt durch einen Coup öffentliche Wahrnehmung. Denn daran muß sich der Provokateur messen lassen: Was nicht in den Medien war, war nicht. Für die stille Bildungsarbeit mögen andere Gesetze gelten: Provokationen leben von der Wahrnehmung, denn ihr Ziel ist, eine Reaktion (und sei es nur die Verblüffung) hervorzurufen.
Wahrgenommen wird das Unerwartete, wahrgenommen wird der gezielte Regelverstoß, wahrgenommen, zwingend wahrgenommen wird die bewußte oder unbewußte Verletzung der Tabus, die auch unsere derzeitige, nur scheinbar nach allen Seiten offene Herrschaftsstruktur absichern, bewehren. Im kommunikativen Bereich, dem „miteinander Reden“ (dem Kernstück demokratischer Verfaßtheit also), sind der Konsensdiskurs und Folgenlosigkeit tabubewehrt. Der Konsensdiskurs ist die flächendeckende talkshow, die Christiansenisierung der Gesellschaft: Über fast alles wird geredet, nichts wird entschieden, Konsens auf einem Minimalnenner ist stets und unausgesprochen der Zielpunkt. Die Folgenlosigkeit ist die zweite Grundvoraussetzung solcher Zusammenkünfte. Sie ist der sichere Ausweg für jeden, der von zuviel Ernst in die Enge getrieben wird. Nie konkret werden, die Dinge einfach einmal ungeschützt dahersagen, so frei von der Leber weg mal ein paar Ideen haben: Wer den Unernst dieser sanften Denker nicht als Spielregel begreifen, nicht stehenlassen will, findet auf den Sofas der Konsensrunden keinen Platz.
Und so ist denn auch die Provokation vieler Künstler, Quer‑, In- und Vordenker von der, über die wir sprechen, zu unterscheiden. Für jene ist Provokation der Versuch, eine Einladung an die Futtertröge zu erhalten. Für uns ist Provokation kein Ich-Projekt, keine Verkaufsstrategie, und die Hoffnung auf den Einbau in den satten Diskurs gäbe all unser Tun der Lächerlichkeit preis. Unser Ziel ist nicht die Beteiligung am Diskurs, sondern sein Ende als Konsensform, nicht ein Mitreden, sondern eine andere Sprache, nicht der Stehplatz im Salon, sondern die Beendigung der Party. Provokation ist das Hinweisschild an unerwarteter Stelle, ist ein Zündeln am Holzstoß, der Holzstoß bleiben oder Signalfeuer werden kann, ist die Heimsuchung derer, die nicht gestört werden wollen. Und diese Furcht vor Störung, Unruhe, kennzeichnet die heraufziehende Krise. Ungebeten wird das sein, was wir tun sollten. Ungebetene Gäste mit unerwünschten Fragen erscheinen am konsensschwangeren Ort und konfrontieren den unangestrengten Star inmitten seiner Heimspiel-Atmosphäre. Wann zuletzt wurde, um einmal konkret zu werden, Jürgen Habermas vor Publikum und völlig unerwartet mit dem konfrontiert, was er vor dreißig Jahren sehenden Auges zur experimentellen Umsetzung am lebenden Objekt „Deutschland“ empfahl? Wann zuletzt schlug ihm nicht nur erwartungsloses Wohlwollen entgegen, sondern plötzlich und ungebeten so etwas wie Verachtung oder echter Mangel an Versöhnung? Wann zuletzt fühlte dieser Mann sich wirklich gestört, verunsichert, angekratzt? Weiß jemand, wann das war? Weiß jemand, ob dies je so war? Jedenfalls wird es Zeit dafür.
Neben der Wirkungsrichtung unserer Provokation nach außen (mit den Zielen Zuspitzung, Konfrontation, Aufmerksamkeit), gibt es ebenso eine Wirkungsrichtung nach innen. Sie zielt auf Beispiel, Mobilisierung und Rekrutierung. Eine gelungene provokante Aktion ist ein Beispiel für Kreativität, Organisationsfähigkeit und Durchsetzungskraft. Im günstigen Fall mobilisiert sie Nachahmer oder originelle Kräfte und weckt ein Milieu, eine Szene aus der Lethargie oder aus einem an dandyesken Vorbildern geschulten Defätismus. Das wichtigste jedoch ist die Rekrutierung Unentschlossener und Suchender. Wenn das politische Angebot der Bundesrepublik eine Messehalle ist: die Präsentation nationaler Ware jenseits des Diskurskonsenses hat ihren Platz hinter einer Klotür, anderswo war – nach Auskunft der Betreiber – kein Stand mehr frei. Provokation bedeutet in diesem Fall, den Stand zu verlassen und als lebende Wegweiser die Halle zu durchkämmen. Dort stehen junge Männer und Frauen fremd vor den Prachtbuden der Parteien, Meinungsmacher, Lobbyisten und Säulenheiligen und versuchen ihre Fragen mit den unernsten Antworten des Diskurskonsens-Milieus abzusättigen. Aber stets bleibt ein Gefühl von Unterernährung. Und damit ist genug gesagt.