“Ich kann das Wort Gesellschaft nicht mehr hören”

PDF der Druckfassung aus Sezession 83/April 2018

Sezes­si­on: Es wun­dert mich, daß Sie noch nie­mand auf die aktu­el­le #MeToo-Hys­te­rie ange­spro­chen hat. Oder habe ich da etwas ver­paßt? Wie schät­zen Sie die­se Debat­te ein?

Paglia: Ich wer­de unun­ter­bro­chen von ame­ri­ka­ni­schen und inter­na­tio­na­len Medi­en um einem Kom­men­tar gebe­ten, habe mich bis­lang aber gewei­gert, weil ich seit drei Jahr­zehn­ten über die­se Din­ge spre­che und ehr­lich gesagt kei­ne Geduld mehr mit der Dumm­heit und der Nai­vi­tät des übli­chen Dis­kur­ses über die­ses The­ma habe. Für den Hol­ly­wood Repor­ter (hollywoodreporter.com) habe ich Ende Febru­ar nun doch eine län­ge­re Stel­lung­nah­me abgegeben.

In die­ser Skan­dal- und Publi­ci­ty – Orgie sind ver­schie­de­ne Pro­ble­me mit­ein­an­der ver­mischt wor­den. Anlaß waren die Ent­hül­lun­gen über die lang­jäh­ri­gen sexu­el­len Über­grif­fe des füh­ren­den Hol­ly­wood-Pro­du­zen­ten Har­vey Wein­stein, dar­un­ter Vor­fäl­le, die von einem bestür­zend infan­ti­len Exhi­bi­tio­nis­mus zeu­gen. Vor allem wur­de die Heu­che­lei von weib­li­chen Stars wie Meryl Streep, Oprah Win­frey und Gwy­neth Palt­row auf pein­li­che Wei­se ent­larvt. Die­se Frau­en, die wie vie­le ande­re Wein­stein öffent­lich den Bauch gepin­selt und ihn gera­de­zu ange­be­tet hat­ten (Streep nann­te ihn »Gott«), hat­ten sich jah­re­lang auf anma­ßen­de Art als ultra-libe­ra­le Femi­nis­tin­nen aufgespielt.

Alle drei hat­ten offen­sicht­lich vie­le sex­be­zo­ge­ne Gerüch­te über Wein­stein gehört, aber sich nie­mals die Mühe gemacht, ihnen nach­zu­ge­hen oder ihn damit zu kon­fron­tie­ren. Sie haben dadurch fahr­läs­sig vie­le jun­ge und uner­fah­re­ne Schau­spie­le­rin­nen schutz­los an Wein­stein aus­ge­lie­fert. Ich habe die­ses Fias­ko unge­mein genos­sen, weil ich es has­se, wie die ame­ri­ka­ni­schen Medi­en Streep rou­ti­ne­mä­ßig als »die größ­te Schau­spie­le­rin der Welt« bezeich­nen – wäh­rend sie in Wahr­heit eine geküns­tel­te, ego­zen­tri­sche Ange­be­rin ist und ihr auf der Lein­wand jeg­li­che emo­tio­na­le Tie­fe fehlt (ich hal­te Judi Dench, Helen Mir­ren oder Jane Fon­da für weit­aus grö­ße­re Schauspielerinnen.)

Sezes­si­on: Hat denn #MeToo abseits des Pro­mi­nen­ten­klatschs irgend­ei­ne Bedeutung?

Paglia: Die #MeToo-Bewe­gung wur­de vor zwölf Jah­ren von der afro­ame­ri­ka­ni­schen Bür­ger­recht­le­rin Tar­a­na Bur­ke gegrün­det. Sie kon­zen­trier­te sich auf Über­grif­fe, die macht­lo­se schwar­ze Arbei­te­rin­nen an Schu­len und am Arbeits­platz erdul­den müs­sen. Die Aneig­nung des Schlag­wor­tes auf Twit­ter durch die unbe­deu­ten­de Schau­spie­le­rin Alys­sa Mila­no im Zuge der Wein­stein-Kon­tro­ver­sen war gut gemeint, ver­zerr­te aber rasch sei­ne ursprüng­li­che Bedeu­tung. Inzwi­schen ist die #MeToo- Bewe­gung zu einem chao­ti­schen Sam­mel­be­cken für alle mög­li­chen Wid­rig­kei­ten und Ent­täu­schun­gen gewor­den, die pri­vi­le­gier­te wei­ße Frau­en aus der Mit­tel­klas­se nicht nur am Arbeits­platz, son­dern auch in ihrem Lie­bes­le­ben erlit­ten haben. Es gab eine Flut an anony­men, unbe­grün­de­ten Ankla­gen, wobei sich eini­ge auf Gescheh­nis­se berie­fen, die 20 oder 30 Jah­re zurück­lie­gen. Die­se erhitz­te Atmo­sphä­re kol­lek­ti­ver Ent­rüs­tung ist voll­kom­men unver­ein­bar mit den Stan­dards ratio­na­ler Gerech­tig­keits­su­che in einer moder­nen Demo­kra­tie. Auch Män­ner haben gesetz­li­che und mora­li­sche Rechte.

Sezes­si­on: Sie bil­li­gen der Bewe­gung also einen legi­ti­men Kern zu? Was ist hier schiefgelaufen?

Paglia: Ich neh­me das The­ma sexu­el­le Beläs­ti­gung sehr ernst: 1986 habe ich die Lei­tung mei­ner Kunst­hoch­schu­le in Phil­adel­phia gedrängt, dies­be­züg­lich ver­nünf­ti­ge und mode­ra­te Richt­li­ni­en zu über­neh­men, die von mir und mei­nen Stu­den­ten in mei­nem Kurs »Frau­en und Geschlech­ter­rol­len« ent­wi­ckelt und debat­tiert wor­den waren. Die Eta­blie­rung grund­le­gen­der Prin­zi­pi­en erschien uns rat­sam, nicht zuletzt ange­sichts des Gra­des an täg­li­cher phy­si­scher Inti­mi­tät, die in den dar­stel­len­den Küns­ten not­wen­dig ist, ins­be­son­de­re, was Tanz und Thea­ter betrifft, aber auch in der Musik: wenn zum Bei­spiel ein Cel­lo­leh­rer den Kör­per einer Stu­den­tin mit sei­nen Armen umfas­sen muß, um ihr die kor­rek­te Art der Bogen­füh­rung zu zeigen.

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