Sezession: Es wundert mich, daß Sie noch niemand auf die aktuelle #MeToo-Hysterie angesprochen hat. Oder habe ich da etwas verpaßt? Wie schätzen Sie diese Debatte ein?
Paglia: Ich werde ununterbrochen von amerikanischen und internationalen Medien um einem Kommentar gebeten, habe mich bislang aber geweigert, weil ich seit drei Jahrzehnten über diese Dinge spreche und ehrlich gesagt keine Geduld mehr mit der Dummheit und der Naivität des üblichen Diskurses über dieses Thema habe. Für den Hollywood Reporter (hollywoodreporter.com) habe ich Ende Februar nun doch eine längere Stellungnahme abgegeben.
In dieser Skandal- und Publicity – Orgie sind verschiedene Probleme miteinander vermischt worden. Anlaß waren die Enthüllungen über die langjährigen sexuellen Übergriffe des führenden Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein, darunter Vorfälle, die von einem bestürzend infantilen Exhibitionismus zeugen. Vor allem wurde die Heuchelei von weiblichen Stars wie Meryl Streep, Oprah Winfrey und Gwyneth Paltrow auf peinliche Weise entlarvt. Diese Frauen, die wie viele andere Weinstein öffentlich den Bauch gepinselt und ihn geradezu angebetet hatten (Streep nannte ihn »Gott«), hatten sich jahrelang auf anmaßende Art als ultra-liberale Feministinnen aufgespielt.
Alle drei hatten offensichtlich viele sexbezogene Gerüchte über Weinstein gehört, aber sich niemals die Mühe gemacht, ihnen nachzugehen oder ihn damit zu konfrontieren. Sie haben dadurch fahrlässig viele junge und unerfahrene Schauspielerinnen schutzlos an Weinstein ausgeliefert. Ich habe dieses Fiasko ungemein genossen, weil ich es hasse, wie die amerikanischen Medien Streep routinemäßig als »die größte Schauspielerin der Welt« bezeichnen – während sie in Wahrheit eine gekünstelte, egozentrische Angeberin ist und ihr auf der Leinwand jegliche emotionale Tiefe fehlt (ich halte Judi Dench, Helen Mirren oder Jane Fonda für weitaus größere Schauspielerinnen.)
Sezession: Hat denn #MeToo abseits des Prominentenklatschs irgendeine Bedeutung?
Paglia: Die #MeToo-Bewegung wurde vor zwölf Jahren von der afroamerikanischen Bürgerrechtlerin Tarana Burke gegründet. Sie konzentrierte sich auf Übergriffe, die machtlose schwarze Arbeiterinnen an Schulen und am Arbeitsplatz erdulden müssen. Die Aneignung des Schlagwortes auf Twitter durch die unbedeutende Schauspielerin Alyssa Milano im Zuge der Weinstein-Kontroversen war gut gemeint, verzerrte aber rasch seine ursprüngliche Bedeutung. Inzwischen ist die #MeToo- Bewegung zu einem chaotischen Sammelbecken für alle möglichen Widrigkeiten und Enttäuschungen geworden, die privilegierte weiße Frauen aus der Mittelklasse nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch in ihrem Liebesleben erlitten haben. Es gab eine Flut an anonymen, unbegründeten Anklagen, wobei sich einige auf Geschehnisse beriefen, die 20 oder 30 Jahre zurückliegen. Diese erhitzte Atmosphäre kollektiver Entrüstung ist vollkommen unvereinbar mit den Standards rationaler Gerechtigkeitssuche in einer modernen Demokratie. Auch Männer haben gesetzliche und moralische Rechte.
Sezession: Sie billigen der Bewegung also einen legitimen Kern zu? Was ist hier schiefgelaufen?
Paglia: Ich nehme das Thema sexuelle Belästigung sehr ernst: 1986 habe ich die Leitung meiner Kunsthochschule in Philadelphia gedrängt, diesbezüglich vernünftige und moderate Richtlinien zu übernehmen, die von mir und meinen Studenten in meinem Kurs »Frauen und Geschlechterrollen« entwickelt und debattiert worden waren. Die Etablierung grundlegender Prinzipien erschien uns ratsam, nicht zuletzt angesichts des Grades an täglicher physischer Intimität, die in den darstellenden Künsten notwendig ist, insbesondere, was Tanz und Theater betrifft, aber auch in der Musik: wenn zum Beispiel ein Cellolehrer den Körper einer Studentin mit seinen Armen umfassen muß, um ihr die korrekte Art der Bogenführung zu zeigen.