Zu den Klassikern der französischen Résistance-Literatur gehört Joseph Kessels Roman Armee im Schatten (fr. Original: L’armée des ombres, verfaßt 1943). Darin dirigiert ein gewisser Luc Jardie seine Kommandos im besetzten Frankreich. Ein scheuer, unpraktischer Intellektueller, der nur in die Welt der Bücher zu gehören scheint, der aber neben gepflegter Konversation zu einer tiefen Menschenkenntnis sowie gnadenlosen Strategie fähig ist. Von allen wird er liebevoll »Saint Luc« genannt. Und alle gehorchen ihm aufs Wort. Für ihn wird gestorben, für ihn wird getötet.
Ob es solch eine Rolle gewesen sein mag, die sich der Deutsch-Baske Federico Krutwig Sagredo (1921–1998) für das eigene Leben gewünscht hätte, ist nicht mehr auszumachen. Federico Krutwig Sagredo gehört zu den intellektuellen Vätern der baskischen Terrororganisation Euskadi Ta Askatasuna (ETA; baskisch für »Baskenland und Freiheit«), von der er sich de facto, nie de jure, wie er sagt, bereits sehr früh wieder getrennt hatte. Er ist kein Giangiacomo Feltrinelli, auch keine Ulrike Meinhof. Sein Gastspiel in den Konfliktszenarien der 60er und 70er Jahre ist eher kurz und marginal.
Letzteres war auch das umkämpfte spanische Baskenland der Franco-Ära, um das es ihm zeitlebens ging. Seine larmoyanten Quasi-Memoiren Años de peregrinación y de lucha muß man nicht gelesen haben, ebenso wenig das Werk, das ihn am längsten mit der ETA verbinden sollte, Vasconia. Weshalb allerdings doch der eine oder andere seiner Gedanken für unser Heute verwertbar ist, hängt mit seiner frühen Warnung vor der Entkoppelung einer Widerstandsorganisation von breit- gefächerten strategischen Ausrichtungen zusammen. Träte dies nämlich ein, würde aus Widerstand sehr schnell Verbrechen. Die Geschichte der ETA, die von einer jugendlich-idealistischen Widerstandsbewegung mit Sympathien über das Baskenland hinaus zu einer fanatischen Assassinen- Sekte herabsank, scheint ihm Recht zu geben.
I. Der lange Marsch zum Anfang: Baskischer Widerstand vor ETA
ETA ist ohne die Vorgeschichte des baskischen Nationalismus im 19. Jahr- hundert nicht zu denken. Viele seiner Reflexe und ideologischen Vorgaben hat sie später übernommen. Die Galionsfigur von damals war Sabino Arana Goiri (1865–1903), dem man gern auch den Beinamen »baskischer Bolívar« verleiht. Der Sohn einer wohlhabenden alteingesessenen Familie aus Bilbao widmete sein Leben der ideologischen Grundierung des bas- kischen Nationalgefühls. Dieses wurde bis dahin vor allem von den Jesuiten am Leben gehalten, aus deren Reihen auch die erste Grammatik des Euskara, der baskischen Sprache, stammt, einer Sprache, die nicht zur indogermanischen Familie gehört und bis dahin kaum schriftliche Quellen aufweisen konnte.
Es war denn auch in einer Schule der Jesuiten, dem Kolleg Santa María de Orduña, wo der junge Sabino Arana mit der Geschichte und den Legenden des baskischen Volkes bekannt gemacht wurde. Hier formte sich sein Weltbild aus baskischem Ethnozentrismus, ja Rassismus und streng antimoderner katholischer Religiosität. Die Societas Jesu, überhaupt die Kirche des Baskenlandes, sollte viel später eine ähnlich wahrnehmbare Rolle bei der Neukonstituierung des jugendlichen baskischen Nationalismus spielen. Fast alle der ersten Gründer und Mitglieder der ETA waren tief religiöse Menschen und hatten kirchliche Schulen durchlaufen. Krutwig Sagredo wird sich später wundern, wie penibel manche die Fasttage einhielten. Die V. Versammlung der ETA, bei der er als Referent auftreten sollte, wurde in einem Exerzitienhaus der Jesuiten abgehalten.
Sabino und sein Bruder Luis propagierten bald den unversöhnlichen Gegensatz von altem baskischen Selbstbehauptungswillen, symbolisiert in den frühmittelalterlichen Fueros, den Sonderrechten aus den kantabrischen Bergen und allem, was von außen hereinkam. Dazu zählten die Ideale der Französischen Revolution und des aufkommenden Sozialismus ebenso wie die neue Form des Kapitalismus, in dessen Fahrwasser, neben dem Sittenverfall, Scharen von Einwanderern aus den ärmeren Regionen Spaniens nach Euskadi (baskische Bezeichnung für das Basken- land) drängten. Mit ihnen wurde eine Gefahr akut, die später auch bei den ersten ETA-Aktivisten stets im Vordergrund stehen sollte: das Ver- schwinden der baskischen Sprache und mit ihr der baskischen Kultur durch Masseneinwanderung.
Und so verstand Sabino Arana seine Bemühungen auf publizistischem Gebiet als Weckruf, als Alarmglocke, die vom Todeskampf künden, vor dem nahenden Ende warnen und alle nationalen Kräfte vereinen sollte. Als Banner kreierte er die Ikurriña, die baskische Fahne. Daß im Wort Agonie der Kampf steckt, war für ihn, der immer von einem Kampforden nach jesuitischem Vorbild geträumt hatte, wesentlich. Hierfür schuf er im Jahr 1894 das Sammelbecken Euskaldun Batzokija, das ein Vorläufer der heute noch existierenden Partei Partido Nacionalista Vasco, kurz PNV oder baskisch EAJ war. In ihrem Schatten wuchs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Jugendorganisation heran, die ein überraschend dynamisches und bald auch todbringendes Eigenleben an den Tag legte.
II. Der baskische Gott Mars: Gewalt als Katharsis und Selbstläufer
Die Geschichte der ETA ist auch die Geschichte eines Generationenkonflikts. Es ist die Geschichte einer politisierten baskischen Jugend, welche den Spanischen Bürgerkrieg mitsamt dem franquistischen Nachspiel nicht mehr miterlebt hatte und das Zaudern der alten Parteikader nicht mehr verstehen wollte. Dabei hatte alles so harmonisch begonnen.
Nach der Niederlage im Spanischen Bürgerkrieg, der den republikanischen Teilen des Baskenlandes eine Autonomie bescherte, die faktisch an eine territoriale Unabhängigkeit herankam, verharrte die baskische Regierungspartei PNV in der Deckung. Der legendäre Regierungschef (baskisch Lehendakari) José Antonio Aguirre versuchte vom Exil aus, die Geschicke der baskischen Sache zu lenken. Er glaubte, wie so viele, daß 1945 mit dem Ende Hitlerdeutschlands nun auch das Ende der Franco- Diktatur in Spanien gekommen sei und nahm Kontakt zu US-Präsident Truman auf. Er gründete gar eine eigene baskische Miliz, die Euzko Naia, deren Mitglieder im spanischen Baskenland allerdings nur zu diskretem Personenschutz herangezogen wurden. Das engmaschige Netz franquistischer Repression legte sich auf alles und jeden und zog, spätestens nach der Entlassung Spaniens aus der diplomatischen Quarantäne, die Exil- PNV in die Resignation. Sie verrichtete den Widerstand nunmehr kontemplativ, wir Krutwig Sagredo bissig formulierte (»un tanto contemplativa«).
Inzwischen war eine junge Generation herangewachsen, die im verordneten Einheits-Spanien begonnen hatte, sich für ihre baskischen Wurzeln zu interessieren. Zum Zweck der kulturellen und linguistischen Weiterbildung gründeten die jungen Leute 1955 die Vereinigung EKIN, aus der am Festtag des Hl. Ignatius von Loyola, am 31. Juli 1959, die ETA hervorging. Alles begann mit der baskischen Kultur. Bücher hierzu mußten umständlich aus dem Ausland, vor allem von der baskischen Gemeinde in Südamerika, beschafft werden. Auch die ersten Gelder für eine militärische ETA würden von Übersee kommen. Bald schon begannen die mißtrauisch gewordenen »alten Kämpfer« des PNV das Pathos der Jugend in ihrem Sinne einzuhegen, was schließlich zum Bruch zwischen Alt und Jung führen sollte.
ETA durfte nach Meinung ihrer jungen Gründer kein Arm einer Partei werden, sondern sollte sich als eigenständige Bewegung präsentieren. Sie hat keinen Gründervater, sondern zählt mehrere intellektuelle Geburtshelfer, die allerdings allesamt die Organisation später wieder verließen oder von konsequenteren und kompromißloseren Gestalten, wie den Brüdern José Antonio und Txabi Etxebarrieta, herausgedrängt wurden. Vor allem jener José Antonio wird von Krutwig Sagredo, der damals schon über die 40 war und einer anderen Zeit angehörte, abschätzig als »Cowboy« tituliert.
Bereits in dieser frühen Phase zeichnet sich ein Konfliktfeld ab, das die Entwicklung dieser Organisation über weite Strecken ihrer Geschichte beherrschen sollte: Wer hat den Finger am Abzug, der Intellektuelle oder der Militante? Wer dominiert ETA, die Politik oder die Waffen? Und schließlich: Verträgt sich der baskische Nationalismus mit den linken Protest- und Widerstandsbewegungen, wie sie in den 68iger Jahren allerorten »en vogue« waren? In den verschiedenen »ETA-Konzilien« wurde bis in die 1970er Jahre hinein um eine ideologische Schärfung gerungen.
Jedes Einbetten der Bewegung in eine gesamtspanische Strategie zur Befreiung von der Franco-Diktatur und vom kapitalistischen Imperialismus allgemein wurde als klammheimliche hispanistische Unterwanderung der wichtigsten Triebfeder, des baskischen Nationalismus, angesehen und entsprechend sukzessive verworfen. Basken sollten nach den Worten Krutwig Sagredos nicht die »Senegalesen« für fremde Ideen und Interessen sein. Besonders deutlich wurde dies, als in den 1980er Jahren ausgerechnet die sozialdemokratische Regierung von Felipe González mit Staatsterror und gedungenen Killern der baskischen Separatisten Herr zu werden versuchte. Dies verschaffte der ETA im demokratischen Spanien den bislang größten Zulauf.
Der radikale Anti-Hispanismus war und blieb durch die Jahrzehnte die geistige Konstante, auch, als dem spanischen Baskenland von Madrid eine weitreichende Autonomie zugestanden wurde. Spanien blieb für sie das Ausland, dem nicht zu trauen war. Aus einer tatsächlichen Besetzung durch das Franco-Regime wurde in der Demokratie der Verdacht einer Besetzung wirtschaftlicher Art.
Am Schluß all dieser Debatten stand nur noch der militärische Apparat oder ETAm (für militar) genannt. Während die Parteigänger einer politischen Durchdringung noch diskutierten, war die Fraktion ETAm bereits seit langem zum Angriff übergegangen, was zum Prestige ihrer Führer erheblich beitrug. Sagredo hatte die ETA da bereits verlassen, da seine Vorschläge für eine zivile Leitung mit nachgeordnetem militärischem Apparat auf der V. Versammlung angenommen, aber niemals umgesetzt wurden. Die Gewalt hatte ihre verführerische Wirkung entfaltet.
Das erste prominente Todesopfer der militärischen ETA war 1968 der Chef der politischen Polizei in San Sebastián, Melitón Manzanas, der als Folterer (mit früherem Praktikum bei der Gestapo) bei allen Oppositionellen im Land verhaßt war. Sein Mörder ist bis heute unbekannt. Der Slogan »Melitón haben wir alle umgebracht!« wurde zum Propagan- dacoup der ETA. Den größten Schlag versetzte sie dem Regime mit dem spektakulären Bombenanschlag auf Francos Premier und Vertrauten Admiral Luis Carrero Blanco am 20. Dezember 1973, der die Gruppe international bekannt machte.
In den eigenen Reihen war die Militarisierung kaum noch umzukehren. ETA-Führer wurden zu Volkshelden, so wie der Drahtzieher des Carrero Blanco-Attentats José Miguel Beñaran, genannt »Argala« (der Schmächtige), in seiner Jugend ein Bewunderer der philofaschistischen Falange, von dem der Ausspruch überliefert wird: »Ich diskutiere mit allen. Ich intellektualisiere die Militanten und militarisiere die Intellektuellen.«
In Anlehnung an die historischen baskischen Freischärler, den Gudaris, verstanden sich diese ETA-Kämpfer als Partisanen der nationalen Befreiung und solidarisierten sich mit Befreiungsbewegungen der Dritten Welt. Die Romantik hielt freilich nicht lange, zumal auch der staatliche Fahndungsapparat mit der Zeit effizienter wurde. Als Frankreich seine Politik der Duldung von Rückzugsgebieten im Süden des Landes beendete (etwa ab 1986), trat ETA den Weg in die Isolation an, aus der heraus die Anschläge willkürlicher wurden. Aus Widerstand war längst Terrorismus geworden. Bei Verkündigung der Waffenruhe am 20. Oktober 2011 waren etwa 850 Tote zu beklagen.
III. Zwei Aporien: Anfangen und Aufhören können
Gewalttätige Organisationen in Westeuropa – ETA, IRA, OAS, RAF etc. – haben ihre Spuren hinterlassen und sind nur noch als Negativ-Folien zu verwenden. Das jeweilige Ende hat auch den Blick auf die Anfänge geprägt. Dieses Wissen ist der Türsteher aller unserer Diskussionen, die momentan geführt werden. Die Gewalt als Option ist einzig dem Rechtsstaat überlassen und ansonsten ein ungebetener Gast in allen Erörterungen, vorausgesetzt der Staat ist handlungsfähig (und ‑willig). Was nun, wenn er es nicht oder nicht mehr ist?
Begonnen habe ich diesen Aufsatz mit dem Verweis auf Joseph Kessels berühmten Roman. Die Gewalt, die dort als Reaktion auf die demütigende deutsche Besetzung Frankreichs Thema ist, wird von den Aus- führenden als erster Akt der Befreiung erlebt, als Katharsis geradezu, die beim eigenen Selbst ansetzt, um sich dann nach außen, auf die Nation bezogen, fortzusetzen und zu erfüllen. Daß sie auch zur Droge werden kann, verdeutlicht der ETA-Werdegang, daher die Figur des »Saint Luc«, der bei allen Operationen seinen Männern und Frauen einschärft »Je n’accepte pas la haine« (»Ich akzeptiere keinen Haß«). Sie braucht die festen Zügel der Intelligenz, so lautete auch das Credo von Federico Krutwig Sagredo.
Um unsere Problematik schärfer zu fassen, sollten wir die Begriffe ändern. Man könnte auch unser Land, unseren Kontinent als von Besetzung bedroht bezeichnen. Natürlich ist nicht jeder Migrant ein Besatzer; aber die fremde Kultur des Islam denkt raumgreifend und unterwerfend. Hat unsere Regierung immer hart genug gegen diese Landnahme gehandelt? Und wie in jeder Besetzung gibt es auch bei uns Kollaboration. Was, wenn der Rechtsstaat selber zum Kollaborateur wird, eine Präferenz einerseits und eine Vernachlässigung andererseits erkennen ließe? Die Besetzung ist freilich nicht ganz so offenkundig, da keine fremden Uniformen im Straßenbild zu sehen sind.
Alles wird in einer Schwebe gehalten, die den inneren Druck und Frust jedes Betroffenen auszutarieren versucht. Vielleicht gehört es zum uneingestandenen Erbe alles umgreifender 68-Pädagogik, daß angesichts dieser Entwicklung die bloße Nennung von Gewalt allergische Reaktionen hervorruft.
Wer in dieser Optik den ersten Schuß abgibt, macht sich schuldig, im Sinne von Emmanuel Lévinas, der von dem Schmerz sprach, den man fühlen müsse, wenn man für ein Ideal zu den Waffen greife.
Es bleibt abzuwarten, wohin letztlich die Entwicklung führen wird und welche Konsequenzen sich zukünftig aufdrängen. Bis dahin mag uns die Literatur Halt geben. Joseph Kessel läßt einen Résistance-Aktivist im besagten Roman feststellen: »Mais cette guerre est un acte de haine et un acte d’amour. Un acte de vie« (»Aber dieser Krieg ist ein Akt des Hasses, ein Akt der Liebe. Er ist ein Akt des Lebens«).