Möglichst alle Schulen, gerade in „sozialen Brennpunkten“, sollten Ganztagsschule werden, wünscht sich die Politik.
Die quasimarxistische Grundidee: Alle natur- oder sozialbedingten Nachteile fielen weg oder würden vermeintlich gerecht einivelliert, wenn nur alle gemeinsam aus der als ungerecht empfundenen gesellschaftlichen Wirklichkeit mit ihren Divergenzen und Differenzen herausgehalten in der Hermetik des Schulhauses geschützt wären, wo unter Glas eine so glückliche wie sinnvolle und bildsame Kindheit und Jugend stattzufinden hat.
Unter kompetenter Anleitung und Führung pädagogischen Fachpersonals. Marxistisch daran: Richtet man dem Menschen nur die richtigen sozialökonomischen und kulturellen Bedingungen ein, notfalls künstlich im Modell Schule, so wird er so gut geraten, wie er seiner Natur nach oder kraft erworbener Vernunft eben ist oder sein kann.
Die mit dieser Konstruktion verbundenen Alltagsänderungen sind extrem: Kindheit und Jugend werden einem erwachsenen Rhythmus unterworfen, der in der Woche bis etwa 16.00 Uhr oder länger durchzustehen ist. Eine harte und nervöse Schicht, die im Reizfeld Schule genau die psychosomatische Überforderungssymptomatik auslöst, die medizinisch beklagt wird.
Überhaupt vollbrachte die Bildungspolitik das fatale Paradox, daß umgekehrt proportional zur Reduzierung fachlicher Anforderungen, inflationierter Bewertung und zurückgehender Befähigung der innere, leerdrehende Streß dennoch zunahm. Vielleicht ist damit überhaupt eine Grundtendenz der gegenwärtiger Rationalisierungsprozesse erfaßt:
Wo nicht mehr qualifiziert werden soll, wird um so mehr quantifiziert. Daran leiden vor allem die Gymnasiasten. Viel mehr als von kognitiven oder sprachlichen Anforderungen sind sie von einem irren Tagesablauf bzw. Stundenplan und vom engen Klausurkalender sowie der karrieristischen oder existenzängstlichen Rechnerei mit Notenpunkten belastet. Für das sogenannte Gymnasium gilt überhaupt: Mehr Masse statt Klasse, also Menge statt Qualität. Menge bedeutet aber stets auch Enge!
Während die Kinder das Schulhaus einst am frühen Nachmittag erlöst verließen, um ihre eigenen Herausforderungen zu suchen oder die Muße zu genießen, die sie zur Kompensation nötig hatten, entläßt der Stundenplan der Ganztagsschule sie eben nicht in die Freiheit, sondern in die „Projekte“. Klar, die wären alle sehr kindgerecht und „kreativ“, heißt es, mindestens aber nützlich, etwa wenn es sich um betreute Hausaufgabenzeiten handelt.
Die Schule bildet jedenfalls in den Nachmittag hinein weiter, sie erzieht weiter, ihre Politik wirkt weiter, ihre Didaktik wird intensiviert, und zwar in hohen Dosen. Allein schon , daß der Arbeitsbeginn und Feierabend der Eltern zeitlich etwa mit dem ihrer Kinder zusammenfällt, signalisiert das Problem. Ganztagsschule streßt!
Das welke Warten hinterm Glas des Schulgebäudes verlängert sich in den Nachmittag hinein, also in die Zeit, zu der früher auf dem Platz gebolzt, am Baggersee geschwommen und geangelt, gelesen oder einfach gespielt wurde, gemeinsam mit den Freunden, die man sich selbst aussuchte, ohne daß sie einem beigesellt wurden. Kindsein und Aufwachsen ohne nachmittäglich sozialpädagogische Anleitung! Ja, auf die Gefahr hin, zweckfrei Nutzloses zu unternehmen oder gar auf Abwege zu geraten, rein physisch oder politisch.
Der Nachmittag war das Abenteuer, das Experiment, die Mutprobe. Man konnte Ritter, Indianer, jedenfalls endlich ein Held sein. Nur weg von den Lehrern und Aufsichtspersonen, hinein in das eigene junge Leben. Man schraubte etwa am Motorrad und konnte es schon lange vor der Führerscheinprüfung fahren. Man verliebte sich, allzu gern im Freien.
Die Kindheit fand in der Zeit zwischen Schulschluß und abendlicher elterlicher Fürsorge in einem phantastischen Zwischenreich statt. Unbetreut, ungeregelt, riskant, mithin Mumm erfordernd, Erfahrungen ermöglichend, Haltungen ausbildend. Eine Selbsterziehung ohne Gouvernanten. Die Jugend hatte die Ideen, die Kinder machten es ihr nach.
Wir, die wir noch nicht kollektiv in einer Ganztagsschule festgesetzt waren, können davon Geschichten erzählen, die heutige Schüler staunen lassen. Das meiste ging gut. Aber unser einst freies Spielen und Gestalten wurde durch ein System obligatorischer Zwangsvereinnahmung ersetzt. Zum Wohle doch der Kinder!, hält die Bildungsbehörde dem entgegen.
Genau diese Haltung aber – Wir wissen genau, was gut für euch ist! – erinnert an die Indoktrinierung durch Komsomol, FDJ und Junge Pioniere. Jemand legt fest, wie der Nachmittag zu laufen hat und was getan, gefühlt und gedacht werden soll. Allerbesten Willens! Allerbesten Willens? Wer will das entscheiden? – Je enger der politische Korridor der „Schule für Demokratie“ wird, um so drückender gestaltet sich die Vereinnahmung.
Eingewendet wird: Aber die die Gefahren der neuen Medien! Die Daddelei am Computer! Der Stumpfsinn des Mediendauerkonsums überhaupt! – Nun, das ist eben die gesellschaftliche Wirklichkeit! Verblöden konnte man früher ebenso. Gewissermaßen ist die Schule auch nur ein virtueller Raum. Gefahren verhindert man nicht ab, indem man sie abschirmt und den Kindern die nachmittägliche Freiheit verschließt, die intensiver reifen ließe als ein pädagogisches Gewächshaus, dessen Nachmittagsprogramm vielleicht gut gemeint ist, aber oft als ebenso öde Pflicht empfunden wird wie der Unterricht am Vormittag. Gesellschaftliche Probleme können nicht durch die Schule therapeutisch weginszeniert, sondern sollten wie immer durchlebt werden.
Den Lehrern indessen werden mit der Ganztagschule zur sozialpädagogischen Heilung der Gesellschaft beauftragt. Ihr Pflichtteil dehnt sich mit jenem der Kinder bis in den Abend. Wann aber bereiten sie sich auf den Unterricht am nächsten Morgen vor, wann recherchieren sie interessantes Material, wann lesen sie etwas Ergiebiges, wann schlagen sie wenigstens mal die Zeitung auf, wann genießen sie Stille und dürfen endlich schweigen, wann ist ihre eigene Familie dran, wenn sie nicht vor 17.00 Uhr zu Hause sind, nachdem sie im Krach des Schulgebäudes alle Abläufe regelten?
Jeden Tag Nachmittagsunterricht und Projekte, außer dienstags, weil dieser Tag dem Gedöns der Sitzungen und Konferenzen überlassen ist. Aber bereiten sich Lehrer noch vor, recherchieren und lesen sie noch, schlagen sie je die Zeitung auf, finden sie irgendwann Ruhe? Die Zeiten, zu denen sie vormittags recht und nachmittags frei hatten, sind jedenfalls vorbei.
Aber damit starb eine ganze Lehrerspezies aus: Den etwas zerknitterten Kauz, jenen Kollegen, den man mindestens zu seinem Fach alles fragen konnte, der belesen, kenntnisreich und aus ureigenem Interesse selbst gebildet und weitergebildet war, obwohl er gerade damit schon mal nerven konnte, gerade wenn er etwas arg enthusiasmiert sprach, den gibt es nicht mehr.
Es gibt aber auch keine Zeitungen mehr in den Lehrerzimmern, keine Privatlektüren, kaum Gespräche über Wissenschaft und Literatur, wenn man schon über Politik doch besser gerade wieder schweigt; es gibt nicht mal mehr liebenswerte Schrulligkeiten.
Stattdessen lastet in den Lehrerszimmern die Sorge, nicht alles gut genug bewältigen zu können, weil man Lehrer, Erzieher, Verwalter, Konfliktmanager, Dauerkommunizierer und überhaupt der Ansprechpartner und Helfer für alle ist – insgesamt die Ursache für den enormen Verschleiß, die Erschöpfung, die Schlafstörungen, den enorm hohen Krankenstand und all die Dauerausfälle mit Burn-Out-Diagnose. –
Schule verspricht nicht nur zu viel; sie verspricht scheinengagiert das, was sie nicht halten kann, weil die Kur der Gesellschaft nicht in der Schule zu bewerkstelligen ist. Sie sollte freie Menschen bilden, diese fürs Leben und im Urteil stärken und sie gerade nicht unter Kunstlicht für Maßnahmen internieren. Sporthalle und Bibliothek können gern geöffnet bleiben.
War schon richtig: Non scholae, sed vitae discimus.
Heino Bosselmanns Nachdenken über Schule, Bildung, Menschwerdung kann vertieft werden durch die Lektüre folgender beider Titel, die derzeit unsere Leser beschäftigen:
+ Vorlesen von Ellen Kositza und Caroline Sommerfeld – ein Standardwerk! Kaum ein Buch unseres Verlags der vergangenen Jahren hat soviel begeisterte Zuschriften hervorgerufen. Wer Kinder oder Enkelkinder im Haus hat, kommt daran ohnehin nicht vorbei.
+ Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?, fragt FAZ-Mitherausgeber Jürgen Kaube – Schule muß sich nicht permanent neu erfinden, meint er, und die Neuerfindung der Schule als “Modebusiness” ist zwar häufig teuer, aber leistet selten das Erhoffte.
Franz Bettinger
Wenn ich Kinder hätte, würde ich eher an den Nordpol ziehen als sie einer deutschen Schule ausliefern. Neben der reinen Verwahrfunktion und der Indoktrinierung mit Unsinn ist in der Schule das Schlimmste der 8-Std-Tag, der den Eltern die Kinder und den Kindern die Kindheit raubt. Ein Verbrechen!