Schon wieder keine Hetzjagd
Nach 129 Beiträgen in der Kolumne ist dem einen oder anderen Leser wahrscheinlich schon aufgefallen, dass ich eine gewisse Vorliebe für die, nun, etwas handfesteren Sonntagshelden hege. Auch in diesem Fall muss ich zugeben, einer reißerischen Schlagzeile aufgesessen zu sein.
Mit einem Querverweis auf einen italienischen Zeitungsartikel berichtete ein englischsprachiger Twitter-Nutzer von einem Zwischenfall in der Südtiroler Stadt Sterzing. Dort habe die Stadtjugend als Dämonen verkleidet Migranten durch die Straßen gejagt, weil diese versucht hätten, ihnen die Masken herunterzureißen. Garniert war der Beitrag mit einem Video in welchem man die jungen Teufel dabei beobachten konnte, wie sie scheinbar wahllos, dafür aber mit ausgewiesener Brutalität auf davonlaufende Passanten einhieben.
Gleichwohl verhielt es sich im gegebenen Fall keinesfalls so dramatisch, wie die Schlagzeile glauben machte: Auf Nachfrage teilte die örtliche Polizeidirektion mit, dass keine Strafanzeigen zum genannten Fall vorlägen, Aufklärung brachte schließlich eine Pressemitteilung des verantwortlichen, örtlichen Krampusvereins, der „Tuifl Sterzing“.
Wer mit alpinem Brauchtum vertraut ist, wird es bereits geahnt haben: Bei der vermeintlichen Hetzjagd (Chemnitz lässt grüßen) handelt es sich um das traditionelle „Tuifltratzen“ (hochdeutsch in etwa: Teufeltriezen), bei dem die als Dämonen (Krampusse) verkleideten Burschen bei ihrem Umzug durch die Stadt von der örtlichen Jugend gereizt und gepiesackt werden und ihrerseits versuchen, den Aufmüpfigen ein paar Hiebe mit der Rute zu verpassen. Der Maskendiebstahl – soviel ahne ich nach meiner sonntagnachmittäglichen Recherche – gehört wohl zu den übelsten Sakrilegen, die man einem Krampus antun kann.
Auch die Erklärung für die Mär von den geprügelten Migranten war rasch gefunden: Teil der Tradition ist es, sich die Gesichte mit Kohle einzuschwärzen, keine unflätigen Zugewanderten, sondern rauflustige Einheimische, die im übrigen genau wussten, was ihnen dräute, waren es, gegen die sich die Wut der Tuifl richtete.
Woher also kommt die große Aufmerksamkeit, die binnen weniger Tage dutzende Artikel zeitigte und den Krampusverein zu einer Presseaussendung veranlasste, die sich jeder, der mit solcherlei Stellungnahmen vertraut ist, getrost sparen sollte, um sich nicht die Laune am teuflischen Treiben zu vergellen?
Einen nicht zu vernachlässigenden Anteil daran werden sicherlich die Bilder haben: Unter Höllenfratzen verborgene europäische Jungmännner, die sich behörnt und mit Ruten und Stöcken bewaffnet auf die Hatz nach missverstandenen Migranten begeben – das ist als Story viel zu gut für eine gewissenhafte Recherche. Und doch scheint die Befremdung vieler Leser noch etwas tiefer zu reichen.
Ich selbst komme aus Norddeutschland, bei uns kennt man solcherlei Schabernack kaum. Halloween war bis vor wenigen Jahren ganz verpönt, Perchten- oder Krampusumzüge kulturgemäß unbekannt und auch zur Faschingszeit wagten sich nur vereinzelt Kinder in Kostümen vor die Haustür. Selbst der Nikolaus, so meine ich mich zu erinnern, trat in der Regel ganz von vorweihnachtlicher Güte durchflossen und ohne seinen Knecht Ruprecht auf.
Lebhaft erinnere mich hingegen an blutige Expeditionen ins Brombeerdickicht, an riskante Gefechte mit Erbsenkanonen und an eine in ihrer Zügellosigkeit regelrecht vorchristliche Variante des Fußballs mit nur einer Mannschaft, die sich in den Klassenräumen und Schulfluren Bahn brach, nachdem die Schulleitung das Ballspiel auf dem Pausenhof in nicht ganz unberechtigter Sorge um die Fensterfronten der Lehranstalt untersagt hatte.
So oder so ähnlich wird es vielen gehen, wenn sie zurückdenken: Die Form des gelebten Brauchtums mag von der Schulhofbande über den Schützenverein bis hin zur Kommunion vielfältig sein; dass die Gemeinschaft der Jungen sich aber ihre Prüfungen sucht und sich in der Not selbst eine (wenn auch häufig chaotische) Form gibt, ist Gesetz.
Kurz gesagt: Der Drang der Halbstarken nach höheren Weihen sucht sich seine Wege. „Jungs bleiben eben Jungs“ mag man feststellen – aber die Wahrheit ist natürlich eine andere: Jungs sollen eben nicht Jungs bleiben; sie müssen den Jungen irgendwann töten, um Männer zu werden.
In einer Knieschoner- und Stützräderzeit wirkt diese Feststellung urtümlich und grausam, ebenso wie das Krampus- und Perchtentreiben, das sich in diesen dunklen Wintertagen wieder in unzähligen Bergdörfern und Alpenstädten abspielt. Und tatsächlich: „Beim Krampuslauf werden die jungen Burschen vom Buam zum Mann.“
Für die Dorfgemeinschaften, das möge man bitte nicht vergessen, ist das ganze jedes Mal ein prächtiges Spektakel: Ob als Schaulustige, als Helfer bei der Vorbereitung, oder als Opfer grober Scherze – stets werden sie als integraler Bestandteil in die Initiation der Jugendlichen eingebunden, ein kultischer Aspekt, der manchem selbst in Zeiten der Kulturindustrie noch einen archaischen Schauer über den Rücken zu jagen vermag. Schließlich tragen die umherziehenden Krampusse zum Schutz der Gemeinschaft bei: Ihre Aufgabe ist die Vertreibung böser Geister und Dämonen.
Es ist gut, dass sich in den düsteren Tälern und auf den lichten Gipfeln der Alpen aber auch in vielen anderen Teilen Mitteleuropas Riten der Bindung und der „Jugend-Weihe“ erhalten haben, die wenigstens eine entfernte Antwort auf die Frage zu geben vermögen, die noch unausgesprochen im abenteuerlichen Herzen vieler Jungen brennt.
Auch wir suchen, versuchen und bauen und deshalb erlaube ich mir zum Abschluss dieses Sonntagshelden die für mich eher unübliche Aufforderung an die Leserschaft: Kommentieren Sie! Wie kann eine Initiation im dritten Jahrtausend aussehen? Welcher Ritus hat überlebt, was ist nur noch Fassade? Und: Welche Ruinen können vielleicht als Fundament genutzt werden?
Thomas Martini
Woran fehlt es denn? Bei uns fehlt Gott sei Dank nix. (...) Es steht wohl außer Frage, welche Bräuche wir in den nächsten Jahren pflegen und hegen, nach dem Kalenderjahr sozusagen, von den Sternsingern, Ostern, Pfingsten, bis zu Allerheiligen und schließlich dem Höhepunkt eines jeden Jahres: Weihnachten. Um nur die wichtigsten Feiertage zu nennen. Nichts davon hat sich überlebt, und wer was anderes behauptet, soll bloß kommen. Der oder diejenige will wohl die Axt anlegen, um uns Christen zu schaden?
Weiterhin feiern wir im Südwesten den Karneval, Hexennacht, St. Martin und Nikolaus, so kenne und liebe ich es von früher und es ist gar nicht einzusehen, warum es bei meinen Kindern anders sein sollte. Jedes Jahr ist mit Tradition, Festen und Bräuchen gesegnet, und es hängt letztlich an jedem selbst, was er daraus macht. Wenn ich zum Beispiel an Allerheiligen dieses Jahr zurück denke: Der Friedhof wo viele meiner Ahnen begraben liegen, war überfüllt wie eh und je. Nun sind wir mitten in der Adventszeit, wir Christen können, nein sollten jauchzen, frohlocken und die Tage lobpreisen.
Mein Eindruck: Der Katholizismus hat seine Talsohle in Deutschland durchschritten, es geht aufwärts; jedenfalls sind die Kirchen immer gut besucht, wenn wir in den Gottesdienst gehen.