Wenn Grünen-Chef Robert Habeck 4000 in Griechenland festsitzende „Flüchtlingskinder“, die eigentlich „unbegleitete“ jugendliche Sozialmigranten sind, per Luftbrücke ins gelobte Deutschland holen lassen will, steht dahinter das grüne Menschenbild. Für Habeck gilt als per se vereinbart, daß man ihnen zu helfen hat, indem man sie sogleich ans Ziel ihrer Träume bringt, zumal die Bedingungen in griechischen Lagern miserabel seien.
Was Habeck für richtig und geboten hält, hat seiner Auffassung nach unbedingte Geltung. Und wer das kritisch sieht, der sieht es eben nicht „menschlich“, sondern „unmenschlich“, selbst wenn er nur zu bedenken gibt, daß dem Elend der Welt nicht in Kampagne-Aktionen abzuhelfen ist. –
Es mag vielleicht nur noch eine Frage der Zeit sein, bis sich die im Überbau entstandenen irren Gerechtigkeits- und Teilhabephantasien so aufgeblasen haben, daß sie auf die Basis übergreifen und eine ökonomische Umwertung entscheidender Werte beginnt. Sowohl Grüne als auch Sozialdemokraten weisen in diese Richtung, der Linken selbst ist der „Antikapitalismus“ seit Hingang und Verklärung ihrer DDR programmatisches Ziel.
Der Schwache soll die stärksten Rechte haben, der Leistungsfähige muß ihm helfen; dieser Anspruch klingt christlich und humanitär und will verdeutlichen, wie konsequent die Politik Gerechtigkeit anstrebt – als Reflex auf die angeblich von neoliberaler Deregulierung seit den Neunzigern verursachten Exklusionsprozesse. Das neue Bekenntnis zu „umfassender Teilhabe“ reagiert darauf, daß immer mehr das beschleunigte Tempo nicht mitgehen können und anderen kognitiv wie sprachlich – selbst- oder systemverschuldet – das Potential fehlt, zu den Fachkräften zu avancieren, die ein Hightech-Standort bräuchte.
Im Folgenden ist hinsichtlich der Inklusion nie von körperlich oder geistig Behinderten die Rede, denen jede Form der Unterstützung gebührt, sondern von Nichtbehinderten, die kraft gleicher Rechte gleiche Pflichten wahrnehmen sollten, zuerst jene sich selbst gegenüber.
Nicht wenige Auszubildende, denen die Schule immer versprach, sie würden dort abgeholt, wo sie stehen, kommen morgens schlecht hoch, weil ihnen dazu der minimale Impetus abgeht. Tatsächlich scheitern die meisten Berufsausbildungen nicht an Noten, sondern an asozialer Haltung.
Gerhard Schröders Agenda 2010 war der letzte größer angelegte Versuch, Eigenverantwortung einzufordern. Daß gerade ein Sozialdemokrat dies wagte, erschien ungewöhnlich, war aber gleichwohl sehr verdienstvoll. Und funktionierte! Während die Genossen mit Schröder bis heute hadern, zollen ihm Konservative und Liberale stillen Respekt, heilfroh allerdings darüber, daß nicht sie sich an solchem Programm verschleißen mußten, sondern der letzte sozialdemokratische Kanzler.
Seit mindestens zehn Jahren aber offenbart die Berliner Republik eine Tendenz zum Sozialismus. Im Bildungssystem ist der nach Menschenbild, Inhalten und Struktur bereits vollständig umgesetzt, im öffentlichen Dienst wird er praktisch gelebt, im Staatsfunk und den ihm beigeschalteten Medien generiert er eine Propaganda der Gleichheit aller – eben nicht allein vorm Gesetz, was liberaler Grundbestand rechtlicher Emanzipation wäre, sondern als Forderung nach Egalität.
Wer es nichts bringt, bedarf jetzt der Förderpläne, Nachteilsausgleiche und Maßnahmekarrieren. Keine Frage, daß den Schwachen geholfen werden muß, aber perspektivisch erscheint es hochproblematisch, wenn Minderleistungen von Minimalisten zum Maßstab werden und einer Erwartung Vorschub leisten, Luxus stünde einem per se zu, auch wenn man dafür nichts leistet. Mindestens in der Bildung ist dem bereits so, daher die fortschreitende Reduzierung der Inhalte und Anforderungen und die weitere Entwertung der Benotungen und Zeugnisse, daher eine Erziehung, die für alles Verständnis hat, die Schwachmaten und Verhaltensgestörte intensiv fördern möchte, aber Forderungen als Kränkung versteht.
Wer immer noch Leistung verlangt und dabei nicht nur von Rechten, sondern ebenso von Pflichten spricht, dem wird Diskriminierung vorgeworfen; wer die Talentierten favorisiert, der diskreditierte, heißt es, jene mit „Handicap“; wer von der natürlichen Verschiedenheit der Persönlichkeiten, Charaktere und Eigenheiten ausginge und die forcierte Inklusionskampagne für fragwürdig hielte, der selektiere und beschwöre damit den bösen Geist der düsteren Vergangenheit herauf.
Denn jene, die trotz der längst durchgesetzten Chancengleichheit einfach nicht wollen, weil sie keinen Bock auf Anstrengung haben, offenbaren, so die Diagnostiker, „sonderpädagogischen Förderbedarf“, weil sie beispielsweise an einer Störung ihrer „emotionalen und sozialen Entwicklung“ leiden.
Für die wachsende Zahl dieser „Förderfälle“ gibt es mittlerweile finanziell sehr großzügig ausgestatte pädagogische Inklusionsprogramme und Institute, in denen sich unterrichtsflüchtige Lehrer und „Bildungsforscher“ mit der „Qualitätssicherung“ jener Schulen beschäftigen, die sie als Praktiker längst aufatmend verließen.
Wendete man die immensen Investitionen in die vermeintliche Inklusion für die Förderung der Interessierten, Fleißigen und Begabten auf, erreichte man bei Bildungstest endlich die Levels jener Länder, die man so beneidet. Und die Schulen brächten jene Absolventen hervor, derer man für Natur- und Ingenieurwissenschaften sowie Informatik in Deutschland dringlich bedarf.
Aber es läuft anders: Daß Schüler, die sich infolge von Erziehungsdefiziten unfähiger oder kulturferner Eltern nicht mehr zu steuern oder ihren Aufgaben zu widmen verstehen, einen allein für sie zuständigen Erwachsenen, einen „Inklusionshelfer“, zur Seite gestellt bekommen, der mit ihnen im Unterricht sitzt und beim Allereinfachsten hilft, etwa beim Aufräumen ihrer Arbeitsmittel, ist mittlerweile Alltag. In manchen Klassen befinden sich bereits drei, mitunter vier dieser Helfer, die ihren jeweiligen Schützlingen den Alltag organisieren und sie geduldig zu motivieren versuchen, wenn sie mal wieder abdriften, oder sie zur Ruhe bringen, wenn sie abdrehen.
Trotz all der Kampagnen zugunsten der Willensschwachen, Limitierten und Gestörten werfen die diversen Test- und Vergleichsverfahren namentlich Deutschland stereotyp vor, der Schulerfolg hinge hierzulande allzu sehr von der sozialen Herkunft ab. Genau darin erweise sich ja die Ungerechtigkeit, heißt es.
Daß sozial bessergestellte Haushalte eben eher zur Leistungsbereitschaft erziehen und für gutes Niveau Sorge tragen, gilt nicht als lobenswert, sondern als ungerecht den Unterprivilegierten gegenüber, die sich eben nicht gleichermaßen auf anspruchsvolle Beiträge zur frühkindlichen Entwicklung verstehen.
Das Recht gleicher Bildung für alle, eine der wichtigsten Errungenschaften des letzten Jahrhunderts, reicht angeblich längst nicht. Vielmehr ist das Zugeständnis von Erleichterungen und das Zureichen von Erfolgen ohne Gegenleistung vonnöten, damit selbst jene durchkommen, die es selbst gar nicht wollen und denen die Schule ebenso einerlei ist wie die Nation, von der sowieso besser nicht mehr die Rede sein soll. Wer nichts bringt, ruft am lautesten nach Gerechtigkeit und „Teilhabe“. Etwas dafür zu leisten ist offenbar zuviel verlangt, insofern „Teilhabe“ doch neuerdings jedem per se zustehe, so wie jedem eben Würde zukomme.
Friedrich Nietzsche galt späteren Sozialisten als eine Art Präfaschist. Das scheint aus der Perspektive heutiger Gerechtigkeitsphantasie – zumal solcher, wie Habeck sie gerade entwickelte – nachvollziehbar, wenn man das Folgende liest, das 259. Stück aus „Jenseits von Gut und Böse“:
Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung – aber wozu sollte man immer gerade solche Worte gebrauchen, denen von alters her eine verleumderische Absicht eingeprägt ist? Auch jener Körper, innerhalb dessen, wie vorher angenommen wurde, die einzelnen sich als gleich behandeln – es geschieht in jeder gesunden Aristokratie –, muß selber, falls er ein lebendiger und nicht ein absterbender Körper ist, alles das gegen andre Körper tun, wessen sich die einzelnen in ihm gegeneinander enthalten: er wird der leibhafte Wille zur Macht sein müssen, er wird wachsen, um sich greifen, an sich ziehen, Übergewicht gewinnen wollen – nicht aus irgendeiner Moralität oder Immoralität heraus, sondern weil er lebt, und weil Leben eben Wille zur Macht ist. In keinem Punkte ist aber das gemeine Bewußtsein der Europäer widerwilliger gegen Belehrung als hier; man schwärmt jetzt überall, unter wissenschaftlichen Verkleidungen sogar, von kommenden Zuständen der Gesellschaft, denen “der ausbeuterische Charakter” abgehen soll – das klingt in meinen Ohren, als ob man ein Leben zu erfinden verspräche, welches sich aller organischen Funktionen enthielte. Die “Ausbeutung” gehört nicht einer verderbten oder unvollkommenen und primitiven Gesellschaft an: sie gehört ins Wesen des Lebendigen, als organische Grundfunktion, sie ist eine Folge des eigentlichen Willens zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist. – Gesetzt, dies ist als Theorie eine Neuerung – als Realität ist es das Ur-Faktum aller Geschichte: man sei doch so weit gegen sich ehrlich!
Man sei doch so weit gegen sich ehrlich! – So weit wenigstens einzusehen, daß dieses Prinzip die Menschheit erst in die Lage brachte, vom Sozialismus zu träumen, denn Jahrhunderte, ach Jahrtausende Ausbeutung und Sklaverei, Ausplünderung des Planeten und seiner natürlichen, mithin auch menschlichen Ressourcen – all die ungeschlachten Grobheiten, die Menschen sich antun – brachten die Gesellschaft mindestens einiger „hochentwickelter“ Länder dahin, einen technischen und kulturellen Komfort zu erreichen, in dem eingerichtet es sich wieder bequem von der großen Gerechtigkeit sinnieren läßt, so als wäre endlich ein Paradies wiederzuerlangen, das es allerdings so nie gegeben hat.
Denn im Paradies verblieben die Mitgeschöpfe, nicht wir. Unsere blutige Erfolgsgeschichte begann gerade mit der Vertreibung aus dem Naturzustand, die wir selbst bewerkstelligten, weil wir in der Natur, kein Zuhause fanden. Wir begannen damit, sie, die Natur, zu verstoffwechseln und die Mitgeschöpfe zu verwursten, weil es ansonsten für uns kein Überleben gegeben hätte.
Wir konnten nicht anders! Ohne die latente Schuld, ohne das Prinzip der Erbsünde, ohne unser Kainsmal kamen wir nicht durch. Wir verzweifelten daran und suchten Trost in allen möglichen Religionen, die eben Ausdruck unserer ewigen unausweichlichen Schuld und des damit verbundenen Erlösungsbedürfnisses sind. Und als wir an die großen alten Erzählungen nicht mehr so recht glauben konnten, generierten wir weltanschauliche Ideologien des Heils, die zwar den Himmel auf Erden verkündeten, aber die Hölle öffneten.
Leben wir demütig mit unserer Verzweiflung, denn wir selbst können uns nicht davon befreien. Das ist realistischer und redlicher, als eine Gesellschaft konstruieren zu wollen, in der wir ohne Fehl und Tadel endlich nicht nur das Recht sichern, sondern die umfassende Gerechtigkeit ausrufen. Belassen wir es beim Recht. Alles, was sozialistisch eine höhere Gerechtigkeit hienieden herstellen möchte, führt letztlich im Extrem dazu, daß die schlimmsten Alpträume Wirklichkeit werden.
Die „Internationale“ irrte an der entscheidenden Stelle, nämlich darin, wir könnten uns aus vom Elend selbst erlösen. Solche Hoffnungen infizieren mit dem Bösen. Die Linke ist von ihrer eigenen Wirkungsgeschichte erschüttert, wenn sie sich ausnahmsweise mal kritisch damit befaßt; und wer sich nach den letzten beiden Jahrhunderten umschaut, ist danach eben kein Linker mehr, weil er sich abwendet von den Verbrechen, zu denen Utopien verlocken. Oder er träumt eben weiter. Vom Blochschen „Prinzip Hoffnung“. Besser es bleibt beim Traum, sonst beginnt der Horror.
Mietendeckelung, Umverteilung, Lastenausgleiche, bloße Dekretierung von Teilhabe – wer damit therapieren will, sollte aufmerksam lange Beipackzettel Historie lesen. Was sein Maß behält, mag sozial erfordert und sogar nützlich sein; aber wenn das Maß verloren geht und „von unten auf“ die Maßlosigkeit des Forderns beginnt, bedarf es der konservativen Mahner.
Wenn die Gerechtigkeitsutopien dann sogar dreist materielle Gewalt werden, braucht es den Reaktionär. Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal: Im Gegensatz zum Revolutionär weiß der um seine Schuld, ohne die wir nicht durchkommen.
Niekisch
"Wenn die Gerechtigkeitsutopien dann sogar dreist materielle Gewalt werden, braucht es den Reaktionär."
Und wen brauchen wir, wenn die Ungerechtigkeitsrealität wie heute längst in materielle Gewalt ausgeartet ist?