Es ist unmöglich einen Artikel über den am 15. Januar verstorbenen Christopher Tolkien zu schreiben, ohne mit einem Verweis auf J.R.R. Tolkien zu beginnen, war doch die Herausgabe der umfangreichen Schriften seines Vaters das Lebenswerk des Sohnes. Daß nun allerdings in so manchem Nachruf zu lesen ist, er habe stets im Schatten seines Vaters gestanden, ist dennoch zu kurz gedacht.
Richtiger erscheint mir viel mehr die Vorstellung, daß Vater und Sohn – beide renommierte Mediävisten und Philologen – sich gleichermaßen im Dienst, im Bann und damit letztendlich im Schatten der gemeinsam entdeckten Sagenwelt befanden. Christopher Tolkien beschrieb in einem Interview auch die Distanz seines Vaters zur eigenen Autorschaft: Die frühen Mythen, die den Hauptcorpus des Silmarillion ausmachen, “waren für ihn wie die Mythen der realen Welt, die er beobachten und untersuchen konnte.”
Das Verhältnis von Vater, Sohn und Werk war dabei so eng, wie man es sich nur denken kann: Schon als Kind hatte Christopher von seinem Vater die Legenden von Beren und Luthién am abendlichen Kaminfeuer gehört, auf seinen Einsätzen als Kampfpilot begleiteten ihn stets aktuelle Kapitel des in Entstehung befindlichen “Herrn der Ringe”, bei dessen Niederschrift sein Vater ihn um kollegialen Rat fragte.
Insbesondere im Bezug auf das umfangreiche Frühwerk jenseits des “Herrn der Ringe” und des “Hobbits” entwickelte sich auch Christopher immer mehr zum partnerschaftlichen Entdecker einer ganzen Mythologie, die er maßgeblich redigierte, herausgab und später (widerstrebend) mit eigenen Fragmenten vervollständigte. In der Zusammenarbeit mit seinem Vater zeichnete er dabei vor allem für das Kartenmaterial Mittelerdes verantwortlich – die heute den Büchern beiliegenden Abbildungen beruhen in der Regel auf seinen Entwürfen und Zeichnungen. Dabei kam ihm zugute, daß er von Kindesbeinen an in der “Zweitwelt” [im Original: secondary world] seines Vaters aufgewachsen war: “Für mich sind die Städte aus dem Silmarillion realer als Babylon”, sagte er einmal.
Spätestens mit dem Tod J.R.R. Tolkiens übernahm Christopher die komplette Verantwortung für das Gesamtwerk seines Vaters und verwaltete dessen Erbe und Andenken pflichtbewußt. Ihm ist es zu verdanken, daß mit dem Silmarillion 1977 Tolkiens heimliches Hauptwerk veröffentlicht wurde, welches die wesentlich populäreren Geschichten vom Herrn der Ringe und dem Hobbit in einen umfassenden mythologischen Kosmos einband.
Den späteren filmischen Adaptionen des Stoffes stand J.R.R. Tolkiens “chief critic and collaborator” dabei kritisch gegenüber, konnte sie aber aufgrund der noch von seinem Vater veräußerten Filmrechte nicht verhindern. Über die Filme des Regisseurs Peter Jackson sagte er:
Tolkien ist zu einem Monster geworden, das von seiner Popularität verschlungen und von der Absurdität der Zeit absorbiert wird. Die Kluft, die sich zwischen der Schönheit, dem Ernst der Arbeit und dem, was sie ist, aufgetan hat – das alles ist mir ein Rätsel geworden. Ein solcher Grad an Kommerzialisierung reduziert den ästhetischen und philosophischen Umfang dieser Schöpfung auf nichts. Ich habe nur noch eine Lösung: Mich abzuwenden.
Vermutlich gehört es zu den gnädigeren Wendungen des Schicksals, daß Christopher Tolkien nun seinem Vater nachgefolgt ist: Für die kommenden Jahre hat der Streaming-Dienst Amazon Prime mehrere Staffeln einer Herr der Ringe-Serie angekündigt, die den in den Hobbit-Filmen bereits erreichten Grad an Perversion und Textferne vermutlich noch um ein Vielfaches in den Schatten stellen werden.
Bei diesen trüben Aussichten empfiehlt es sich, dem Beispiel der zwei großen Tolkiens zu folgen und sich von Zeit zu Zeit gemeinsam mit ihnen der “Zweitwelt” zuzuwenden: In meinem Regal stehen ihre Werke neben Bibel, Edda, Bhagavad Gita, Ilias und Koran.
Homeland
Lieber Till-Lucas Wessels,
wichtig ist, was Sie in die Erste Welt mit herübernehmen, wie andere auch, aus den zweieinhalb Metern intelligenter Zweitwelt, von der Ihre Vision für die Realität getragen ist, ohne mit dem Schleier der Ratlosigkeit den beabsichtigten Weg bestenfalls nur anzudeuten. Mit ratlosen Andeutungen und dann von da und dort dazu gelieferten Grabbeigaben nämlich, die sich um die eigene Achse drehen, kommen wir jedenfalls nicht weiter, sondern sind nur heimlich schlau, wie die Tolkiens auch. Es sei denn, genau das bliebe das Ziel.
Beste Grüße,
das werte Homeland