Chinas neue Klasse im Zeitalter der Digitalisierung

PDF der Druckfassung aus Sezession 83/April 2018

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Seit­dem durch den Unter­gang der soge­nann­ten real­so­zia­lis­ti­schen Staa­ten­welt im Osten Euro­pas die binä­re Sys­tem­kon­kur­renz ein vor­läu­fi­ges Ende gefun­den hat, ist zwar kein »Ende der Geschich­te« erreicht, doch schei­nen grund­sätz­li­che Alter­na­ti­ven zum glo­ba­len Kapi­ta­lis­mus, spe­zi­ell in der west­li­chen Öffent­lich­keit, nicht nur des­avou­iert, son­dern nicht mehr als uto­pi­sche Gedan­ken­spie­le zu sein.

Das hat viel zu tun mit dem fun­da­men­ta­len Schei­tern des mar­xis­tisch-leni­nis­ti­schen Expe­ri­ments, das auf­grund exter­ner wie inter­ner Fak­to­ren zugrun­de ging. Einer die­ser imma­nen­ten man­nig­fal­ti­gen Fak­to­ren für den erlit­te­nen Sys­tem­schiff­bruch ist die sta­li­nis­ti­sche Per­ver­si­on in den spä­ten 1920er und vor allem in den 1930er Jah­ren, die in ihrer Tota­li­tät so rich­tungs­wei­send und ein­schnei­dend war, daß ihre Ergeb­nis­se nicht zu kurie­ren gewe­sen sind.
Sta­lins Ver­such, durch Zwangs­kol­lek­ti­vie­rung und ‑indus­tria­li­sie­rung das Sowjet­reich als klas­sen­lo­se Gesell­schaft zu schaf­fen, sorg­te nicht nur für Mil­lio­nen Tote und Aber­mil­lio­nen zer­ris­se­ne Bio­gra­phien der über­le­ben­den Repres­sier­ten. Er schuf in den bar­ba­ri­schen Pro­zes­sen zur Über­win­dung der alten Klas­sen gar eine genu­in neue Klas­se, »wie die Geschich­te sie frü­her nicht gekannt hat­te«, um eine Wen­dung des kom­mu­nis­ti­schen Rene­ga­ten und sozia­lis­ti­schen jugo­sla­wi­schen Patrio­ten Mil­o­van Dji­las aufzugreifen.

Die­se neue Klas­se war die poli­ti­sche Büro­kra­tie, die, aus­ge­stat­tet mit allen Cha­rak­te­ris­ti­ka der bis­he­ri­gen Klas­sen, über­dies eige­ne Wesens­merk­ma­le auf­wies und über eine kon­zen­trier­te Macht ver­füg­te, die selbst bis­he­ri­ge herr­schen­de Klas­sen in den Schat­ten stel­len muß­te. Dji­las wies in sei­ner bahn­bre­chen­den Stu­die Die neue Klas­se dar­auf hin, daß sich die­se Schicht nicht als Teil des gesell­schaft­li­chen Lebens ent­wi­ckelt hat­te, daß sie also nicht »orga­nisch« wuchs.
Sie ent­stand viel­mehr durch Ent­wick­lungs­schrit­te, deren Wur­zeln in Lenins »alten« Bol­sche­wi­ki ange­legt waren, aber erst defor­miert und durch Sta­lins tota­li­tä­re Maß­nah­men voll­streckt, ihre eige­ne Wirk­macht erhiel­ten. Die neue Klas­se – das sind nach Dji­las nicht alle Par­tei­mit­glie­der, son­dern eine bestimm­te Aus­wahl von »Leu­ten, die wegen des admi­nis­tra­ti­ven Mono­pols, das sie inne­ha­ben, Pri­vi­le­gi­en und mate­ri­el­le Vor­tei­le genie­ßen«. Die neue Klas­se – das ist die ein­ge­setz­te, das Land len­ken­de und kon­trol­lie­ren­de Par­tei-Büro­kra­tie, Herr­scher nicht für die Arbei­ter­klas­se, son­dern über die Arbei­ter­klas­se (und alle ande­ren Klas­sen ohnehin).
Dji­las, der die­se Ana­ly­se in den 1950er Jah­ren vor­brach­te, griff sei­ner Zeit weit vor­aus, als er skiz­zier­te, daß sich die per­p­etu­ier­te Selbst­er­mäch­ti­gung der neu­en Klas­se auch im Bereich des Eigen­tums zei­ge. Das poli­ti­sche Herr­schafts­mo­no­pol war von Anbe­ginn an auch ein öko­no­mi­sches; die Zuge­hö­rig­keit zur neu­en Klas­se ver­schaff­te mate­ri­el­le Pri­vi­le­gi­en und ver­hieß vor allem die tota­le Ver­fü­gungs­macht über das ver­staat­lich­te gesell­schaft­li­che Eigen­tum – mit allen Fol­gen in den Jah­ren des Umbruchs nach 1989.

Denn die »neue besit­zen­de, mono­po­lis­ti­sche und tota­li­tä­re Klas­se« (Dji­las) schuf sich so einen Vor­sprung gegen­über der Bevöl­ke­rungs­mehr­heit, des­sen Bedeu­tung man nicht erah­nen konnte.
Bucha­rins Losung »Berei­chert euch«, die 1925 in Rich­tung der brach­lie­gen­den Bau­ern­struk­tu­ren aus­ge­ru­fen wur­de, erfuhr nach 1989 eine gänz­lich ande­re Kon­no­ta­ti­on: Die »neue Klas­se«, die das befehls- admi­nis­tra­ti­ve Sys­tem des Ost­block­so­zia­lis­mus über­wie­gend in dog­ma­ti­scher Bestän­dig­keit ver­ant­wor­tet hat­te, jen­seits des inhä­ren­ten Jar­gons und des Phra­sen-Mar­xis­mus-Leni­nis­mus aber ideo­lo­gisch rela­tiv fle­xi­bel agier­te, war orga­ni­siert, dis­zi­pli­niert und ent­schlos­sen genug, die Chan­cen des nun kapi­ta­lis­ti­schen Sys­tems zu nutzen.

Denn wer ver­füg­te über die Kennt­nis­se, wel­che Pro­duk­ti­ons­stät­te wie nutz­bar wäre? Wer wuß­te, was wirk­lich kaputt und was erneue­rungs­fä­hig war? Wer konn­te rea­lis­tisch ein­schät­zen, was sich kom­mo­di­fi­zie­ren lie­ße und was nicht? Es war die neue Klas­se, die, zu Umbruchs­zei­ten nicht mehr ganz so neu, über ein Qua­si-Mono­pol auf Wis­sen und Infor­ma­ti­on ver­füg­te, das ihren Klas­sen­an­ge­hö­ri­gen ermög­lich­te, bei der anste­hen­den Pri­va­ti­sie­rungs­wel­le die Spreu vom Wei­zen zu tren­nen und so Mil­li­ar­den­be­trä­ge in die eige­nen Bah­nen zu lenken.

Die Selbst­be­rei­che­rung der neu­en Klas­se und die Ver­elen­dung der Bevöl­ke­rungs­mehr­heit im post­so­wje­ti­schen Zeit­al­ter führ­te – in unter­schied­li­cher Inten­si­tät von Kiew bis Mos­kau, von War­schau bis Buda­pest – zum Ent­ste­hen einer neu­en Olig­ar­chie, deren Gene­se und heu­ti­ge Lage ein inter­es­san­tes For­schungs­feld böte. Hen­ry Kis­sin­ger unter­strich zurecht, daß der real exis­tie­ren­de Sozia­lis­mus, »der nach Ansicht sei­ner Befür­wor­ter eine klas­sen­lo­se Gesell­schaft her­bei­füh­ren soll­te, eine pri­vi­le­gier­te Klas­se von feu­da­len Aus­ma­ßen her­vor­brach­te«. All das wäre aus his­to­risch-kri­ti­scher Sicht wohl inter­es­sant genug, doch beson­de­re Viru­lenz erhal­ten dies­be­züg­li­che For­schun­gen hin­sicht­lich der aktu­el­len Lage der wei­ter­hin von der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei kon­trol­lier­ten Volks­re­pu­blik China.

Opti­mis­ten des sozia­lis­ti­schen Lagers wie der 2017 ver­stor­be­ne Agrar­wis­sen­schaft­ler und Lin­ken-Poli­ti­ker Theo­dor Berg­mann mei­nen, daß sich das dor­ti­ge inne­re Rin­gen zwi­schen kapi­ta­lis­ti­schen und kom­mu­nis­ti­schen Ansät­zen noch offen zei­ge, wobei die Ten­denz kom­mu­nis­tisch sei, da die chi­ne­si­sche Par­tei aus den Fehl­ent­wick­lun­gen der Sowjet­uni­on und ihrer Nomen­kla­tu­ra gelernt hät­te; eine jun­ge Arbei­ter­klas­se kön­ne dort, mit Marx gespro­chen, »von einer Klas­se an sich zu einer Klas­se für sich« wer­den. Berg­mann ver­kennt indes das Wesent­li­che, näm­lich die Tat­sa­che, daß auch in Chi­na längst eine »neue Klas­se« im Sin­ne Dji­las’ ent­stan­den ist, die alle Macht (inklu­si­ve ent­spre­chen­der Vor- rech­te) für sich zu bean­spru­chen weiß.
Daß es mitt­ler­wei­le, wie der 2012 erst­mals ver­öf­fent­lich­te Hurun- Report der reichs­ten Chi­ne­sen 2017 ver­mel­de­te, in Chi­na 609 Mil­li­ar­dä­re (welt­weit: 2257) und ca. 1,6 Mil­lio­nen Mil­lio­nä­re gibt, ist einer Ent­wick­lung zuzu­schrei­ben, die 1978/79 begann, als Deng Xiao­ping in Peking Wirt­schafts­re­for­men unge­ahn­ten Aus­ma­ßes einleitete.

Son­der­wirt­schafts­zo­nen, Steu­er­frei­heit für Inves­to­ren, gerin­ge Lohn­kos­ten, Ent­wick­lungs­chan­cen für einen anvi­sier­ten Mit­tel­stand – der »rote Kapi­ta­lis­mus« (Richard McGre­gor) war geboren.
Die rasan­te und kom­ple­xe Wirt­schafts­ent­wick­lung, die hier frei­lich nur ange­deu­tet wer­den kann, läßt sich mit der auf Ost­asi­en spe­zia­li­sier- ten Poli­tik­wis­sen­schaft­le­rin Sarah Nagel in zwei Groß­pha­sen einteilen:

Zunächst gewähr­te man ab 1978/79 klei­ne­ren Unter­neh­men enor­men Spiel­raum. In der zwei­ten Pha­se, die Nagel ab 1992 ver­or­tet (und die 2000 einen neu­er­li­chen Schub durch die »Stra­te­gie des Hin­aus­ge­hens« erhielt), »began­nen sich die gro­ßen, pro­fit­ori­en­tier­ten Staats­un­ter­neh­men zu ent­wi­ckeln, die heu­te die chi­ne­si­sche Volks­wirt­schaft prä­gen und auch bei den Aus­lands­di­rekt­in­ves­ti­tio­nen eine tra­gen­de Rol­le spielen«.

Die Ver­ant­wort­li­chen der Staats­un­ter­neh­men sind im Regel­fall Par­tei­ka­der, denen die­se Posi­ti­on qua ihrer pri­vi­le­gier­ten Stel­lung in der neu­en Klas­se der poli­ti­schen Büro­kra­tie, der KP-Büro­kra­tie, zukommt. Der ent­schei­den­de Unter­schied ist, daß die Kader in der Sowjet­uni­on einst ihre poli­ti­schen Stel­lun­gen durch den Sys­tem­zu­sam­men­bruch ver­lo­ren, sie aber nut­zen konn­ten, um im neu­en Regime öko­no­misch zu reüs­sie­ren (was wie­der­um spä­ter, je nach kon­kre­ter Vor­lie­be, ermög­lich­te, aufs neue poli­ti­schen Ein­fluß zu erlangen). 

Hin­ge­gen hat die KP Chi­na respek­ti­ve die »neue Klas­se« inner­halb der KP – nicht alle 90 Mil­lio­nen Par­tei­mit­glie­der zäh­len ja zur neu­en Klas­se nach der Defi­ni­ti­on Dji­las’ – die poli­ti­sche Macht gesi­chert, ihr par­tei­so­zia­lis­ti­sches Sys­tem aber zusätz­lich mit einer »sini­sier­ten« kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­wei­se ver­wo­ben. Somit konn­ten die bestehen­den Wirt­schafts­struk­tu­ren bei vol­lem Macht­er­halt trans­for­miert wer­den – auf chi­ne­si­sche Art und Wei­se Dabei sind Erfol­ge auch für brei­te Schich­ten jen­seits der herr­schen­den neu­en Klas­se zu ver­zeich­nen, die quan­ti­ta­tiv und qua­li­ta­tiv beacht- lich sind: Bis 2016 erreich­te man, vor allem unter der Ägi­de von Xi Jin­ping, daß 95 Pro­zent der Chi­ne­sen kran­ken­ver­si­chert sind – 2003 waren es rund zehn Prozent.

Auch das Ren­ten­sys­tem ver­bes­ser­te sich in die Brei­te: Für 2014 lie­gen Daten vor, wonach 842 Mil­lio­nen Men­schen (von 1,38 Mil­li­ar­den) in einem Alters­ver­sor­gungs­sys­tem ver­si­chert waren, (2009: 240 Mil­lio­nen). Die Lebens­er­war­tung stieg zwi­schen Anfang der 1990er Jah­re – dem Beginn der »zwei­ten Pha­se« des chi­ne­si­schen »wett­be­werbs­ori­en­tier­ten Staats­ka­pi­ta­lis­mus« – und 2012 von 69 auf 75 Jahre.

Die­se wirt­schafts­po­li­ti­sche Erfolgs­ge­schich­te – der über­wie­gend arbeits­in­ten­si­ven, export­ori­en­tier­ten Mas­sen­pro­duk­ti­on – läßt, wie in west­li­chen Gesell­schaf­ten auch, die Ansprü­che der Bür­ger stei­gen. Es reicht für den Staat nicht mehr, Ver­sor­gungs­si­cher­heit her­zu­stel­len; Kon­sum­gü­ter, Rei­sen oder auch der eige­ne Immo­bi­li­en­er­werb legen an Stel­len- wert zu und wer­den auf­grund der Popu­la­ri­tät des chi­ne­si­schen öko­no­mi­schen Wachs­tums von den Bür­gern ent­spre­chend vorausgesetzt.

Die­se wirt­schafts­po­li­ti­sche Erfolgs­ge­schich­te unter­schei­det sich vom west­li­chen Kapi­ta­lis­mus­mo­dell indes­sen durch den Umstand, daß die Betrie­be ihr Kapi­tal von staat­li­chen Ban­ken erhal­ten. Der Staat tritt als ideel­ler Gesamt­ka­pi­ta­list auf, der über­dies die Ein­la­gen von über 1,3 Mil­li­ar­den Spa­rern ver­wal­ten darf. Unstrit­tig posi­ti­ve Ergeb­nis­se aus wirt­schafts­po­li­ti­scher Sicht erzielt zudem die Viel­falts­di­rek­ti­ve: Das Reich der Mit­te erprobt in sei­nen ver­schie­de­nen Regio­nen unter­schied­li­che Ansät­ze, ope­riert regio­nal also mit erheb­lich unter­schied­li­chen Model­len von Steu­ern, Inves­ti­tio­nen und Unternehmensformen.

So stei­gert sich die Viel­falt der Hand­lungs­mög­lich­kei­ten für aus­län­di­sche wie inlän­di­sche Invest­ments; es ent­steht »Kon­kur­renz­druck zwi­schen den ört­li­chen Ver­wal­tungs­ein­hei­ten«, wie Hofung Hung dia­gnos­ti­zier­te. Der in den USA leh­ren­de Sozio­lo­ge macht im Zuge der anhal­ten­den Reform­po­li­tik der chi­ne­si­schen Staats­füh­rung eine Dezen­tra­li­sie­rung der Öko­no­mie aus, die mit einer Stär­kung loka­ler und regio­na­ler Auto­ri­tä­ten einhergehe.

Die­se Auto­ri­tä­ten sind, ent­spre­chend der Hege­mo­ni­al­stel­lung der Par­tei, beson­de­re Kader, die durch »Insi­der-Pri­va­ti­sie­rung« (man den­ke hier an das Vor­sprung­wis­sen der Sowjet-Nomen­kla­tu­ra nach 1989) Ver­mö­gen anhäuf­ten und ihre Posi­ti­on dadurch stärk­ten und stär­ken. Die­se neu­en Rei­chen als Pro­fi­teu­re der Markt­re­for­men, stellt Hung klar, for­mie­ren heu­te die »sozia­le Grund­la­ge der Kom­mu­nis­ti­schen Partei«. 

Ihre pri­va­ten Pro­fi­te, ob im Export­be­reich oder in der Immo­bi­li­en­wirt­schaft, wer­den gedul­det, solan­ge sie die KP-Poli­tik nicht in Zwei­fel zie­hen; die »neue Klas­se« hat ihre kom­mu­nis­ti­sche Par­tei­struk­tur also auch hier – frei­lich unter ande­ren Bedin­gun­gen als wei­land 1989ff. in Ost­eu­ro­pa – genutzt, um unter neu­en Para­dig­men der Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­se die pri­vi­le­gier­te Stel­lung zu beto­nie­ren. Die­se wird – einst­wei­len – wei­test­ge­hend von der Bevöl­ke­rung akzeptiert.

Dome­ni­co Losur­do weist – ähn­lich wie Dji­las 60 Jah­re vor ihm – auf eine »ver­selb­stän­dig­te poli­ti­sche Schicht« (d.i. die neue Klas­se) hin, »die jedoch, anders als in Ost­eu­ro­pa gesche­hen, wei­ter­hin gro­ßes Anse­hen auf­grund des Umstands genießt, die Sache der natio­na­len Eman­zi­pa­ti­on zu ver­kör­pern«. Die natio­na­le Fra­ge Chi­nas als Behaup­tung der eige­nen Grö­ße im Welt­ge­sche­hen ver­schafft der Füh­rungs­schicht wei­ter­hin Legi­ti­ma­ti­on, die bis in die Betrie­be hin­ein spür­bar ist.

Die Macht des Pri­vat­ei­gen­tums der neu­en Klas­se hat in die­sem Kon­text zumin­dest eine kla­re Gren­ze: das natio­na­le Inter­es­se. Die chi­ne­si­sche Füh­rung ver­sucht, folgt man die­ser Deu­tung, das per­sön­li­che kapi­ta­lis­ti­sche Pro­fit­stre­ben zu akti­vie­ren, gleich­zei­tig aber all­ge­mei­nen, also chi­ne­sisch-natio­na­len Zie­len unter­zu­ord­nen. Ob die­ser wider­sprüch­li­che und höchst dif­fi­zi­le Ver­such, den dyna­mischs­ten aller Tiger – die ent­fes­sel­te chi­ne­si­sche Vari­an­te des moder­nen Kapi­ta­lis­mus – zu rei­ten, auch wei­ter­hin gelingt, bleibt abzu­war­ten. Der­zeit ist die von der KP beauf­sich­tig­te chi­ne­si­sche Öko­no­mie nichts Gerin­ge­res als die »Wachs­tums­lo­ko­mo­ti­ve des Welt­ka­pi­ta­lis­mus« (Wolf­gang Fritz Haug).

Doch die Schat­ten­sei­ten des immensen und kon­stan­ten Wachs­tums- schubs der chi­ne­si­schen Wirt­schaft und der Reich­tums­ak­ku­mu­la­ti­on seit 1978 sind bereits jetzt ein zuneh­men­des Pro­blem für die Füh­rung. Zwar wur­den seit den Refor­men schät­zungs­wei­se bis zu 500 Mil­lio­nen (!) Men­schen aus Hun­ger und Armut befreit, doch haben sich neue Pro­ble­me er- geben, die nicht ohne wei­te­res durch ambi­tio­nier­te Par­tei­tags­be­schlüs­se zu über­win­den sind: Die reichs­ten ein Pro­zent der Haus­hal­te besit­zen ein Drit­tel des Gesamt­ver­mö­gens, das ärms­te Vier­tel dage­gen nur ein Pro­zent. Beson­ders gefähr­lich für die inne­re Sta­bi­li­tät Chi­nas: Die Land- Stadt-Dicho­to­mie spitzt sich zu. Nicht nur, weil man mitt­ler­wei­le von bis zu 150 Mil­lio­nen Wan­der­ar­bei­tern aus­ge­hen muß, die vaga­bun­die­rend und rechts­un­si­cher leben, weil das soge­nann­te Hukou-Sys­tem es bei­na­he unmög­lich macht, ein stän­di­ges Auf­ent­halts­recht in den Städ­ten zu erhalten.

Auch mate­ri­ell ist das Gefäl­le zwi­schen Stadt und Land gewal­tig: Das durch­schnitt­lich ver­füg­ba­re jähr­li­che Ein­kom­men auf dem Land, wo die Mehr­zahl der 12,5 Pro­zent Chi­ne­sen lebt, die »mehr­di­men­sio­na­ler Armut« aus­ge­setzt sind (gemes­sen an Bil­dung, Gesund­heit, Lebens­qua­li­tät), betrug 2016/2017 nur ca. 9800 Yuan, in der Stadt hin­ge­gen fast das Drei­fa­che: 27.000 Yuan (ein Euro ent­spricht ca. 7,7 Yuan).

Es ver­wun­dert nicht, daß ange­sichts der neu­en Ungleich­heit in Chi­na – durch­aus par­tei­loya­le – For­scher wie Chen Gui­di und Wu Chun­tao die Bau­ern als die »typi­schen Ver­lie­rer der chi­ne­si­schen Gesell­schaft« bezeich­nen, und daß die Sino­lo­gin Ylva Mon­schein die »Stadt-Land-Segre­ga­ti­on der Volks­re­pu­blik« als »die Achil­les­fer­se ihrer heu­ti­gen Sta­bi­li­tät« ansieht.

Der feh­len­de sozia­le Aus­gleich droht die posi­ti­ve Stim­mung im Rie­sen­reich vie­ler­orts zu kip­pen; ers­te Pro­test­wel­len wur­den bereits regis­triert: sie rich­te­ten sich, so Chen und Wu, gegen die »Pfann­ku­chen­ge­sich­ter von Kadern«, die durch unrecht­mä­ßi­ge Behand­lung der Bau­ern und zur Schau gestell­te Pri­vi­le­gi­en Wut auf sich ziehen.
Die bereits erwähn­te Dezen­tra­li­sie­rung der öko­no­mi­schen Macht­zen­tren bringt also auch sol­che Wider­sprü­che her­vor, die zusätz­lich dadurch­ver­stärkt wer­den, daß sich die städ­ti­sche und unter­neh­me­ri­sche Eli­te aus der neu­en Klas­se vor allem dem Export­ge­schäft sowie inter­na­tio­na­len Groß­pro­jek­ten wid­met und dadurch die länd­li­chen Räu­me wei­ter ins Hin­ter­tref­fen der Auf­merk­sam­keit gera­ten. Der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Uwe Hoe­ring nennt dies die »Going-global«-Strategie, die von der Staats- und Par­tei­füh­rung begüns­tigt wird. Man ver­knüp­fe »die Not­wen­dig­keit wei­te­rer kapi­ta­lis­ti­scher Expan­si­on der chi­ne­si­schen Wirt­schaft wir­kungs­voll mit dem Macht­er­hal­tungs­trieb der Führungseliten«.

Die­se Füh­rungs­eli­ten kön­nen nun ange­sichts des schier uner­meß­li­chen Poten­ti­als an wider­stän­di­ger Mas­se auf repres­si­ve Maß­nah­men nicht ver­zich­ten. Sie tun es denn auch nicht, nut­zen aber bis dato unvor­stell­ba­re Mög­lich­kei­ten, die ihnen das digi­ta­le Zeit­al­ter mit sei­ner unein­ge­schränk­ten »Macht der Daten« (vgl. Sezes­si­on 78) bietet. 

Die chi­ne­si­sche Füh­rung arbei­tet ziel­stre­big auf das soge­nann­te Social Cre­dit Sys­tem (SCS) hin, das ab 2020 für alle Chi­ne­sen ver­pflich­tend sein soll. Es ist die real­exis­tie­ren­de Dys­to­pie in sta­tus nas­cen­di: Die­ses Gesell- schafts­ran­king über­wacht alles, »Ein­käu­fe, Zah­lungs­fä­hig­keit, Pünkt­lich­keit am Arbeits­platz, TV- und Video­spiel­kon­sum. Die gesam­mel­ten Daten erge­ben ein indi­vi­du­el­les Ran­king, das öffent­lich zugäng­lich ist und die ›Ver­trau­ens­wür­dig­keit‹ von 1,3 Mil­li­ar­den Chi­ne­sen abbil­den soll«, wie Jul­jan Krau­se, der an der Uni­ver­si­tät Sout­hamp­ton zum Big- Data-Kom­plex forscht, zusammenfaßt.

Das Ziel, das die chi­ne­si­sche Regie­rung vor­gibt zu erlan­gen, sei »eine Kul­tur der Ehr­lich­keit und des Ver­trau­ens zu errich­ten«. Tota­le Trans­pa­renz und Kon­trol­le wer­den mora­lisch begrün­det: Der Cir­cle von Dave Eggers kann als Blau­pau­se gele­sen werden.
Vor allem auch für das Poli­ti­sche droht eine ekla­tan­te Zäsur, denn Kon­takt zu »nicht ver­trau­ens­wür­di­gen« Per­so­nen sorgt für Punkt­ab­zü­ge, die jeder­mann öffent­lich ein­se­hen kann. Ange­sichts der Ver­faßt­heit des Män­gel­we­sens Mensch und sei­nem Stre­ben nach Unauf­fäl­lig­keit und Akzep­tanz durch sei­ne Umge­bung ist damit zu rech­nen, daß anders­den­ken­de Akteu­re effek­tiv sozi­al iso­liert wer­den kön­nen, zumal in einem tra­di­tio­nell auto­ri­täts­ori­en­tier­ten Land wie China.

Was auf den ers­ten Blick abschre­ckend wirkt, stößt dort bereits vor 2020 auf gro­ßes Inter­es­se: Mil­lio­nen Chi­ne­sen in über 40 Test­re­gio­nen nut­zen das SCS schon jetzt – frei­wil­lig, als Zei­chen ihres guten Wil­lens. Sie las­sen sich auch davon nicht abschre­cken, daß bei schlech­ten Wer­ten der Erwerb einer Woh­nung oder der Kin­der­gar­ten­platz unmög­lich wird, daß Ver­si­che­run­gen den Abschluß ver­wei­gern dür­fen, daß die Kre­dit­wür­dig­keit anhand des Ran­kings beur­teilt wird, ja daß das sozia­le Boni­täts­sys­tem auch dort ein­greift, wo sich der Nut­zer ganz im Pri­va­ten wähnt: In sozia­len Netz­wer­ken wie auch in Mes­sen­ger-Diens­ten sor­gen fort­an regie­rungs­kri­ti­sche Kom­men­ta­re eben­so für Punkt­ver­lust wie man­geln­der Besuch bereits erwach­se­ner Kin­der bei ihren Eltern.

Jeder Bür­ger star­tet dabei mit 1000 Punk­ten. Die bes­te Stu­fe erreicht man bereits ab 1050 Punk­ten (»AAA«), die schlech­tes­te bei unter
599 Punk­ten (»D«). Mit A‑Bewertung gelangt man auf eine rote Lis­te, mit D auf eine schwar­ze. Die Zwi­schen­grup­pen um die Ein­stu­fung C wer­den regel­mä­ßi­ger kon­trol­liert. Die Fol­gen sind – noch – unab­seh­bar, aber schon jetzt darf bezwei­felt wer­den, daß das Punk­te­sys­tem aus Daten­samm­lung, ‑kon­trol­le, ‑bewer­tung samt fol­gen­der Beloh­nung respek­ti­ve Bestra­fung dem alten Ide­al der »har­mo­ni­schen Gesell­schaft« wirk­lich entspricht.

Sicher ist, daß die VR Chi­na damit glo­bal gese­hen Vor­rei­ter der digi­ta­len Umge­stal­tung des Über­wa­chungs­staats in alle Sphä­ren der Gesell­schaft hin­ein ist. Die neue Klas­se setzt um, die Bür­ger fol­gen bereit­wil­lig, weil die Inter­es­sen – ein mora­lisch sau­be­res, erfolg­rei­ches, pro­spe­rie­ren­des Chi­na – deckungs­gleich wir­ken. Inter­es­sant für den sozia­len Zusam­men­halt in Chi­na wird es dann, wenn die »Klas­sen­in­ter­es­sen« der Füh­rungs­eli­te nach vor­läu­fi­gem Abschluß der erfolg­rei­chen öko­no­mi­schen Nach­hol­be­we­gung nicht mehr deckungs­gleich mit jenen Inter­es­sen ver­schie­de­ner ande­rer Schich­ten sein wird.

In even­tu­ell auf­kom­men­den poli­ti­schen Kämp­fen um Ver­tei­lung, Teil­ha­be oder Ein­fluß droht dann das böse Erwa­chen sei­tens der Dis­si­den­ten: die tota­le Über­wa­chung wäre bereits instal­liert, nach­hal­ti­ge Oppo­si­ti­on unmög­lich. Daß ent­spre­chen­de Ent­wick­lun­gen in Deutsch­land und Euro­pa gar nicht erst for­ciert wer­den kön­nen, bedarf prä­ven­ti­ver Ana­ly­se und Aufklärung.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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