Ein Teil dieses Diskurses sollte auch die Beschäftigung mit der Pflegesituation im jetzigen Deutschland sein. Denn wie die Gesellschaft und Nation mit pflegebedürftigen Menschen umgeht, berührt den Kern der sozialen Frage bzw. den Kern des solidarischen Zusammenhalts einer Gemeinschaft.
Ein wie auch immer gearteter Sozialstaat scheint nur im Nationalstaat umsetzbar zu sein. Dies bringt Lothar Fritze in Der böse gute Wille treffend auf den Punkt:
„Im Sozialstaat ist eine Solidarität gefordert, die nicht auf einem Kosten-Nutzen-Kalkül beruht. Zu vermuten ist, daß die Akzeptanz von Solidaritätszumutungen – unter sonst gleichen Bedingungen – mit der kulturellen Homogenität der Gemeinschaft und dem Grad des Zusammengehörigkeitsgefühls ihrer Mitglieder wächst.“
Und weiter:
„Ein Wir-Gefühl ist daher auch in dieser Hinsicht eine elementare Voraussetzung, um eine hinreichende Bereitschaft zu entwickeln, für den anderen einzustehen.“ … „Auf der Basis eines solchen Wir-Gefühls entsteht die Vorstellung von einem Gemeinwohl, und es wächst die Bereitschaft, Risiken und Lasten gemeinsam zu tragen. Einerseits korreliert die Opferbereitschaft mit dem Grad wechselseitiger Identifizierung, andererseits verringert eine wachsende kulturelle Diversität die Umverteilungsbereitschaft.“
Als Beispiel für diese These kann die Aufnahme von Millionen deutschen Heimatvertriebenen nach Ende des 2. Weltkrieges dienen. Dieser Prozeß war weder für die Heimatvertriebenen noch für die aufnehmende Bevölkerung im verbliebenen Rest-Deutschland leicht. Daß es gelingen konnte, war schlicht der Tatsache geschuldet, daß hier Deutsche anderen Deutschen halfen. (Schon allein wegen dieser Tatsache verbietet sich jedweder Vergleich mit der aktuellen Migrationskrise.) Später sah man etwa bei Hochwasserkatastrophen stets Deutsche anderen Deutschen helfen. Anpackende Migranten mit einem Sandsack in der Hand sah man selbst in den Gebühren-Sendern nicht. Hätte es sie gegeben, hätten wir sie auch präsentiert bekommen. Zurück zum Thema der Pflegesituation:
Im Kontext dieses Artikels geht es um die professionelle Pflege. Auf die Laienpflege soll nur kurz eingegangen werden. Die meisten beruflich Pflegenden arbeiten in folgenden Bereichen:
- Krankenhaus,
- stationäre und/oder teilstationäre Langzeitpflegeeinrichtungen (Altenheim, Pflegeheim, Tagespflege),
- ambulante Pflegedienste.
Generell ist festzustellen, daß sowohl immer mehr alte pflegebedürftige Menschen in Krankenhäusern behandelt werden, als auch immer mehr Menschen in Altenpflegeeinrichtungen medizinische Probleme haben (Wunden, Diabetes, künstliche Ernährung etc.).
Daher war es richtig, eine grundständige umfassende 3‑jährige Pflegeausbildung zu schaffen und die starre Trennung zwischen Alten‑, Kranken- und Kinderkrankenpflege aufzugeben. Dies ist vor allem für die Altenpflege eine Aufwertung als Beruf (bisher z.T. je nach Bundesland 2‑jährige Ausbildung).
So verwundert es wenig, daß gerade die privaten Pflegeeinrichtungen gegen das neue Pflegeberufegesetz polemisiert haben. Denn eine Aufwertung der Altenpflege birgt die Gefahr, daß diese Berufsgruppe mehr Geld verdienen möchte. Dann bliebe den Gesellschaftern und Aktionären von großen Altenheimketten weniger Rendite.
Pflege wird im Wesentlichen aus der Krankenversicherung und der Pflegepflichtversicherung finanziert. Dabei sind Leistungen der Krankenversicherung eine Vollkaskoversicherung (alle pflegerischen Leistungen im Krankenhaus, verordnete Pflegeleistungen wie Wundverbände oder Insulininjektionen in Pflegeeinrichtungen oder bei ambulanter Pflege) und Leistungen der Pflegeversicherung eine Teilkaskoversicherung (Körperwäsche, Esseneingabe, Unterstützung bei der Ausscheidung in Pflegeeinrichtungen oder bei ambulanter Pflege). Der Umstand der Teilkaskoversicherung wurde bei Einführung der Pflegeversicherung vor über 20 Jahren geflissentlich von Politikern beschwiegen und ist in den Köpfen der Bevölkerung nicht wirklich präsent. Beim höchsten Pflegegrad 5 übernimmt die Versicherung maximal 2005 €/Monat.
Jeder darf sich gern ausrechnen, wieviele Stunden Pflege er für 2005.- Euro erhält, wenn er maximal pflegebedürftig ist. Es darf gern mit dem üblichen Stundenlohn eines Handwerkers gerechnet werden. Oder sollten beruflich Pflegende, denen wir unsere liebsten Menschen anvertrauen, etwa weniger verdienen als derjenige, der unser Auto repariert?
Dieser Umstand der Teilkaskoversicherung kann dazu führen, daß Pflegeleistungen vom Pflegebedürftigen selbst oder seinen Angehörigen rationiert werden. Denn wenn Pflegegeld und Rente nicht ausreichen, um die Pflegeleistungen zu bezahlen, muß das Ersparte dafür verwendet werden oder Hilfe zur Pflege (Sozialhilfe – SGB XII) beantragt werden. Dabei ist zu beachten, daß Sozialhilfe erst dann gewährt wird, wenn das Ersparte bis zu einem Sockelbetrag aufgebraucht ist und daß auch die Kinder auf eine Unterhaltsverpflichtung hin überprüft werden.
Was bei der Debatte oft vergessen wird, ist die Tatsache, daß die Leistungen zur Pflegeversicherung seit Jahren auf dem gleichen Niveau (siehe oben) eingefroren sind, die Kosten für die Pflege aber immer weiter steigen (Pflegesätze, Fahrtkosten etc.). Diese Preissteigerungen sind den Pflegeeinrichtungen nicht zum Vorwurf zu machen, auch sie müssen wirtschaften und sehen sich mit Preissteigerungen konfrontiert (Löhne, Energie, Datenschutz etc.).
Jede Rentenerhöhung bei Pflegebedürftigen gleicht daher nur eine evtl. Zuzahlung zu den Pflegeleistungen aus, schafft aber keine wirtschaftliche Verbesserung für den Einzelnen, solange der Staat nicht die Leistungen pro Pflegegrad anhebt. Dieser Aspekt sollte gerade unter dem Aspekt der „Rund-um-Versorgung“ von seit 2015 ins Land gereisten Neubürgern immer wieder thematisiert werden. Ein minderjähriger unbegleiteter Flüchtling erhält nahezu eine 24-Stunden-Rundum-Versorgung, ein dementer Deutscher, welcher sein Leben lang arbeitete, darf froh sein, wenn er sich im Altenheim nicht wundliegt.
Diese offensichtliche Schieflage führt zu folgenden Kernfragen:
- Welche Art von Pflege möchten wir uns als Gesellschaft leisten – „Satt und sauber“ = billig oder menschenwürdig/menschengerecht = teuer?
- Ist Pflege Teil der staatlichen Daseinsvorsorge, oder überlassen wir deren Ausgestaltung dem freien Markt?
Stellt man den Sozialstaat wieder vom Kopf auf die Füße und kehrt zum Nationalstaatsprinzip zurück, sind diese Fragen leicht zu beantworten. Denn dann haben nur Deutsche vollen Anspruch auf Sozialleistungen – und zwar grundsätzlich und egal, wieviel sie eingezahlt haben. Denn wie Lothar Fritze schreibt, ist Solidarität losgelöst vom Kosten-Nutzen-Kalkül. Grundsätzlich keinen Anspruch auf deutsche Sozialleistungen hätten Nicht-Deutsche. Sie könnten diesen Anspruch nur erwerben für die Zeit, in der sie Beiträge im Lande zahlen oder sich privat versichern. Dieses Vorgehen würde die Kosten der Sozialversicherung erheblich senken.
Zu 1.)
„Satt und sauber“ meint eine Pflege, die einer Verwahrung von Pflegebedürftigen gleichkommt. Sie werden ernährt und gewaschen, müssen nicht frieren und haben ein Bett, aber Dinge wie Zuwendung und Rücksicht auf individuelle Bedürfnisse sind nicht inkludiert. Diese Art von Pflege ist mit wenig qualifizierten und motivierten Personal möglich, dementsprechend günstig könnte sie erbracht werden. Nur ein Beispiel: Eine Bewohnerin ist nachts immer wach und kann nicht schlafen, sie schreit und stöhnt. Sie war es zu Hause gewohnt, auf dem Bauch zu schlafen. In der Pflegeeinrichtung wird sie immer auf den Rücken gelegt. Die Lagerung auf dem Bauch ist halt schwieriger, man benötigt fast immer zwei Pflegekräfte. Da sind Schlaftabletten kostengünstiger.
Zu 2.)
Mit Einführung der Pflegeversicherung vor über 20 Jahren schuf man im Bereich der Pflege außerhalb des Krankenhauses einen Pseudo-Markt. Auf der einen Seite reguliert der Staat bzw. die von ihm beauftragten Pflegekassen die Preise, auf der anderen Seite könne Pflegeleistungen von jedem, der bestimmte Voraussetzungen erfüllt, angeboten werden. Hier kommen nahezu alle Unternehmensformen vor – vom Einzelunternehmer über karitative Vereine bis hin zu Aktiengesellschaften. Bei vom Staat quasi regulierten Preisen im personalintensiven Dienstleistungssektor Pflege können Gewinne und Dividende wohl kaum über eine individuelle menschengerechte Pflege erwirtschaftet werden. Zudem ist für den Autor unverständlich, warum mit Geld der Allgemeinheit (Beiträge zur gesetzlichen Pflegeversicherung) Gewinne erwirtschaftet werden dürfen und wieso diese nicht zu 100% den Pflegebedürftigen zu Gute kommen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, daß das jetzige System nur belegte Plätze in den Einrichtungen vergütet. D.h. bei der jetzigen Ausgestaltung entsteht für die Anbieter von Pflegeheimen, Kurzzeitpflegen, Tagespflegen etc. kein wirtschaftlicher Anreiz Pflegeplätze vorzuhalten. Dies führt wiederrum zu der Situation, daß die Versorgung nach Krankenhausaufenthalten oder bei akuter Verschlechterung der Pflegesituation oft nicht gewährleistet ist. Hier gilt es kritisch zu hinterfragen, ob nicht das Vorhalten von Pflegeplätzen Teil der staatlichen Daseinsvorsorge ist, ähnlich wie das Bereitstellen von Trinkwasser und Energie. Möglich wäre auch, daß der Staat den Verdienstausfall der Angehörigen übernimmt, wenn diese die Pflege übernehmen.
Der Pflege- und Betreuungsnotstand in der BRD ist schon jetzt traurige Realität. Zum einen steigt der Anteil der pflegebedürftigen Alten, zum anderen existieren die bewährten Auffangmechanismen nicht mehr, da die traditionelle Familie oft nicht mehr zur Verfügung steht. Laut Tagesschau vom 14.03.19 arbeiten in der BRD ca. 150.000 Pflegekräfte (meist aus Osteuropa) schwarz in unseren Haushalten. Fazit: Diese Schwarzarbeit ist eine tragende Säule im Pflegesystem. Würde man diese Schwarzarbeit konsequent verfolgen, würde das System kollabieren. Die Kosten der Pflegeversicherung würden explodieren. Der Autor ist der festen Überzeugung, daß es lediglich am politischen Willen fehlt, das Thema Pflegenotstand anzupacken. Denn für Flüchtlingskrise, Euro-Rettung und erneuerbare Energien wurden in den letzten Jahren Milliardenbeträge im Haushalt „gefunden“. Zur Finanzierung der Pflege hätte zum Beispiel einfach die Umwidmung des Solidaritätszuschlages in einen Pflege-Soli gereicht. Aber das war nicht auf der politischen Agenda.
Dieser Artikel ist zunächst in der Februarausgabe der Zeitschrift Recherche D erschienen.
Lotta Vorbeck
@Frieda Helbig
Gut daß sich mit Ihnen jemand dieses Themas annimmt, der wie zuvor der Autor des Netztagebucheintrages "Marshallplan für Afrika" über fundierte, eigene, den Diskussionsgegenstand betreffende Erfahrungen verfügt.
"Denn für Flüchtlingskrise, Euro-Rettung und erneuerbare Energien wurden in den letzten Jahren Milliardenbeträge im Haushalt „gefunden“. Zur Finanzierung der Pflege hätte zum Beispiel einfach die Umwidmung des Solidaritätszuschlages in einen Pflege-Soli gereicht." [FH]
So ist es, denn: “Nicht an ihren Worten, an ihren Taten sollt Ihr sie erkennen!"