Vor dem Bücherschrank (XIV). Reinhold Schneider, Wächter der Kron

PDF der Druckfassung aus Sezession 83/April 2018

Vom ers­ten Bücher­schrank an wur­de hier schon mehr­mals, und nicht zufäl­lig, auf die Schrif­ten des Autors und Frie­dens­preis­trä­gers Rein­hold Schnei­der Bezug genom­men, etwa auf sei­ne berühm­te Erzäh­lung Las Casas vor Karl V. (1938) oder auf den ein­dring­li­chen, tief­grün­di­gen Essay Was ist Geschich­te? von 1944 (vgl. Sezes­si­on 55, 59, 68, 70). Vor sech­zig Jah­ren, am 6. April 1958, ist Schnei­der in Frei­burg i.Br. ver­stor­ben. Anlaß genug, noch ein­mal einen genaue­ren Blick auf sein umfang­rei­ches Werk zu werfen.
Drei­ßig Jah­re lang, von 1928 bis 1958, war der Autor in allen Gat­tun­gen aktiv, wir fin­den Gedich­te, Dra­men, Essays, län­ge­re und kür­ze­re Erzähl­tex­te, Geschichts­wer­ke, Hei­li­gen­dar­stel­lun­gen, Tage­bü­cher, auto­bio­gra­phi­sche Tex­te, Vor­trä­ge. Aus die­ser Viel­zahl sei­en hier drei reprä­sen­ta­ti­ve Bei­spie­le vor­ge­stellt, aus drei Jahr­zehn­ten und drei unter­schied­li­chen Gat­tun­gen: Kai­ser Lothars Kro­ne. Leben und Herr­schaft Lothars von Sup­plin­burg (1937), Das Vater­un­ser (1941) und Inno­zenz und Fran­zis­kus (1952).

Als über­zeug­ter Mon­ar­chist teil­te Rein­hold Schnei­der die Ableh­nung von libe­ra­ler Demo­kra­tie und Repu­blik mit ande­ren Ver­tre­tern der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on, und Armin Moh­ler rech­ne­te ihn zurecht zu den »Reichs­ka­tho­li­schen Dich­tern« – denn das Reich war ihm immer noch der »höchs­te deut­sche Wert«.
Doch nahm Schnei­der eine Son­der­stel­lung ein, was vor allem an sei­ner Begeis­te­rung für die, ja Iden­ti­fi­zie­rung mit den ibe­ri­schen Kul­tu­ren lag: Fas­zi­niert von der por­tu­gie­si­schen und spa­ni­schen Geschich­te, von Luís de Camões und Phil­ipp II., von Belém und vom Escori­al, von Cas­cais und Tole­do, und auf­ge­la­den mit dem gan­zen kul­tu- rel­len Gewicht die­ser könig­li­chen, kai­ser­li­chen Geschich­te, muß­ten Schnei­der jene har­ten natio­na­lis­ti­schen Töne eini­ger­ma­ßen fremd blei­ben, die für man­chen Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­tio­när doch typisch waren.

Im Unter­schied etwa zu Wil­helm Sta­pel, der die »natio­na­le Revo­lu­ti­on« gewollt und mit her­bei­ge­schrie­ben hat­te, um dann nach 1933 mit den sich zwangs­läu­fig ein­stel­len­den Ent­täu­schun­gen fer­tig zu wer­den, hat­te Schnei­der schon im Dezem­ber 1931 im Tage­buch notiert, daß eine »Bewe­gung wie die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche nur zur Kata­stro­phe füh­ren« könne.

Von sei­nen Rei­se in den Süden in jenes »tra­gi­sche Reich« zurück­ge­kehrt, hoff­te Schnei­der noch auf die Restau­ra­ti­on, so dif­fus die­se Hoff­nung auch gewe­sen sein mag und so wenig die kon­kre­te poli­ti­sche Opti­on in Form von Alfred Hugen­bergs und Franz von Papens »Kampf­front Schwarz-Weiß- Rot« bei der Wahl vom 5. März 1933 Begeis­te­rungs­stür­me aus­zu­lö­sen ver­moch­te. Da waren die Wür­fel aber längst gefallen.

Sei­nen bei­den Büchern zur por­tu­gie­si­schen und spa­ni­schen Geschich­te Camões und Phil­ipp II. stell­te Schnei­der Das Insel­reich. Gesetz und Grö­ße der bri­ti­schen Macht (1936) zur Sei­te, wid­me­te sich in die­sen Jah­ren aber in vier Büchern auch inten­siv der deut­schen Geschich­te: noch 1932 mit Fich­te. Der Weg zur Nati­on, dann mit den Hohen­zol­lern. Tra­gik und König­tum (1933), gefolgt von den Skiz­zen Auf Wegen deut­scher Geschich­te. Eine Fahrt ins Reich (1934), bevor er sich 1937 eine fast ver­ges­se­ne Gestalt der deut­schen Geschich­te als Sujet wähl­te: Lo- thar III., der seit 1125 deut­scher König und von 1133 bis zu sei­nem Tod 1137 römisch-deut­scher Kai­ser war.

Wer die­se Bücher heu­te auf­schlägt, kann ei- nen deut­schen Geist atmen, der in sei­ner Fein­ner­vigkeit so gar nichts zu tun hat mit der Inbe­sitz­nah­me des Deut­schen durch die Nazis – dar­in sind Schnei­ders Arbei­ten, der in die­sen Jah­ren im engen Kon­takt stand mit allen nam­haf­ten Reprä­sen­tan­ten des kon­ser­va­ti­ven, ins­be­son­de­re mon­ar­chis­ti­schen Wider­stands, u.a. mit Karl Lud­wig Frei­herrn von und zu Gut­ten­berg, Hel­muth James von Molt­ke, Graf Schenk von Stauf­fen­berg oder Peter Graf Yorck von War­ten­burg, am ehes­ten der gran­dio­sen Deut­schen Geschich­te von Ricar­da Huch ver­wandt und ver­gleich­bar, einem Werk, das eben­falls spür­bar gegen den nie­de­ren Zeit­geist entstand.

Lothar III. also. War­um gera­de die­ser Kai­ser, des­sen weni­ge Jah­re der Herr­schaft nur als Inter­mez­zo zwi­schen Sali­ern und Stau­fern erschei­nen? In der his­to­ri­schen For­schung des 19. Jahr­hun­derts ist man zu einer nega­ti­ven Ein­schät­zung sei­ner Regent­schaft gekommen.

Wie der Medi­ävist Wil­fried Hart­mann im Vor­wort der Neu­aus­ga­be von Schnei­ders Buch (1986) schreibt, sah man in Lothar lan­ge Zeit nur den »Pfaf­fen­kö­nig«, einen Regen­ten, der »den Inter­es­sen der Kir­che dienst­bar war«. Eben Schnei­der war es, der die­se Wahr­neh­mung hin­ter sich ließ und einer neu­en Inter­pre­ta­ti­on den Weg berei­te­te. Er sei, so Hart­mann, »zu einer Ein­schät­zung Lothars gelangt, die mit der jün­ge­ren For­schung übereinstimmt«.
Der Kern die­ser neu­en Ein­schät­zung muß in Lothars Über­zeu­gung gese­hen wer­den, eine Poli­tik nicht gegen den Papst, son­dern mit dem Papst zu gestal­ten. Wenn Schnei­der also schon auf den ers­ten Sei­ten sei­nes Werks schreibt: »Das Volk betrau­er­te und beklag­te den Begrün­der und Wah­rer des Frie­dens« – dann haben wir bereits zwei Moti­ve, die Lothar für Schnei­der so rele­vant machten.
Er hat ein Bild eines Herr­schers gemalt, der sich, einer höhe­ren Macht bewußt, aus sei­ner Fröm­mig­keit her­aus für das gemein­sa­me Ziel von Kai­ser­tum und Papst­tum ein­setz­te und sei­nem Volk – im Unter­schied zu sei­nen Vor­läu­fern und Nach­fol­gern – kei­ne neu­en Kriegs­zü­ge, son­dern den Frie­den brin­gen woll­te. Alle »soll­ten sich dar­an erin­nern, daß ein­mal Frie­de war, als der Sup­plin­bur­ger herrsch­te, und daß das Reich ein­mal Wirk­lich­keit gewesen«.

Ein Ide­al, das in argem Kon­trast stand zu jenen Herr­schern des Jah­res 1937, die weder einer höhe­ren Macht gehorch­ten noch dem Reich Frie­den brin­gen sollten.
Der­weil stand Schnei­der im Brief­wech­sel mit dem Phi­lo­so­phen und Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­ler Leo­pold Zieg­ler, mit einem der bedeu­tends­ten Ver­tre­ter der Inte­gra­len Tra­di­ti­on und gewis­ser­ma­ßen dem deut­schen René Gué­non (noch immer lohnt die Lek­tü­re Über die tra­di­tio­nel­le Metho­de Wal­ter Hein­richs aus dem Jahr 1954, in der er über Zieg­ler handelt).
Zieg­lers Anmer­kung zum Lothar-Buch läßt ein wenig die Asso­zia­ti­ons­wei­te und geis­ti­ge Spann­kraft die­ses Dia­logs erken­nen: »Im Grun­de wuß­te ich von die­sem letz­ten Sach­sen­kai­ser zwi­schen Sali­ern und Stau­fern so gut wie nichts. Jetzt bin ich ergrif­fen über die­sen beglü­cken­den Anblick einer frei­en Schwe­bung über den Gegen­sät­zen, der die Erfül­lung ahnen läßt kurz bevor sie end­gül­tig ver­scherzt ist.
In man­chem, das ich seit Jah­ren mit mir her­um­tra­ge, weiß ich mich bestärkt, und es wird viel­leicht ein­mal davon zu reden sein, daß es das Ver­häng­nis des Abend­lan­des war, die über­lie­fer­te Leh­re von den zwei Gewal­ten, der auto­ri­té spi­ri­tu­el­le und dem pou­voir tem­po­rel, nicht tief und rich­tig genug zu erfassen.
Und wie­der wäl­ze ich den Gedan­ken eines neu­en Mit­tel­al­ters, das nach der bevor­ste­hen­den Kata­stro­phe, in einer gerei­nig­ten Welt, dort wei­ter­macht, wo das ers­te Mit­tel­al­ter schei­ter­te. Eigent­lich erst dort hät­te Lothar sei­nen ›geis­ti­gen Ort‹, und die künf­ti­gen Herr­scher des ›Rei­ches‹ könn­ten ihn als eine tem­po­rä­re Vor­weg­nah­me preisen.«
Im Jahr der Ver­öf­fent­li­chung des Lothar- Buchs durch­leb­te Schnei­der sei­ne fun­da­men­ta­le Rever­si­on, sei­ne Rück­kehr zur Katho­li­schen Kir­che, die er rück­bli­ckend wie folgt beschreibt. »An einem Neu­jahrs­tag, 37 oder 38, ging ich in Pots­dam zum ersten­mal zur Hei­li­gen Mes­se seit viel­leicht zwan­zig Jah­ren. Ich kam wie einer, der die Spra­che ver­lernt hat, in die Hei­mat. Aber ich hat­te die Spra­che der Hei­mat nie erlernt, und nun, lang­sam, indem sich mir alle Lebens­um­stän­de umkehr­ten, ver­such­te ich sie zu lernen.
Ich war auf objek­ti­ve Wahr­heit gesto­ßen, die Wahr­heit in Fleisch und Blut und zugleich gött­li­che außer­welt­li­che Macht. Sie ist für mich die ein­zi­ge Macht, die ein Leben aus den Angeln heben kann.«
Seit die­sem Zeit­punkt ver­or­te­te Schnei­der sei­ne Lite­ra­tur stets in Bezug auf die christ­li­che Wahr­heit, auf die christ­li­che Offen­ba­rung. Es ist nun über­aus erstaun­lich zu beob­ach­ten, wie sich die­se bei­den Geis­tes­grö­ßen, wie Schnei­der und Zieg­ler, zeit­gleich und im Ange­sicht der »bevor­ste­hen­den Kata­stro­phe«, von der Zieg­ler gespro­chen hat­te, dem Vater­un­ser zuwand­ten, um es zu durch­drin­gen und ihrer Zeit auf neue Wei­se nahe­zu­brin­gen. Bei­de Autoren haben die Bit­ten des Vater­un­ser kom­men­tiert, sie sind in den Text ein­ge­drun­gen, in sei­ne Bil­der­welt und sei­ne theo­lo­gi­schen Implikationen.

Schnei­der tat dies auf sei­ne poe­tisch-essay­is­ti­sche Wei­se, Zieg­ler als Wis­sen­schaft­ler und Reprä­sen­tant der Inte­gra­len Tra­di­ti­on. Im Ergeb­nis liegt uns heu­te ein schma­les Buch von Schnei­der vor, Das Vater­un­ser von 1941, mit sei­nen 55 Sei­ten der Erst­aus­ga­be, und die bei­den umfang­rei­chen Bän­de von Zieg­lers Mensch­wer­dung, mit 780 Sei­ten. Zieg­lers opus magnum war 1944 abge­schlos­sen, erschien aber erst 1948 und nur in der Schweiz.

»Ich brin­ge nur noch Stoß­ge­be­te her­aus«, schrieb Schnei­der an Zieg­ler, »als ein sol­ches nötig­te mir ein Freund das Vater­un­ser ab, das in kei­ner Bezie­hung wagt, in die Nähe Ihrer Arbeit zu tre­ten.« So war Schnei­der bewußt, daß Zieg­lers Inter­pre­ta­ti­on in ganz ande­re Dimen­sio­nen vor­sto­ßen soll­te. Schnei­ders Text ist hin- gegen im Kon­text jenes »lite­ra­ri­schen Sani­täts­diens­tes« zu sehen, den der Autor nach Aus­bruch des Krie­ges zunächst legal, dann in der Ille­ga­li­tät leis­te­te: Im Früh­jahr 1944 durch­such­te die Gesta­po Schnei­ders Woh­nung, Schnei­der selbst ver­steck­te sich bis zum Kriegs­en­de, zuletzt in einem evan­ge­li­schen Stift.

Die von ihm ver­faß­ten Bro­schü­ren, Erzäh­lun­gen, Gedich­te, Auf­sät­ze und Por­traits, zu denen auch Das Vater­un­ser gerech­net wer­den kann, las­sen sich als eine Beru­fung auf die christ­li­chen Grund­la­gen und als Mobi­li­sie­rung der christ­li­chen Vor­bil­der gegen die »sata­ni­sche« Macht lesen. Die Hal­tung der Hei­li­gen, die Gna­de der »gehei­lig­ten Leben«, Jesus, Petrus, Fran­zis­kus, Tere­sa von Ávila, Juan de la Cruz, ihr Lei­den und ihr Vor­bild soll­ten wie­der zum Maß­stab einer kran­ken Gegen­wart werden.

»Wir bit­ten in Demut: füh­re uns nicht in Ver­su­chung; schüt­ze uns vor den Wün­schen, die unse­re See­len ver­gif­ten, laß uns in der bit­ters­ten Not auf kei­ne Hil­fe hof­fen als auf die dei­ne! Ver­lö­sche den Glanz, das Blend­werk der Gedan­ken! Zer­brich das Sai­ten­spiel der Betö­rung in unse­rer Hand! Es ist ein Weg, wo wir kei- nen sehen; der Herr selbst ist der Weg; hilf uns, daß wir ihn nicht ver­las­sen. Gehe die­sen Weg in uns! Denn der Ver­su­cher ist tau­send­mal stär­ker als wir; aber dein Sohn hat ihn besiegt, und nur über die Demut, die er war, wird der Ver­su­cher kei­ne Macht erlan­gen.« Man wird die trös­ten­de, hel­fen­de, auf­bau­en­de, ja hei­len­de Wir­kung die­ser Zei­len nicht gering ver­an­schla­gen dür­fen, auf die Ori­en­tie­rung suchen­den Leser der frü­hen 1940er Jahre.

In Bezug auf die­ses Zitat sei eine aktu­el­le Anmer­kung erlaubt. Am 6. Dezem­ber 2017 berich­te­te Radio Vati­kan, Papst Fran­zis­kus habe die sechs­te Vater­un­ser-Bit­te »Und füh­re uns nicht in Ver­su­chung« als »kei­ne gute Über­set­zung« bezeich­net. Es sei nicht Gott, der den Men­schen in Ver­su­chung stür­ze, um dann zuzu­se­hen, wie er fal­le, sag­te der Papst. 

»Ein Vater tut so etwas nicht: ein Vater hilft, sofort wie­der auf­zu­ste­hen. Wer dich in Ver­su­chung führt«, so Fran­zis­kus, »ist Satan.« Was wür­de Schnei­der, was wür­de Zieg­ler zu einer sol­chen dürf­ti­gen Ein­las­sung des Paps­tes sagen? Zunächst wür­den sie dar­auf hin­wei­sen, daß die Über­set­zung der Über­lie­fe­rung völ­lig kor­rekt ist. Hier kann also kaum das Pro­blem liegen.
Jahr­hun­der­te von theo­lo­gi­schen Erör­te­run­gen zum Ver­ständ­nis die­ser Stel­le schei­nen kei­ne Spu­ren bei dem pro­mi­nen­ten und popu­lä­ren Kri­ti­ker hin­ter­las­sen zu haben (was hat etwa Tho­mas von Aquin zu die­ser Stel­le gesagt?), so daß man lei­der nur zur nahe­lie­gends­ten Erklä­rung grei­fen kann: Im Zug der Zeit geht es dem Papst um eine inhalt­li­che Modernisierung.

Mit der Ver­sim­pe­lung die­ser Text­stel­le soll, und es ist trau­rig dies fest­zu­stel­len, ein Got­tes­bild eta­bliert wer­den, das jedem sofort ein­leuch­tet, das dem Zeit­geist ent­spricht und somit gewiß nicht zuviel zu den­ken mit auf den Weg gibt. Gott ist gut und barm­her­zig, ein sol­cher Gott führt nie­man­den in Ver­su­chung, das wäre ja absurd, Punkt. Dif­fe­ren­zier­te­re Betrach­tungs­wei­sen, wie wir sie bei Schnei­der und Zieg­ler fin­den, braucht man dazu dann nicht mehr.

Doch damit wie­der zurück zum eigent­li­chen The­ma. Im Zusam­men­hang mit dem Vater­un­ser von 1941 sei auch noch auf den Kreuz­weg (1942), Die dunk­le Nacht (1943) sowie Das Got­tes­reich in der Zeit (1943/44) hin­ge­wie­sen, auf ver­schie­de­ne essay­is­ti­sche, erzäh­le­ri­sche und lyri­sche Tex­te der letz­ten Kriegs­jah­re, die Schnei­der den Mäch­ten sei­ner Zeit kom­pro­miß­los und ohne vie­le Schnör­kel ent­ge­gen­hielt: »Nun baut der Wahn die töner­nen Paläs­te …«. Es war nur eine Fra­ge der Zeit, bis die­se töner­nen Paläs­te in sich zusam­men­stür­zen mußten.

Nach dem Zusam­men­bruch des Rei­ches, als das Land in Trüm­mern lag, setz­te Schnei­der sei­ne gan­ze »Hoff­nung auf das christ­li­che Abend­land«, in geis­ti­ger Nähe zur Abend­län­di­schen Bewe­gung, in wel­cher unter ande­rem Otto von Habs­burg, Lorenz Kar­di­nal Jae­ger, Hans- Joa­chim von Mer­katz, Emil Fran­zel, Hein­rich Hell­we­ge, Wil­helm Stäh­lin und Freund Wer­ner Ber­gen­gruen (seit 1953 per »Du«) prä­sent waren.

Als publi­zis­ti­sche Platt­form dien­te die Zeit­schrift Neu­es Abend­land, her­aus­ge­ge­ben von Johann Wil­helm Nau­mann (des­sen Ver­lag heu­te noch exis­tiert und seit 1948 die katho­li­sche Tages­post her­aus­bringt). Als Schnei­der aber Kri­tik an der Wie­der­be­waff­nung anmel­de­te (und dazu auch DDR-Publi­ka­tio­nen nutz­te), setz­ten sich die abend­län­di­schen und kirch­li­chen Krei­se teil­wei­se schroff von ihm ab. Schnei­ders Idea­le der Nach­kriegs­jah­re waren somit schon bald mit der Real­po­li­tik zusam­men­ge­sto­ßen, mit sei­ner radi­ka­len Beto­nung des christ­li­chen Anspruchs stand er ange­sichts des wirk­mäch­ti­gen Säku­la­ris­mus in Gestalt der West-Bin­dung, der Wie­der­be­waff­nung und des Wirt­schafts­wun­ders auf ver­lo­re­nem Pos­ten, ein­mal mehr desillusioniert.

Zwi­schen 1945 und 1958 ent­stan­den min­des­tens 130 Essays, Vor­trä­ge, Gedicht­bän­de, Erzäh­lun­gen … und auch acht Dra­men. In Schnei­ders Werk­ge­schich­te fin­det sich das Dra­ma als Gat­tung erst in der Nach­kriegs­zeit, die bekann­tes­ten sind Der gro­ße Ver­zicht (1950) und Inno­zenz und Fran­zis­kus (1952). Fun­da­men­ta­le, dra­ma­ti­sche Kon­flik­te auf dem Thea­ter zu gestal­ten, lag frag­los nahe, man wird aber sofort ver­ste­hen, daß das Publi­kum sei­ne Schwie­rig­kei­ten hat­te, die kom­ple­xen his­to­ri­schen The­men, die Schnei­der wähl­te, auf die Gegen­wart zu bezie­hen, etwa den Amts­ver­zicht bzw. die Abdan­kung von Papst Coeles­tin V. im Jahr 1294, denn mit Bor­chert, Dür­ren­matt oder gar Bek­kett hat­te das alles doch sehr wenig bis nichts zu tun.

Nichts­des­to­we­ni­ger darf die von Heinz Die­ter Ken­ter insze­nier­te Esse­ner Urauf­füh­rung von Inno­zenz und Fran­zis­kus 1954 als lite­ra­risch-gesell­schaft­li­ches Ereig­nis ers­ten Ran­ges betrach­tet wer­den: Vor der umju­bel­ten Pre­mie­re hielt Wer­ner Ber­gen­gruen einen Vor­trag, im Anschluß gab der anwe­sen­de Bun­des­prä­si­dent Theo­dor Heuss einen Empfang.

Der Inno­zenz-Stoff war bei Schnei­der schon seit 1931 prä­sent: Das in die­sem Jahr abge­schlos­se­ne Manu­skript Inno­zenz III. blieb zwar unver­öf­fent­licht (es erschien erst post­hum 1960), hat den Autor aber »zwan­zig Jah­re nicht los­ge­las­sen«, bis das The­ma 1952 wie­der im Dra­ma Inno­zenz und Fran­zis­kus auf­ge­taucht ist.

Es liegt dar­in kein Ant­ago­nis­mus zwi­schen Kro­ne und Tia­ra vor, zwi­schen welt­li­cher und geist­li­cher Macht: Das Stück bezieht sich auf eine inner­kirch­li­che The­ma­tik, die hier aber auch nur in kom­pri­mier­ter Form ange­deu­tet wer­den kann. Papst Inno­zenz III. reprä­sen­tiert die Kir­che als Insti­tu­ti­on, ihre Macht; Fran­zis­kus hin­ge­gen – und so hat­te Schnei­der es bereits 1946 in sei­nem Auf­satz »St. Fran­zis­kus und das Abend­land« betont – steht für die Imi­ta­tio Chris­ti bzw. für die Imi­ta­tio vitae pau­pe­ris Chris­ti, also für die christ­li­che Nach­fol­ge eines der Armut geweih­ten Lebens.

Inno­zenz muß die fal­schen Leh­ren der Katha­rer ver­fol­gen und sich mit den Strei­tig­kei­ten um den deut­schen Thron­fol­ger her­um­schla­gen, er ist also viel­fach ver­wi­ckelt in macht­po­li­ti­sche Fra­gen, deren län­ger­fris­ti­ge Kon­se­quen­zen aber noch gar nicht abzu­se­hen sind. Hier wird ein typi­sches Schnei­der-The­ma ange­schla­gen: die unaus­weich­li­che Ver­stri­ckung von Herr­schaft in Sün­de und in Schuld.

Als der Hei­li­ge Fran­zis­kus an Inno­zenz’ Ster­be­bett erscheint, bekennt der Papst vol­ler Selbst­kri­tik: »Du bist das Reich. Du allein.« Die­ses Reich, das Got­tes­reich, kann nur ver­wirk­licht wer­den in der ent­sa­gen­den, so schwie­ri­gen Nach­fol­ge des Evan­ge­li­ums, in der Nach­fol­ge Chris­ti. In den »gehei­lig­ten Leben« allein, wie eben in jenem des Hei­li­gen Fran­zis­kus, schei­nen die Wahr­heit und die ersehn­te Ret­tung für die Kir­che auf.

Mag das The­ma auch nicht eben en vogue gewe­sen sein, in Varia­tio­nen wird es bis heu­te dis­ku­tiert (Stich­wort »arme Kir­che«). Und der Autor wur­de vor dem Esse­ner Pre­mie­ren­pu­bli­kum auf die Büh­ne gebe­ten: »Heuss klatsch­te unent­wegt, ich konn­te Ken­ter und den Künst­lern auf offe­ner Büh­ne dan­ken, und es ist wohl auf über zwan­zig Vor­hän­ge gekommen.«

Rein­hold Schnei­der war einer der größ­ten Schrift­stel­ler, den Deutsch­land zu bie­ten hat­te. Er war ein muti­ger Mann, ein kon­se­quen­ter Den­ker, ein welt­of­fe­ner Mensch, er trug in sich Pots­dam und Por­tu­gal, Nor­den und Süden, tiefs­te Skep­sis, innigs­ten Glau­ben und kämp­fe­ri­schen Sinn. Was aber alles noch kei­nen gro­ßen Autor gemacht hät­te, wäre er nicht auch ein Sti­list ers­ten Ran­ges gewe­sen, was viel­leicht am bes­ten an den Skiz­zen in Schick­sal und Land­schaft oder auch an sei­nen Sonet­ten abge­le­sen wer­den kann, eine Form, die er meis­ter­lich beherrscht hat.

»Doch wird den Bann zer­bre­chend unge­heu­er / Das Jen­seits vor getäusch­ten Augen klaf­fen / In sei­nem Glut­hauch welkt, was wir geschaf­fen / Und brennt wie Korn in blitz­ge­troff­ner Scheu­er. // Die See­le nur und, was der See­le teu­er / Wird sich der Wer­ke Unter­gang ent­raf­fen / Indes die Kro­nen schmel­zen wie die Waf­fen / Da Licht von oben kommt, von unten Feu­er. // Groß ist der Toten Welt. An ihrem Sau­me / Ist uns­res Wirr­sals flüch­ti­ge Stadt ge- grün­det / Aus der das Feu­er läu­tert, was erle- sen. // Die Edlen thro­nen in ver­klär­tem Rau­me / Hoch­sinn und Lie­be wal­ten treu ver­bün­det / Und Recht ist, was von Anfang Recht gewesen.«

Nicht zuletzt war Rein­hold Schnei­der der Wäch­ter der Kro­ne in einer voll­kom­men »unkö­nig­li­chen Zeit«. Sei­ne Tra­gik lag dar­in, daß das Not­wen­di­ge längst unmög­lich gewor­den war. »Ich habe«, so schrieb Schnei­der rück­blik­kend in Ver­hüll­ter Tag (1954), »einen gro­ßen Teil mei­ner Lebens­ar­beit auf die Kro­ne gerich­tet in der Absicht, an ihrer inne­ren Wie­der­her­stel­lung mit­zu­ar­bei­ten, die geis­ti­gen und reli­giö­sen Vor­aus­set­zun­gen zu schaf­fen, ohne die sie nie erho­ben wer­den kann und darf.

Aber über den abgrün­di­gen Bruch geschicht­li­chen Lebens, der im Jah­re 33 auf­zu­klaf­fen begann und nach zwölf Jah­ren voll­zo­gen war, habe ich nur mei­ne Gesin­nung getra­gen, nicht mei­ne Hoff­nung und Absich­ten. Lie­ben kann ich nur die Kro­ne, die ins Meta­phy­si­sche wei­sen­de Ord­nung, und eben weil ich sie lie­be als ver­pflich­ten­des Bild und Gleich­nis, als Sym­bol des Opfers und sei­ner Herr­schaft, als Wei­he der Macht und Ein­heit von Macht und Lie­be, kann ich nicht wün­schen, daß sie in dem Kli­ma, in dem wir atmen müs­sen und wahr­schein­lich unter­gehn, getra­gen werde.«

Sei­ne Rede zur Ver­lei­hung des Frie­dens­prei­ses des Deut­schen Buch­han­dels (1956) liegt als CD vor. Drei, vier Buch­ti­tel wer­den wie der Las Casas wei­ter­hin auf­ge­legt, alles wei­te­re fin­det man nur noch im Anti­qua­ri­at. Die Rein­hold Schnei­der-Gesell­schaft lös­te sich 2011 auf; der Ver­such, mit den Rein­hold Schnei­der Blät­tern – Neue Fol­ge ein Peri­odi­kum zu instal­lie­ren, das sich sei­nem Werk wid­met, ende­te lei­der 2017 nach nur drei Hef­ten wegen man­geln­den Inter­es­ses. Christ­li­che und geschichts­be­wuß­te Lite­ra­tur steht nicht eben hoch im Kurs in unse­ren unchrist­li­chen, geschichts­ver­ges­se­nen Zeiten. 

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