Frankreich: Republikanische Nation oder multikulturelle Gesellschaft?

pdf der Druckfassung aus Sezession 12 /Januar 2006

sez_nr_12von Daniel L. Schikora

Das Jahr 2005 hat nicht nur – auch mit Blick auf das hundertjährige Jubiläum des am 9. Dezember 1905 verabschiedeten Gesetzes zur Trennung von Staat und Kirchen – die Frage nach der Verbindlichkeit des Verfassungsprinzips der laicité erneut in das Blickfeld einer breiteren französischen Öffentlichkeit gerückt. Vielmehr wurden unter dem Eindruck der gewalttätigen Ausschreitungen muslimischer junger Männer in den banlieues auch zwei andere Prinzipien zur Disposition gestellt, die den französischen Nationalstaat als ein ethnische Grenzen sprengendes politisches Gemeinwesen erscheinen lassen konnten: zum einen die staatsbürgerliche Integration von Einwanderern durch das sog. „doppelte ius soli“, zum anderen die Nichtanerkennung jedweder ethnischen oder kulturellen Identität(en) von Immigranten (und weitgehend auch von Angehörigen autochthoner Minoritäten) im öffentlichen Raum.


Das für das repu­bli­ka­ni­sche Inte­gra­ti­ons­kon­zept „à la fran­cai­se“ signi­fi­kan­te dop­pel­te ius soli wur­de bereits 1851 – in der Pha­se der Zwei­ten Repu­blik – als ein­bür­ge­rungs­po­li­ti­sches Instru­men­ta­ri­um ein­ge­führt. Sei­ne ursprüng­li­che Ziel­set­zung: die Rekru­tie­rung von Aus­län­der­kin­dern für das fran­zö­si­sche Mili­tär, läßt frei­lich erken­nen, wie wenig die Durch­set­zung eines „supra-eth­ni­schen“ fran­zö­si­schen Staats­an­ge­hö­rig­keits­rech­tes von Beginn an als Aus­druck eines repu­bli­ka­ni­schen Uni­ver­sa­lis­mus der Men­schen- und Bür­ger­rech­te gel­ten konn­te. Inso­fern ist es nicht ganz ver­wun­der­lich, wenn das staats­bür­ger­recht­li­che „Ter­ri­to­ri­al­prin­zip“ nicht in dem Maße als sakro­sankt betrach­tet wird, wie die lai­ci­té und deren gesetz­li­che Ver­an­ke­rung. So pfle­gen auch Poli­ti­ker der „bür­ger­li­chen Rech­ten“, die für sich rekla­mie­ren, den repu­bli­ka­ni­schen Cha­rak­ter Frank­reichs gegen­über dem Front Natio­nal kon­se­quent zu ver­tei­di­gen, gel­ten­de Rege­lun­gen des ius soli gele­gent­lich der öffent­li­chen Kri­tik zu unter­zie­hen. Wenn bei­spiels­wei­se Frank­reichs Innen­mi­nis­ter Nico­las Sar­ko­zy jüngst durch die For­de­rung her­vor­trat, die „auto­ma­ti­sche Bin­dung zwi­schen Hei­rat und Auf­ent­halts­ge­neh­mi­gung“ müs­se abge­schafft wer­den, so stellt er dadurch zwar nicht unmit­tel­bar den Kern des Ter­ri­to­ri­al­prin­zips in Fra­ge; aller­dings rekur­riert er offen auf eine – „repu­bli­ka­ni­scher“ Legen­den­bil­dung zum Trotz – auch unter Fran­zo­sen weit­ver­brei­te­te Vor­stel­lung der Nati­on als einer poli­ti­schen und eth­nisch-kul­tu­rel­len Entität.
Die­ser man­geln­den Rezep­ti­on uni­ver­sa­lis­ti­scher Idea­le hat­te der Gesetz­ge­ber bereits in der ers­ten Hälf­te der 1990er Jah­re Rech­nung getra­gen. Zwar soll­te die Reform des code de la natio­na­li­té im Jah­re 1993, die das Ter­ri­to­ri­al­prin­zip modi­fi­zier­te, das for­mel­le Fest­hal­ten an einem uni­ver­sa­lis­ti­schen Begriff der (Staats­bür­ger-) Nati­on her­aus­strei­chen: Per­so­nen, die – als Kin­der im Aus­land gebo­re­ner Aus­län­der – bis dahin im Alter von acht­zehn Jah­ren auto­ma­tisch natu­ra­li­siert wor­den waren, wenn sie in Frank­reich gebo­ren wor­den waren und dort seit min­des­tens fünf Jah­ren leb­ten, soll­ten nun zwi­schen ihrem sechs­zehn­ten und zwan­zigs­ten Lebens­jahr durch eine Wil­lens­er­klä­rung ihre Absicht doku­men­tie­ren, Fran­zo­sen zu wer­den. Gera­de die Beschrän­kung die­ser Rege­lung, die sich vor­geb­lich auf das Ver­ständ­nis der Nati­on als einer frei­en Asso­zia­ti­on mün­di­ger Indi­vi­du­en grün­det, auf Kin­der von Nicht­fran­zo­sen ließ jedoch die Absicht auf­schei­nen, durch eine Redu­zie­rung der Zahl der Ein­bür­ge­run­gen die Ent­wick­lung Frank­reichs in Rich­tung auf eine mul­ti­eth­ni­sche Gesell­schaft zu brem­sen. So wur­de aus­ge­rech­net unter Beru­fung auf das Pos­tu­lat eines „täg­li­chen Ple­bis­zits“, mit­hin des von Ernest Ren­an 1882 dar­ge­leg­ten fran­zö­sisch-repu­bli­ka­ni­schen Alter­na­tiv­kon­zepts zum eth­nisch fun­dier­ten Natio­na­lis­mus, ein gewis­ser Eth­no­zen­tris­mus im fran­zö­si­schen Staats­an­ge­hö­rig­keits­recht wie­der­be­lebt – ana­log zu der gegen­wär­ti­gen For­de­rung man­cher Ver­fech­ter einer lai­ci­té plu­ri­el­le – einer demo­kra­tisch-plu­ra­lis­ti­schen „Öff­nung“ der lai­zis­ti­schen Repu­blik –, im Namen des lai­zis­ti­schen Tole­ranz-Gebots das in dem Tren­nungs­ge­setz von 1905 ver­an­ker­te Ver­bot jeg­li­cher Sub­ven­tio­nie­rung von „Kul­ten“ auf­zu­he­ben, um dem „fran­zö­si­schen Islam“ eine gleich­be­rech­tig­te „zivil­ge­sell­schaft­li­che“ Exis­tenz zu sichern.

In die­sem Sin­ne weist auch der UMP-Mata­dor Sar­ko­zy, der das mul­ti­kul­tu­ra­lis­ti­sche Inte­gra­ti­ons­ide­al eines „Mosa­iks“ der repu­bli­ka­ni­schen „Schmelztiegel“-Konzeption der supra- eth­ni­schen Homo­ge­ni­sie­rung vor­zieht, in La Répu­bli­que, les reli­gi­ons, l‘espérance. Ent­re­ti­ens avec Thi­baud Col­lin et Phil­ip­pe Ver­din (Paris 2004) auf eine gesell­schaft­lich-poli­ti­sche Benach­tei­li­gung der etwa fünf Mil­lio­nen Mus­li­me hin; die­se rekru­tier­ten sich pri­mär aus Ein­wan­de­rer­ge­sell­schaf­ten, deren Eli­te­bil­dung noch nicht abge­schlos­sen sei. Wenn Sar­ko­zy dar­aus fol­gert, daß der lai­zis­ti­schen Repu­blik die Pflicht oblie­ge, einen Islam „à la fran­çai­se“ regie­rungs­po­li­tisch zu pro­te­gie­ren, so steht die­se Maxi­me in Wider­spruch zu Arti­kel 2 des Tren­nungs­ge­set­zes sowie in einem dia­me­tra­len Gegen­satz zu der lai­ci­té de com­bat, die ihren his­to­ri­schen Ursprung in dem Pos­tu­lat einer Aus­schal­tung reli­giö­ser Ein­mi­schung in das poli­ti­sche Leben der Repu­blik hat.
Doch nicht nur der „geschlos­se­ne“ Lai­zis­mus, son­dern das republikanisch-„jakobinische“ Inte­gra­ti­ons­mo­dell Frank­reichs in sei­ner Gesamt­heit wird vor­nehm­lich sei­tens der „mul­ti­kul­tu­ra­lis­ti­schen“ Lin­ken in schar­fer Form atta­ckiert und als spä­tes­tens mit dem „Ende der Indus­trie­ge­sell­schaft“ his­to­risch obso­let ein­ge­stuft. Dage­gen betrach­ten die fran­zö­si­schen „Neo­re­pu­bli­ka­ner“ – unter ihnen solch unter­schied­li­che Per­sön­lich­kei­ten des öffent­li­chen Lebens wie Alain Fin­kiel­kraut, Max Gal­lo, Emma­nu­el Todd, Pierre-André Tagu­ieff, Régis Debray oder Jean-Pierre Che­vè­ne­ment – das fran­zö­si­sche Inte­gra­ti­ons­mo­dell gleich­sam als einen Ide­al­ty­pus euro­päi­scher, respek­ti­ve „west­li­cher“ Ver­fas­sungs­ge­schich­te, als eine his­to­risch gelun­ge­ne Voll­endung eman­zi­pa­to­ri­scher Ent­wick­lun­gen, die die Etat-Nati­on Frank­reich mit ande­ren Staats­bür­ger­ge­mein­schaf­ten (nicht nur) des „Wes­tens“ tei­le: Auch deren neu­zeit­li­che Kon­sti­tu­tio­na­li­sie­rung ist geprägt von der ten­den­zi­el­len und poten­ti­el­len Eman­zi­pa­ti­on des Begriffs der Nati­on als einer Asso­zia­ti­on frei­er und glei­cher Rechts­ge­nos­sen von der – tri­ba­lis­ti­schen, stän­di­schen oder reli­giö­sen / kon­fes­sio­nel­len – Ein­bet­tung der Rech­te und Pflich­ten des indi­vi­du­el­len Ein­zel­nen in „holis­ti­sche“ Gemeinschaftsstrukturen.
Der repu­bli­ka­nisch-jako­bi­ni­sche Uni­ver­sa­lis­mus hin­ge­gen nimmt sei­ner­seits für die aus der Über­win­dung der eth­nisch-kul­tu­rel­len Plu­ra­li­tät des Anci­en Régime her­vor­ge­hen­de fran­zö­si­sche Natio­nal­kul­tur in Anspruch, in ver­dich­te­ter Form uni­ver­sa­le zivi­li­sa­to­ri­sche Wer­te und Prin­zi­pi­en zum Aus­druck zu brin­gen. Folg­lich wird der radi­ka­le Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus, der zuguns­ten eines Rech­tes der ein­zel­nen (ethno-)kulturellen Grup­pie­run­gen auf (kol­lek­ti­ve) Selbst­ver­wal­tung sogar auf zen­tral­staat­li­cher Ebe­ne gesetz­te Grund­wer­te und ‑nor­men pro­ble­ma­ti­siert, schroff abge­lehnt; Begriff­lich­kei­ten wie „Kom­mu­ni­ta­ris­mus“ und „Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus“ wer­den weit­hin mit einem (angel­säch­si­schen) Inte­gra­ti­ons­mo­dell asso­zi­iert, das dem fran­zö­sisch­re­pu­bli­ka­ni­schen dia­me­tral ent­ge­gen­ge­setzt sei und des­sen Ver­wirk­li­chung einer „Bal­ka­ni­sie­rung“ Vor­schub leis­ten würde.
Dabei wird die fran­zö­si­sche Nati­on auch von „neo­re­pu­bli­ka­ni­scher“ Sei­te nicht als eine aus­schließ­lich auf ver­fas­sungs­pa­trio­ti­sche Über­zeu­gun­gen aller Bür­ger gestütz­te poli­ti­sche Gemein­schaft defi­niert. Einer der elo­quen­tes­ten Par­tei­gän­ger eines Fest­hal­tens am repu­bli­ka­ni­schen Inte­gra­ti­ons­mo­dell, der fran­zö­sisch-jüdi­sche Phi­lo­soph Alain Fin­kiel­kraut, ver­or­te­te in einem am 17. Novem­ber 2005 ver­öf­fent­lich­ten Inter­view mit Haa­retz die jugend­li­chen „Unru­he­stif­ter“ ara­bi­scher oder schwarz­afri­ka­ni­scher Her­kunft, deren Gewalt­ta­ten sich auch gegen Kin­der­gär­ten und Schu­len rich­te­ten, als Betei­lig­te an einem „anti-repu­bli­ka­ni­schen Pogrom“, nicht ohne die eth­no-reli­giö­sen Bruch­li­ni­en inner­halb der gegen­wär­ti­gen fran­zö­si­schen Gesell­schaft her­aus­zu­stel­len: Die Aus­schrei­tun­gen sei­en „gegen Frank­reich als frü­he­re Kolo­ni­al­macht gerich­tet, gegen Frank­reich als euro­päi­sches Land, gegen Frank­reich und sei­ne christ­li­che oder judäo­christ­li­che Tradition.“

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