»Aber der blutet mir ja den Teppich voll!«

PDF der Druckfassung aus Sezession 84/Juni 2018

Schon vor dem berühm­ten Mai 1968, im frü­hen Früh­jahr bereits, prall­ten gewalt­tä­ti­ge »links­extre­mis­ti­sche« Grup­pen und mili­tan­te natio­na­lis­ti­sche Bewe­gun­gen (im wesent­li­chen Occi­dent und Action fran­çai­se) in Paris auf­ein­an­der. Der Mai selbst mit sei­nen »revo­lu­tio­nä­ren« Stu­den­ten­kra­wal­len rund um die Sor­bon­ne war dabei aus rech­ter Sicht nur ein Inter­mez­zo: Es kam auch danach qua­si täg­lich zu Straßenkämpfen.

Sie fan­den ihren Höhe­punkt in vier beson­ders gewalt­tä­ti­gen Schlach­ten: in Nan­terre am 16. Febru­ar 1970, in der Uni­ver­si­tät Pan­thé­on-Assas (eben­falls im Febru­ar, wäh­rend der Rück­erobe­rung des Gebäu­des), am Bahn­hof Saint-Laza­re im Novem­ber und im Palais des Sports de Paris am 9. März 1971. Dabei beherrsch­ten die Lin­ken aller Strö­mun­gen die Stra­ße. Die Kämp­fe häuf­ten sich und wur­den immer gewalt­tä­ti­ger, mit einem Wort: »pro­fes­sio­nel­ler«.

Wir ent­schie­den, unse­ren Ord­nungs­dienst ent­spre­chend aus­zu­bau­en und grün­de­ten die »Com­mis­saires d’Action fran­çai­se«, als deren Ver­ant­wort­li­cher ich ein­ge­setzt wur­de. Unser Frei­korps war 80 Mann stark und von einem Tag auf den ande­ren mobi­li­sier­bar, in Tei­len sogar inner­halb einer Stun­de. Dazu kamen 50 »Reser­vis­ten«. Die Trup­pe war in vier Ein­hei­ten geglie­dert, deren Mit­glie­der nach ihrem Wohn­ort zugeteilt.

Die Mann­schaft Paris Ost wur­de von Ste­phen Roche geführt, der heu­te ein gro­ßes Unter­neh­men lei­tet. Jene von Paris Zen­trum wur­de von einer Dop­pel­spit­ze geführt, von Pierre B., Erbe eines der größ­ten fran­zö­si­schen Ver­lags­häu­ser, und Phil­ip­pe Lomont, der spä­ter an der Aus­bil­dung des Pan­zer­korps der sau­di­schen Armee teil­neh­men sollte.

Paris West hat­te als Kopf Alain San­ders, einen zukünf­ti­gen Jour­na­lis­ten und Schrift­stel­ler. Die­sen drei Ein­hei­ten intra muros schloß sich die der Hauts-de-Sei­ne an, des­sen har­ter Kern von der Grup­pe Saint-Cloud gebil­det wur­de und des­sen Chef, Jac­ques L., spä­ter den Klein­krieg bei den Spä­hern der rho­de­si­schen Armee anfüh­ren durfte.
Unse­re Com­mis­saires waren zugleich Kor­sa­ren und Mus­ke­tie­re. Man prak­ti­zier­te fran­zö­si­sches Boxen und bas­tel­te an»organischen Kon- struk­tio­nen« à la Charles Maur­ras, war also immer im »Wehr­gang des Fes­tungs­wal­les«, denn die Kämp­fe reih­ten sich anein­an­der – wie an jenem Tag im Janu­ar 1969, an dem das Pro­gramm mit einer Schlä­ge­rei an der Sor­bon­ne begann, gefolgt von einem Zusam­men­stoß in Cen­sier, der über­gangs­los in eine »mus­ku­lö­se« Ver­tei­lung von Flug­blät­tern im Lycée Vol­taire mün­de­te, denn der Über­gang war eine »Atta­cke« im Uni­ver­si­täts­re­stau­rant »Le Mazet«. Es ging mit einer gro­ßen Schlacht auf dem place de l’Odéon wei­ter – und das Ende die­ses »sport­li­chen« Tages bil­de­te ein Auf­ein­an­der­tref­fen am Bahn­hof von Saint-Laza­re, und zwar gegen meh­re­re hun­dert Linksextremisten.

Eini­ge Aktio­nen ende­ten im Kran­ken­haus oder in Unter­su­chungs­haft und führ­ten zu Ver­ur­tei­lun­gen und Gefäng­nis­stra­fen – eine har­te Schu­le, aber: sehr lehr­reich! Das Kopier­ge­rät lief die gan­ze Nacht, und das Ergeb­nis konn­te sich sehen las­sen: Ein Flug­blatt mit dem Titel »Gegen die Hun­nen, alles auf zu den Kata­lau­ni­schen Fel­dern!«, das die »opi­um­süch­ti­gen Weich­ei­er« anpran­ger­te (wir waren nicht gera­de zim­per­lich), konn­te am Mor­gen des
16. Janu­ar 1970 auf dem Cam­pus von Nan­terre ver­teilt wer­den – er war von Lin­ken aus allen Pari­ser Fakul­tä­ten besetzt worden

Um 8.30 Uhr ver­sam­meln wir uns – 16 Mann – am Bahn­hof Nan­terre-La Folie. Die Grup­pe macht sich auf den Weg, ent­lang der tris­ten Mau­er, die die Bahn­glei­se säumt. Gleich zu Beginn läuft unse­re Akti­on aus dem Ruder, da unse­re pro­vo­kan­ten Flug­blät­ter die Wut einer Mas­se weckt, die anwächst und uns ent­ge­gen­strömt; uns bleibt kei­ne Wahl, wir müs­sen die geis­tes­wis­sen­schaft­li­che Fakul­tät sofort wie­der auf­ge­ben und uns in die juris­ti­sche Fakul­tät zurück­zie­hen. Die Bol­sche­wi­ken haben inzwi­schen Zeit gehabt, uns zu zäh­len: 16 leicht­sin­ni­ge »Faschis­ten«, mit denen sie kur­zen Pro­zeß machen würden.
Sie zögern aller­dings etwas: Bedeu­tet so eine klei­ne Zahl Aben­teu­rer inmit­ten hun­der­ter Geg­ner nicht eine Fal­le? War­ten die »schwar­zen Hor­den« nicht irgend­wo im Hin­ter­halt, um sich auf die Frei­heits­lie­ben­den zu stür­zen? Es wer­den also Spä­her aus­ge­schickt, die das Gebiet umrun­den: ganz offen­sicht­lich – wirk­lich nur 16. Die Stun­de des Lyn­chens ist nahe.

Hin­ter die gro­ßen Glas­fens­ter der juris­ti­schen Fakul­tät zurück­ge­zo­gen, sehen wir die mit Pfäh­len, Eisen­stan­gen und Haken bewaff­ne­te Hor­de kom­men. Die Mit­glie­der der juris­ti­schen Stu­den­ten-Kor­po­ra­ti­on, deren Haupt­ak­ti­vi­tät die Orga­ni­sa­ti­on des Juris­ten-Bal­les ist, fle­hen uns an zu gehen, da wir die Kata­stro­phe auf ihr bis dahin ver­schon­tes Gebäu­de zögen. Sie zei­gen uns sogar einen dis­kre­ten Ausgang.Uns zurück­zie­hen, wo doch unse­re Spe­zia­li­tät der Angriff einer gegen zehn ist? Das kommt gar nicht in Fra­ge. Aber: Heu­te sind es wohl eher einer gegen hun­dert. Des­halb räu­men wir den Ein­gangs­be­reich, nicht ohne vor­her die Möblie­rung der Hal­le am Fuße der Trep­pe zu einer gro­ßen Bar­ri­ka­de auf­zu­tür­men, auf der wir die Fah­ne der Action Fran­çai­se Paris his­sen, schwarz mit wei­ßem Kreuz und ver­gol­de­ter wei­ßer Lilie. Sie ziert heu­te mein Büro.

Wir ent­schei­den uns in dem Augen­blick zum Angriff, als die Spit­ze der Hor­de die Glas­tü­ren zer­split­tern läßt, und der Rest sich drängt, um auch an die Rei­he zu kom­men. Auf die­sen Augen­blick war­tend, haben wir uns in einer Rei­he auf­ge­stellt und das alte Lied der napo­leo­ni­schen Gar­de ange­stimmt: J’aime l’oignon frit à l’huile. Dann mar­schie­ren wir lang­sam und schnei­dig in Rich­tung der Typen, die damit beschäf­tigt sind, die Glas­tü­ren der juris­ti­schen Fakul­tät zu zer­stö­ren. Ein Unbe­kann­ter gesellt sich zu uns: »Was für eine Hal­tung, ich gehö­re zu euch!«

Wir sind nun also 17. Wir haben nicht die Zeit, uns zu beglück­wün­schen, denn erstaunt, daß das Wild sie angreift, statt davon­zu­lau­fen, zögern die Lin­ken für einen Augen­blick. Befehl zum Angriff: Unse­re Schlag­stö­cke fah­ren nie­der, die Nun­cha­kus krei­sen … und die Bol­sche­wi­ken zie­hen sich zurück. Doch dann gehen sie zum Angriff über.
Ich fal­te die Fah­ne und schie­be sie unter mei­nen Gür­tel, dann zie­hen wir uns an den Fuß der Trep­pe zurück, schließ­lich in den ers­ten Stock, von wo aus wir die vom Haß trun­ke­ne Mas­se mit Metal­be­chern, Wand­ta­feln für den Unter­richt und allem, was uns in die Hand fällt, bom­bar­die­ren. Frei­lich nutz­los, da die Flut der Lin­ken bereits die Trep­pe hin­auf­schwappt. Es ist also drin­gend gebo­ten, einen aus­rei­chend schma­len Kor­ri­dor zu fin­den, um den Effekt der Mas­se der Angrei­fer zu ega­li­sie­ren und eine Front­li­nie zu bilden.

Wir fin­den ihn im zwei­ten Stock, wo Alain San­ders sich einer Schul­ta­fel auf Rädern bemäch­tigt, die uns als Schild dient, denn nun greift man uns mit Schleu­dern an. Ein neu­er­li­cher Nah­kampf ent­wi­ckelt sich, bei dem Alain im Gesicht und am Schä­del ver­letzt wird. Er blu­tet hef­tig und wird halb bewußt­los. Wir gewin­nen eini­ge Minu­ten, dank Vin­cent L., der eine Kis­te mit Neon­röh­ren ent­deckt hat, eine beacht­li­che Waffe.

Aus der Deckung der Tafel her­vor­bre­chend, wer­fen wir uns in den Gegen­an­griff, indem wir die Neon­röh­ren auf den Hel­men der Bol­schos zer­split­tern las­sen. Im Rück­zug errei­chen wir einen gebo­ge­nen Kor­ri­dor, im Grun­de eine Sack­gas­se, die im Büro des Dekans V. mün­det. Alle Aus­gän­ge der Fakul­tät sind blok­kiert. Wir sit­zen in der Fal­le. Wir bre­chen also die Tür auf und drin­gen in den Salon des Dekans ein. Unser Ver­letz­ter wird auf den Boden gelegt, als der Dekan, zögernd die Tür sei­nes Büros öff­nend, stam­melt: »Aber der blu­tet mir ja den Tep­pich voll!«

Eine Serie von Flü­chen ist die Ant­wort auf die­sen schlech­ten Scherz. Ich bedeu­te dem gedie­ge­nen Juris­ten, zurück in sein Büro zu gehen … und er gehorcht! Den Vor­teil aus­nut­zend, dekla­rie­re ich: »Betrach­ten Sie sich als unse­re Gei­sel!«, und neh­me mir sein Telefon.
Am ande­ren Ende des Drah­tes ant­wor­tet mir unser Ver­ant­wort­li­cher, daß er, was durch­aus offen­sicht­lich ist, nicht in der Lage sei, Ver­stär­kung zu schi­cken, um uns dort herauszuhauen.
Es liegt also an uns, zu impro­vi­sie­ren. Prio­ri­tät hat zunächst ein­mal die Eva­ku­ie­rung Alains, der immer stär­ker blu­tet. Es gelingt einem Ret­tungs­wa­gen, sich durch die Unter­ge­schos­se der Fakul­tät, die noch nicht erobert sind, hin­durch­zu­fä­deln, und die Ver­brin­gung des Ver­letz­ten zum Kran­ken­haus läuft ohne gro­ße Pro­ble­me ab. Um sich unse­rer zu ent­le­di­gen, will der Dekan uns über­zeu­gen, daß wir das Gebäu­de ver­las­sen könnten.

Aus dem Fens­ter sei­nes Büros zei­ge ich ihm, wie drau­ßen Hun­der­te Demons­tran­te brül­lend unse­re Köp­fe for­dern. Wenn wir hin­aus­gin­gen, wär uns der Lynch­mord sicher. Zur glei­chen Zeit sperrt die mobil Gen­dar­me­rie den Cam­pus ab, doch die Ver­ant­wort­li­chen der Uni­ver­si­tät gestat­ten nicht, daß sie das Gelän­de betre­ten. Di Regie­rung will einen neu­er­li­chen Auf­stand ver­mei­den, und der Dekan will nicht der­je­ni­ge sein, der die Ord­nungs­kräf­te auf sei­nen Cam­pus gelas­sen hat. Lie­bens­wür­di­ge Leute …

Ich ver­han­de­le am Tele­fon mit dem Poli­zei­kom­mis­sar, der die Ope­ra­ti­on lei­tet. Er weiß, was uns erwar­tet, wenn wir in die Hän­de der Toll­wü­ti­gen fal­len, und ant­wor­tet bedau­ernd, daß er für unse­re Sicher­heit erst garan­tie­ren kann, sobald wir den Gür­tel um den Cam­pus ver­las­sen haben, daß er aber nicht im Inne­ren die­ses Gür­tels ein­grei­fen wird. Ich kann ihm zwar immer wie­der sagen, daß dies unter­las­se­ne Hil­fe­leis­tung an in Gefahr befind­li­chen Per­so­nen ist, doch es nützt am Ende nichts.

Wie sol­len wir uns ent­schei­den? Wenn wir blei­ben, wer­den wir am Ende geschnappt, doch wenn wir hin­aus­ge­hen, haben wir nur gerin­ge Chan­cen, bis zum Zaun zu kom­men, und das quer durch die wüten­de Mas­se. Dafür müß­ten wir etwa 250 Meter zurück­le­gen, bis zum Ein­gang des Cam­pus, ent­lang des Park­plat­zes, der die geis­tes­wis­sen­schaft­li­che Fakul­tät von der juris­ti­schen Fakul­tät trennt. Ich stel­le die Ent­schei­dung zur Wahl, und sage, daß ich dafür plä­die­re, einen Aus­bruch zu ver­su­chen. Ein­stim­mig­keit für mei­nen Vorschlag!
Von der Feig­heit des Dekans ange­ekelt, schlägt uns ein Ange­stell­ter der Fakul­tät fol­gen­den Plan vor: Er wür­de uns über den Hei­zungs­kel­ler bis zu einer metal­ler­nen Ver­sor­gungs­tür brin­gen, die dazu dient, die Schläu­che für die Heiz­öl­ver­sor­gung ein­zu­las­sen, und die auf den Vor­platz hin­aus­führt. Nie mand wür­de davon aus­ge­hen, daß wir dort hinauskämen.

Schwei­gend gehen wir im Gän­se­marsch durch das Dun­kel und sam­meln uns hin­ter der Tür. Die letz­ten Abspra­chen wer­den getrof­fen: Mit Öff­nung der Tür wer­den wir alle auf ein­mal hin­aus­stür­men, »Tötet! Tötet!« schrei­en, um die Geg­ner abzu­schre­cken, und dann vor allem auf­pas­sen, daß nie­mand in die Hän­de der Bol­sche­wi­ken gerät. Durch eine klei­ne Öff­nung beob­ach­ten wir die Situa­ti­on drau­ßen. Der Zeit­punkt ist güns­tig, denn die Lin­ken ste­hen nun den Gen­dar­men gegen­über, und die Span­nung steigt …

Die Ent­schlos­sens­ten sind schon in unmit­tel­ba­rem Kon­takt mit den Ord­nungs­kräf­ten, wir müs­sen durch die­sen Schwach­punkt hin­durch. Wir müs­sen die­ses Loch aus­nut­zen. Ich öff­ne die Türe und wir stür­zen uns auf die Mas­se, die wir von hin­ten durch­que­ren, Stück für Stück, meh­re­re ver­letz­te Lin­ke hin­ter uns las­send. End­lich errei­chen wir die ers­ten Lini­en der Bolschewiken.
Ein­ge­keilt zwi­schen den Gen­dar­men und uns flüch­ten sie …

Nie waren uns die Uni­for­men der Gen­dar­men so sym­pa­thisch. Die blaue Sper­re öff­net sich, ich durch­que­re sie, schaue nach hin­ten und ach­te dar­auf, daß kein Kame­rad in den Hän­den der Hor­de bleibt. Ein Capi­taine spricht mich an:
»Wo sind die anderen?«
»Ich bin der letzte.«
»Und dafür sind wir so zahl­reich hier­her­ge­kom­men? Da kön­nen Sie sich aber brüs­ten, so ein schö­nes Thea­ter ange­rich­tet zu haben.«

Die Gra­tu­la­tio­nen hal­ten nicht lan­ge an, und lau­fend errei­chen wir die Sta­ti­on Nan­terre-La-Folie, wo wir in den ers­ten ein­fah­ren­den Zug sprin­gen, der nach Paris fährt. Wir kom­men gera­de wie­der zu Atem, als der Kon­trol­leur uns ansteu­ert: Damals wur­den die Fahr­kar­ten in den Vor­ort­zü­gen noch kon­trol­liert. Sei­ner For­de­rung »Fahr­kar­ten, bit­te!« folgt ein schal­len­des Geläch­ter. Ver­blüfft kon­sta­tiert der bra­ve Beam­te, daß das Lachen von einer Grup­pe kommt, mit der man bes­ser nicht in Streit gerät.

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