Kritische Erziehungswissenschaft« nach 1968 oder Sisyphos und »das Neue«

PDF der Druckfassung aus Sezession 84/April 2018

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

Sieg­fried Bern­feld, 1892 in Gali­zi­en gebo­re­ner Freu­dia­ner und Mar­xist und Mit­glied im »Bund der ent­schie­de­nen Schul­re­for­mer«, erreg­te 1925 mit der Schrift Sisy­phos oder die Gren­zen der Erzie­hung eini­ges Auf­se­hen in der reform­päd­ago­gi­schen Zunft.

Das neue »Evan­ge­li­um« der Reform­päd­ago­gen seit der Jahr­hun­dert­wen­de, Päd­ago­gik »vom Kin­de aus« und in lie­be­vol­ler Hin­nei­gung zum Kind zu betrei­ben, hält Bern­feld für tri­vi­al: »Ich lese es gern und übe es wil­lig. Aber daß die­ses zweck­ra­tio­na­ler wäre als die Haß­päd­ago­gik, das ist unrich­tig. Es ist zumin­dest nicht ent­schie­den. Daß es neu wäre, ist sicher unrich­tig. Bei­de For­men sind Kon­stan­ten. Unvermeidliche.«

Bern­feld ist ein schreck­li­cher Pes­si­mist. Das, was sich der Erzie­her vor­neh­me, sei unmög­lich, hat Niklas Luh­mann ein­mal lapi­dar fest­ge­stellt. Die­se Fest­stel­lung hät­te auch von Sieg­fried Bern­feld stam­men kön­nen. Wer Freud gele­sen hat, muß des­il­lu­sio­niert sein über die Steue­rungs­mög­lich­kei­ten des Erzie­hers an der See­le des Zög­lings. Wer Marx gele­sen hat, muß des­il­lu­sio­niert sein über die For­mungs­mög­lich­kei­ten des Erzie­hers am sozia­len Milieu des Zög­lings. Zugriff verweigert.

Bern­feld ist ein schreck­li­cher Rea­list. Sei­nen Genos­sen schreibt er ins Stamm­buch, daß es auf den ein­zel­nen nicht ankom­me, wenn man Erzie­hung sozia­lis­tisch ent­wer­fe: »Denn eine sozia­lis­ti­sche Ord­nung wird wis­sen, daß sie jene Maß­nah­me durch­zu­füh­ren hat, die ihr einen gewünsch­ten Erfolg bei sagen wir 80 Pro­zent der ihr unter­wor­fe­nen Kin­der garan­tiert. Sie ist gar nicht inter­es­siert, wes­sen Spröß­lin­ge unter die­ser Mehr­zahl, wes­sen unter der unbe­ein­flußt geblie­be­nen Grup­pe der Mino­ri­tät sich befin­den werden.«

Dies könn­ten die Genos­sen ja noch schlu­cken, gehen sie doch davon aus, daß die Erzie­hung eine Fra­ge des Umbaus der gan­zen Gesell­schaft sein müs­se, und nicht bloß der päd­ago­gi­schen Insti­tu­tio­nen. Doch Bern­feld schnei­det noch tie­fer ins Mark der Mar­xis­ten, denn ihm drängt sich »hier der Ver­gleich mit der Stra­te­gie auf, die – Ver­wir­rung und Unheil genug – sozia­lis­ti­sche Metho­den der Men­schen­tö­tung ver­wen­det, in einer Ord­nung, die für fried­li­che­re und sym­pa­thi­sche­re Zwe­cke die mör­de­ri­schen Mit­tel der Haß­ge­sell­schaft Kapi­ta­lis­mus ein­ge­führt hat.«

Sozia­lis­ti­sche Erzie­hungs­maß­nah­men ver­hal­ten sich ähn­lich wie die (natür­lich allein dem Kapi­ta­lis­mus abge­schau­ten) Mord­maß­nah­men der Bol­sche­wis­ten: dem »fried­li­che­ren und sym­pa­thi­sche­ren Zwe­cke« wird der ein oder ande­re ein­zel­ne geopfert.
Man müß­te anneh­men, daß die­ser Mann, der die bis­he­ri­ge Päd­ago­gik für das Werk des Sisy­phos hält, und scho­nungs­los die Gren­zen der Neu­en Erzie­hung zieht, fal­sches Fut­ter für Uto­pis­ten ist. Doch wie geschieht Bern­feld? Er wird von Klaus Mol­len­hau­er entdeckt.

Mol­len­hau­er, 1927 gebo­ren, Ange­hö­ri­ger der Flak­hel­fer­ge­ne­ra­ti­on, ver­faßt 1969 das Grund­la­gen­werk Erzie­hung und Eman­zi­pa­ti­on. Mol­len­hau­er geht von Bern­felds Fest­stel­lung aus, jede Erzie­hung sei »in Bezug auf die erzie­hen­de Gesell­schaft kon­ser­va­tiv orga­ni­siert; in Bezug auf die Macht­ten­den­zen der erzie- hen­den Grup­pe inten­si­vie­rend (aus­brei­tend, vermehrend).«

Erzie­hung repro­du­zie­re also immer die herr­schen­den Ver­hält­nis­se, weil dies im Inter­es­se der Macht­er­hal­tung der Herr­schen­den lie­ge. »Die sozia­le Funk­ti­on der Erzie­hung ist (…) nicht allein Kon­ser­vie­rung im Sin­ne der Repro­duk­ti­on des Erreich­ten, son­dern Kon­ser­vie­rung im Sin­ne der Ver­hin­de­rung eines Neuen«.
Auf der Buch­rück­sei­te des von Mol­len­hau­er bei Suhr­kamp her­aus­ge­ge­be­nen bern­feld­schen Sisy­phos liest man 1973: »Bern­feld macht Marx und Freud zu ›Schutz­pa­tro­nen der neu­en Erzie­hungs­wis­sen­schaft‹. Er will, wenn mög­lich, den Deter­mi­nis­mus der Ver­er­bungs­leh­re, der Kon­sti­tu­ti­ons­for­schung, der Psy­cho­ana­ly­se, des Dar­wi­nis­mus und der Klas­sen­la­ge über­win­den.« »Wenn mög­lich?« Eher wohl unmög­lich, eher wohl: »Kon­stan­ten. Unver­meid­li­che.« Die Kri­ti­sche Erzie­hungs­wis­sen­schaft hät­te es wis­sen können.

Hat sie aber nicht. Unter der Bezeich­nung »Kri­ti­sche Erzie­hungs­wis­sen­schaft« ent­stand ab 1960 in erstaun­lich kur­zer Zeit eine extrem ein­fluß­rei­che Päd­ago­gik, die bis heu­te sub­til durch­wirkt. Kein Stu­di­um der Erzie­hungs­wis­sen­schaft, kein staat­li­cher Rah­men­lehr­plan, kein frei­zeit- päd­ago­gi­sches Pro­jekt und kein Eltern­rat­ge­ber kom­men ohne ihre Hin­ter­grund­an­nah­men aus. Der Freu­domar­xi­mus der Exi­lan­ten der »Frank­fur­ter Schu­le«, die Päd­ago­gik des ame­ri­ka­ni­schen Prag­ma­tis­ten John Dew­ey und der »Beha­vio­ris­ten« sowie die »sozia­lis­ti­sche Päd­ago­gik« und eben­falls beha­vio­ris­ti­sche Psy­cho­lo­gie der Sowjet­uni­on bil­de­ten nach 1945 eine lager­über­grei­fend alli­ier­te Umerziehungsidee.

»Die For­de­rung, daß Ausch­witz nicht noch ein­mal sei, ist die aller­ers­te an Erzie­hung. Sie geht so sehr jeg­li­cher ande­ren vor­aus, daß ich weder glau­be, sie begrün­den zu müs­sen noch zu sol­len«, lau­te­te Theo­dor W. Ador­nos dog­ma­ti­sche Set­zung von 1966. Der Grün­dungs­my­thos der Kri­ti­schen Erzie­hungs­wis­sen­schaft ist Ausch­witz. Danach kann nur noch alles Neue bes­ser als alles Alte sein – der neue Mensch muß erschaf­fen wer­den und mit ihm die neue Gesellschaft.

Der Päd­ago­gik­pro­fes­sor Helm­wart Hierd­eis fährt noch 1987 das Voll­pro­gramm des­sen auf, was »Kri­ti­sche Erzie­hungs­wis­sen­schaft« will: die »Uto­pie von der gerech­ten, repres­si­ons­frei­en und glück­li­chen Gesell­schaft mün­di­ger, weil eman­zi­pier­ter Indi­vi­du­en« zu ver­wirk­li­chen. Der kon­ser­va­ti­ve Erzie­hungs­wis­sen­schaft­ler Wolf­gang Bre­zin­ka hat sich 1972 über die Päd­ago­gik der Neu­en Lin­ken her­ge­macht, und sie nach Strich und Faden zer­legt. Ihrer Wirk­mäch­tig­keit tat dies kei­nen Abbruch. Ich will im fol­gen­den aus dem Pro­gramm von Hierd­eis fünf zen­tra­le Stich­wor­te herausgreifen

Ers­tes Stich­wort: Utopie

Kri­ti­sche Erzie­hungs­wis­sen­schaft geht von einem nor­ma­ti­ven End­zu­stand der Gesell­schaft aus: der Uto­pie der Herr­schafts­frei­heit, in der nicht län­ger die Kin­der von der über­flüs­si­gen Auto­ri­tät der Erwach­se­nen, die Lohn­ab­hän­gi­gen vom Kapi­tal, die Ent­wick­lungs­län­der von der Vor­mund­schaft der Indus­trie­na­tio­nen unter­drückt wer­den. Kin­der sind in jeder Gesell­schaft mas­sen­haft vor­han­den und greif­bar, der Rest der Uto­pie ist nur auf dem Wege einer ech­ten Revo­lu­ti­on zu erzwingen.

Das ist der Grund, wes­halb sich die Sozi­al­re­vo­lu­tio­nä­re aus­ge­rech­net die Päd­ago­gik aus­wäh­len. Die »radi­ka­le Umwand­lung der Gesell­schafts­ord­nung«, so hat man lin­ker­seits spä­tes­tens seit Kriegs­en­de mit Mao Tse-Tungs Hil­fe erkannt, kann nicht direkt aus­ge­löst wer­den, son­dern nur auf dem Umweg über den »kul­tu­rel­len Appa­rat«. »Unauf­fäl­lig, schlei­chend und unter der Mas­ke einer höhe­ren Moral« (Bre­zin­ka) bricht sich die Kul­tur­re­vo­lu­ti­on Bahn.

Die Uto­pie erfüllt hier­bei eine dop­pel­te Funk­ti­on: Einer­seits ist sie die nor­ma­ti­ve Kri­tik­fo­lie, vor der alles Bestehen­de kei­nen Bestand mehr haben kann. Ande­rer­seits kann man revo­lu­tio­nä­re Stim­mung schü­ren durch die »Tak­tik der mora­li­schen Über­bie­tung«: Wenn in der uto­pi­schen Gesell­schaft der Mensch erst sei­ne Mensch­lich­keit wie­der­erlangt (Karl Marx), sich erst dann wirk­lich »selbst­be­stim­men« kann, weckt die­ses Fern­ziel zugleich Nah­erwar­tun­gen. Hier und jetzt muß ein klei­nes Stück weit der Uto­pie vor­ge­grif­fen werden.

Zwei­tes Stich­wort: repressionsfrei

Was bie­tet sich da bes­se­res an als das Kind, das in einer wil­den Mischung aus Rous­se­au und Freud »ganz bei sich selbst« ist? »Selbst­be­stim­mung« wird in der Kri­ti­schen Päd­ago­gik uto­pisch und regres­siv auf­ge­faßt. Die Neue Lin­ke ver­wen­det das Wort »Selbst­be­stim­mungs­fä­hig­keit« anders, als wir es aus der Stoa, dem Chris­ten­tum, der Auf­klä­rung und der Deut­schen Klas­sik gewöhnt sind. Die Fähig­keit, sich selbst zu beherr­schen, die Selbst­be­zo­gen­heit, die Trie­be zu über­win­den und sich dem Sit­ten­ge­setz als Erwach­se­ner zu unter­wer­fen, gilt als »bür­ger­lich« und »repres­siv«. »Selbst­be­stimmt« ist hin­ge­gen, wer im Sin­ne des nega­ti­ven Frei­heits­be­griffs frei von Zwän­gen, Herr­schaft, Macht und Auto­ri­tät lebt.

Der Begriff der »Repres­si­on«, vom Freu­dia­ner Her­bert Mar­cu­se gekonnt in die lin­ke Nach­kriegs­so­zio­lo­gie ein­ge­führt, dien­te zur Beschrei­bung auch noch der demo­kra­tischs­ten Gesell­schaft. Falls die­se auf den ers­ten »bür­ger­li­chen« Blick ziem­lich tole­rant erschei­nen soll­te, han­delt es sich eben um »repres­si­ve Toleranz«.
Wir sind alle fremd­be­stimmt, da kön­nen wir uns noch so sehr für auto­no­me Indi­vi­du­en hal­ten. Der Witz an die­sem Trick, mit dem wir alle zu Objek­ten befrei­ungs­päd­ago­gi­scher Plä­ne wer­den, ist: »Selbst­be­stimmt« wird redu­ziert auf das Gegen­teil von »fremd­be­stimmt«. Klei­ne Kin­der, die sich in einem anti­au­to­ri­tä­ren Kin­der­la­den »selbst­be­stimmt« mit Far­be und Kacke beschmie­ren dür­fen, sind – es hat sie gege­ben! – die ad nau­seam her­bei­zi­tier­te Karikatur.

»Schü­ler­selbst­ver­wal­tung« und »par­ti­zi­pa­to­ri­sche Ange­bo­te« und Kur­se zur »Selbst­be­stim­mung für Mäd­chen«, die heu­te in staat­li­chen Schu­len nor­mal sind, zeh­ren jedoch noch immer von exakt dem­sel­ben Repres­si­ons­be­griff der Kri­ti­schen Pädagogik.

Drit­tes Stich­wort: Mündigkeit

Von »Erzie­hung zur Mün­dig­keit« sprach Ador­no 1969. »Mün­dig­keit« erfuhr eine ähn­li­che Umdeu­tung – auch »lin­gu­is­ti­sche The­ra­pie« (Mar­cu­se) genannt – wie »Selbst­be­stim­mung« und »Demo­kra­tie«. Mit Kants »Aus­gang aus der selbst­ver­schul­de­ten Unmün­dig­keit« hat­te sie bald nur noch den Namen gemein. Das Kri­ti­sie­ren aller »Auto­ri­tä­ten« galt als siche­res Mit­tel zum Erwerb der »Mün­dig­keit«.
Die­se wur­de als psy­chi­sche Dis­po­si­ti­on dazu vor­ge­stellt, die Gesell­schaft wie sie ist, radi­ka­ler Herr­schafts­kri­tik zu unter­zie­hen und am Ziel einer Gesell­schaft wie sie sein soll, mit­zu­ar­bei­ten. »Mün­dig« im Sin­ne des »mün­di­gen Bür­gers« kann in der bestehen­den Ord­nung kein Mensch mehr sein, viel­mehr erweist er sich erst als »mün­dig«, wenn und nur wenn er die auto­ri­tä­ren Zusam­men­hän­ge durch­schaut hat und über­win­den will. »Durch­schau­en«, »Ent­lar­ven« und »Kri­ti­sie­ren« von Repres­si­on wird ineinsge­setzt mit Ratio­na­li­tät überhaupt.
Ador­no sel­ber war indes einen Tick klü­ger als sei­ne Adep­ten von der kri­ti­schen Päd­ago­gen­front: »Die Art, in der man zu einem auto­no­men, also mün­di­gen Men­schen wird, ist nicht ein­fach das Auf­mu­cken gegen jede Art von Auto­ri­tät«. Schließ­lich hat­te er Hegels Herr-Knecht-Dia­lek­tik im Hand­ge­päck dabei.

Vier­tes Stich­wort: emanzipiert

Klaus Mol­len­hau­er ver­band 1973 den mar­xis­ti­schen Begriff »Eman­zi­pa­ti­on« mit Haber­mas’ spä­ter in der »Theo­rie des kom­mu­ni­ka­ti­ven Han­delns« aus­ge­fal­te­ten Kom­mu­ni­ka­ti­ons-Uto­pie. »Erzie­hung muß ver­stan­den wer­den als ein kom­mu­ni­ka­ti­ves Han­deln, des­sen Ziel dar­in liegt, eine Kom­mu­ni­ka­ti­ons­struk­tur zu eta­blie­ren, die den Erwerb von Fähig­kei­ten zum Dis­kurs ermög­licht (…) prak­ti­schen Fort­schritt, Kampf gegen dis­kurs­ein­schrän­ken­de Bedin­gun­gen«. Das Pro­blem dabei: Der Eman­zi­pa­ti­ons­be­griff ist per se nega­tiv bestimmt als »Eman­zi­pa­ti­on von Zwängen«.

Die »eman­zi­pier­te Per­sön­lich­keit«, das uto­pi­sche Ide­al aller kri­ti­schen Päd­ago­gen, ist das nega­ti­ve Ide­al eines Men­schen, der mit der Tra­di­ti­on gebro­chen hat, der die in sei­ner Gesell­schaft gel­ten­den Wer­tun­gen und Nor­men ablehnt, der sich jeder Ver­pflich­tung ent­zieht, die von den herr­schen­den Auto­ri­täts­trä­gern aus­geht. Wie soll ein sol­cher ex nega­tivo bestimm­ter Mensch hin zu einem herr­schafts­frei­en Dis­kurs erzo­gen wer­den? Da dies nicht gelin­gen kann, blieb die »eman­zi­pa­to­ri­sche Päd­ago­gik« dort ste­cken, wo man Kin­dern im »Kin­der­kol­lek­tiv« ganz kon­kret das Auf­mu­cken, Kaputt­ma­chen und Zun­ger­aus­stre­cken bei­brin­gen konnte.

Das »Bei­brin­gen« aller­dings weist auf das Para­dox lin­ker Erzie­hung zur »Selbst­be­stim­mung« hin: Einer muß es tun. Einer muß Ein­fluß aus­üben, len­ken, die Kin­der dazu krie­gen, ganz sie selbst sein zu wol­len – denn von sich aus sind Kin­der aus­ge­spro­chen »bür­ger­lich«: Sie wol­len zu Erwach­se­nen auf­schau­en und nicht »dis­kurs­ein­schrän­ken­de Bedin­gun­gen« erken­nen. Auf die Idee, sich jetzt schon (und nicht erst in typisch ado­les­zen­ter Reni­tenz) von den Erwach­se­nen eman­zi­pie­ren zu wol­len, kom­men Kin­der ein­fach nicht von allein.

Fünf­tes Stich­wort: Individuen

Die »Kri­ti­sche Erzie­hungs­wis­sen­schaft« hängt auch hier in einem Para­dox fest. Einer­seits strebt sie mit der »klas­sen­lo­sen Gesell­schaft« als kom­mu­nis­ti­scher Uto­pie ein aus­ge­spro­chen kol­lek­ti­vis­ti­sches Gesell­schafts­mo­dell an. Ande­rer­seits birst sie vor über­schweng­li­chen befrei­ungs­theo­lo­gi­schen Indi­vi­dua­li­täts­phan­ta­sien bis hin zu frei­en »ego­zen­tri­schen Orgas­mu­s­er­fah­run­gen« (Bre­zin­ka). Wie läßt sich die­ses Para­dox lösen?

Bre­zin­ka hat 1971 etwas ziem­lich Hell­sich­ti­ges gesagt: Man erken­ne beim genaue­ren Hin­schau­en eine »Dop­pel­stra­te­gie« der Päd­ago­gik der Neu­en Lin­ken. Sie woll­ten sowohl »eman­zi­pa­to­ri­sche« und »anti­au­to­ri­tä­re« als auch die »sozia­lis­ti­sche« Erzie­hung eines tota­li­tä­ren Gesin­nungs­staa­tes. Bloß sind die Adres­sa­ten zu unter­schei­den, und man muß die Zeit­ach­se achten:
Für die Bevöl­ke­rung, ins­be­son­de­re deren libe­ra­le Füh­rungs­schicht, wird die For­de­rung nach »anti­au­to­ri­tä­rer« oder »nicht­re­pres­si­ver« Erzie­hung erhoben.
Die­se For­de­rung trifft auf eine »Ein­stel­lung, die in der indi­vi­dua­lis­ti­schen Mas­sen­de­mo­kra­tie ohne­hin bereits vor­herrscht«: Der Erzie­her soll auf Wer­tun­gen, Durch­set­zung und Hal­tung ver­zich­ten und das Kind sich »indi­vi­du­ell ent­wi­ckeln« las­sen. Wer­tungs­un­si­cher­heit und Füh­rungs­schwä­che wer­den dabei kur­zer­hand als päd­ago­gi­sche Tugen­den aufgeputzt.
»Für die gro­ße Mehr­heit der Bevöl­ke­rung wird die Päd­ago­gik der Neu­en Lin­ken wäh­rend der ers­ten Pha­se der Kul­tur­re­vo­lu­ti­on, die wir der­zeit [in den 1970er Jah­ren, C.S.] erle­ben, in der Form der eman­zi­pa­to­ri­schen Päd­ago­gik wirk­sam«. Aber: »Für die eige­nen Anhän­ger wird schon längst eine auto­ri­tä­re ›sozia­lis­ti­sche Erzie­hung‹ emp­foh­len«. Denn in ein Auto­ri­täts­va­ku­um kann ein per­fek­ter Gestal­tungs­plan für eine neue auto­ri­tä­re Gesell­schafts­form hineinstoßen.

Aus die­ser Stich­wort­ana­ly­se läßt sich zwei­er­lei ablei­ten. Einer­seits – zum Abküh­len –, daß das »Neue« an der »Päd­ago­gik der Neu­en Lin­ken« einer sys­te­mi­schen Gesetz­mä­ßig­keit folgt. Das Neue, Destruk­ti­ve, Über­win­den­de ist der Nor­mal­fall der Erzie­hung. Ande­rer­seits – zum Auf­hei­zen –, daß wir es in der Gegen­wart mit der von Bre­zin­ka vor­aus­ge­se­he­nen tota­li­tä­ren Ent­wick­lung zu tun haben und uns etwas Neu­es ein­fal­len las­sen müssen.

In einem Sam­mel­band über den post­mo­der­nen Topos der »erstarr­ten Zeit« dia­gnos­ti­zier­te der Erzie­hungs­wis­sen­schaft­ler Kon­rad Wün­sche Ende der Acht­zi­ger­jah­re von der War­te des Zuschau­ers den his­to­ri­schen Schiff­bruch der Neu­en Lin­ken: geschichts­phi­lo­so­phi­sches Den­ken ist die grund­sätz­li­che Ant­wort auf ein Struk­tur­pro­blem der Erziehung.

Jedes Kind ist neu, und jede Erzie­hung beginnt am Null­punkt des indi­vi­du­el­len Säug­lings. Weil aber nun ein­mal akku­mu­lier­te päd­ago­gi­sche Erfah­rung ver­lo­ren wäre, wenn der Gestalt­wer­dungs­zy­klus bloß ein­mal durch­lau­fen wäre, muß sich die­se Erfah­rung ver­ste­ti­gen, als Mus­ter »die Gegen­wart über­win­den«. Also wird Erzie­hung geschicht­lich zeit­grei­fend, und das Kind wird zum Medi­um die­ser Geschich­te. »Die Appel­le der päd­ago­gi­schen Bewe­gung trie­ben immer wie­der Ver­su­che vor­an, einen ver­fluch­ten Zustand der Gesell­schaft nach dem ande­ren vom Kind über- schrei­ten zu las­sen. Die Gedan­ken der Väter dage­gen gehör­ten der Welt an, die es zu destru­ie­ren galt.«

Die Kri­ti­sche Erzie­hungs­wis­sen­schaft nach 1968 ver­kör­pert die­se Inno­va­ti­ons­drift in rei­ner Form: eine rein­weg ver­fluch­te Gesell­schaft, ein rein­zu­hal­ten­des Kind, rein­ras­si­ge Nazivä­ter. Klingt zu per­fekt, um wahr zu sein für ein his­to­ri­sches Groß­ex­pe­ri­ment zum »Neu­en Menschen«.
»Die Welt, die es zu destru­ie­ren galt« hat unter die­sen Expe­ri­men­tal­be­din­gun­gen nicht über­lebt. Bre­zin­kas »ers­te Pha­se der Kul­tur­re­vo­lu­ti­on« soll­te sich sehr lan­ge hin­zie­hen. Der von lin­ker Päd­ago­gik anvi­sier­te tota­li­tä­re »Gesin­nungs­staat« ist kein ost­block­so­zia­lis­ti­scher geworden.

Statt­des­sen hat der per­mis­si­ve Kurs der »Demo­kra­ti­sie­rung« und Maxi­mie­rung von Frei­heits- und Gleich­heits­an­sprü­chen in einer zuneh­mend glo­ba­li­sier­ten libe­ra­len Gesell­schaft das­sel­be Geschäft erle­digt. Wir haben es gegen­wär­tig nicht mehr mit den Voka­beln »Uto­pie«, »repres­si­ons- frei«, »Mün­dig­keit« und »eman­zi­pier­ten Indi­vi­du­en« zu tun, aber mit dem kul­tur­mar­xis­ti­schen Denk­rah­men, dem sie entstammen.
Heu­te liest sich Päd­ago­gik so: »Aller­dings wer­den sie [Geschichts­er­zäh­lun­gen, C.S.] unter neu­en metho­di­schen Vor­zei­chen, ins­be­son­de­re im Zusam­men­hang mit Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät, Gegen­warts­be­zug, Selbst­re­fle­xi­on sowie Re-Kon­struk­ti­on und De-Kon­struk­ti­on thematisiert. (…)

Die Basis­kon­zep­te ›Macht‹ und ›Diver­si­tät‹ wer­den etwa durch die Fra­ge tan­giert, wer die Mög­lich­keit besitzt, gesell­schaft­li­che Situa­tio­nen auf wel­che Wei­se zu ver­än­dern. (…) Zen­tral sind dabei so genann­te »Schlüs­sel­pro­ble­me«, die durch ihre Dau­er­haf­tig­keit geprägt sind, vor allem: Glo­ba­li­sie­rung, Res­sour­cen­ver­tei­lung, Migra­ti­on, Öko­lo­gie, Krieg und Frie­den und die Gleich­be­rech­ti­gung der Geschlech­ter.« (Lehr­plan Öster­reich, Geschich­te AHS Unter­stu­fe 2016)

Die »Kri­ti­sche Erzie­hungs­wis­sen­schaft« hat uns rund­um aus­ge­stat­tet mit Metho­den der »Ideo­lo­gie­kri­tik« und Anlei­tun­gen zum »kri­ti­schen Hin­ter­fra­gen von Herr­schafts­spra­che«. Soll­ten wir wagen, den Spieß umzu­dre­hen, und nun unse­rer­seits auf sie als eta­blier­te Ideo­lo­gie los­ge­hen? Dazu müß­ten wir unter ande­ren zu Sieg­fried Bern­feld zurück­keh­ren, denn dort ist päd­ago­gi­sche Macht­theo­rie ohne Sozi­al­uto­pie zu fin­den. Wenn Erzie­hung »in Bezug auf die erzie­hen­de Gesell­schaft kon­ser­va­tiv orga­ni­siert; in Bezug auf die Macht­ten­den­zen der erzie­hen­den Grup­pe in- ten­si­vie­rend (aus­brei­tend, ver­meh­rend)« ist, gilt es, dem Ein­halt zu gebie­ten. Dann sind wir nicht län­ger »kon­ser­va­tiv«, denn die durch zwei Gene­ra­tio­nen Erzie­hungs­pra­xis inten­si­vier­ten Macht­ten­den­zen lie­gen längst gut kon­ser­viert auf­sei­ten der vor­ma­li­gen Pro­gres­si­ven. Erzie­hungs­theo­rie hat, Kon­rad Wün­sche zufol­ge, immer die geschichts­phi­lo­so­phi­sche Devi­se: »Fas­se Mut zur Mit­trä­ger­schaft geschicht­li­cher Bewe­gun­gen!« Na dann nur zu! Ers­te Auf­ga­be: Kri­ti­sie­ren wir die Pro­pa­gan­da­spra­che des lin­ken Erziehungsstaats.

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

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