Zahlreiche 68er haben eine bewegte Vergangenheit, aber sind erfolgreich in einflußreiche Positionen gewandert. Vielfältig geehrt wurden sie zu feinen Stützen der Gesellschaft, die längst die ihre geworden ist. Nachfolgend einige Beispiele.
ELMAR ALTVATER (1938 –2018)
Das SDS-Mitglied Elmar Altvater betätigte sich während der APO-Zeit in der »Sozialistischen Assistentenzelle« am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der FU Berlin. Zudem galt Altvater als einer der führenden Köpfe des »Sozialistischen Büros« der Neuen Linken in Offenbach. 1970 gründete er das marxistische Magazin PROKLA, was für »Probleme des Klassenkampfes« stand und später den Zusatz »Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft« erhielt. Dieses Engagement schien ihn befähigt zu haben, 1971 eine Professur für Politische Ökonomie an der FU zu erhalten.
Altvater gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Grünen und saß im Aufsichtsrat der »Taz.genossenschaft«. Zudem war er von 1999 bis 2002 Mitglied der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages zur »Globalisierung der Weltwirtschaft«. 2005 verfaßte er das programmatische Buch Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Eine radikale Kapitalismuskritik. Den bestehenden »barbarischen«, auf dem Privateigentum beruhenden Machtstrukturen solle demnach eine »solare und solidarische Gesellschaft« entgegengesetzt werden. Nach der Emeritierung engagierte er sich im wissenschaftlichen Beirat von Attac, trat 2007 der Linken bei und verfaßte regelmäßig Artikel im Freitag. 2013 erhielt er den Salzburger Landespreis für Zukunftsforschung.
REINHARD BÜTIKOFER (*1953)
Reinhard Bütikofer ist kein 68er, aber ein im K- Gruppen-Milieu der Post-68er-Bewegung groß gewordener Politiker. 1971 begann er ein (nicht abgeschlossenes) Studium der Philosophie und Geschichte in Heidelberg. In dieser Zeit engagierte er sich bei der »Kommunistischen Hochschulgruppe« (KHG) und im maoistischen »Kommunistischen Bund Westdeutschland« (KBW).
Er war Mitglied im AStA und Senat der Universität Heidelberg. 1984 trat er den Grünen bei und wurde vier Jahre später baden-württembergischer Landtagsabgeordneter, dann Landesvorsitzender und war bis 2008 Bundesvorsitzender. 2009 wurde Bütikofer als Spitzenkandidat seiner Partei in das Europäische Parlament gewählt.
Dort sitzt er heute als einer der beiden Vorsitzenden der Europäischen Grünen Partei. Seine maoistische Vergangenheit dürfte dabei geholfen haben, daß er zudem als stellvertretender Vorsitzender der Delegation des Europäischen Parlaments für die Beziehungen zur Volksrepublik China tätig ist. Daneben ist Bütikofer Board Mitglied der Berliner Dependance der dem »Ideal der offenen Gesellschaft« verpflichteten US-amerikanischen Denkfabrik Aspen-Institut, Mitglied des Advisory Board des American Jewish Committee in Berlin und Mitglied des transatlantischen Netzwerks Atlantik- Brücke.
DETLEV CLAUSSEN (*1948)
Interessant ist an ihm eine vielleicht als volkstümlich zu bezeichnende Marotte: Claussen ist ein leidenschaftlicher Fußballfan – kein ganz typischer Zug für einen Hochschullehrer, zumal er mit seinen Bemühungen, Fußball im Rahmen von Hochschul-Seminaren zu analysieren, auch auf Skepsis bei Kollegen stieß. 2011 äußerte er in einem Interview: »Wenn man Migranten in die Nationalmannschaft beruft, kann man zeigen, daß es gar keinen Sinn hat, wenn die sich unserer traditionellen Spielweise anpassen. Im Gegenteil: Sie bereichern uns offensichtlich mit ihren eigenen Qualitäten. Ansonsten werden Migranten bei uns ja immer als defizitär betrachtet. Außerdem zeigt sich bei den neuen Trainingsmethoden, wie wichtig es ist, daß wir uns der Ausbildung des Individuums zuwenden. Wenn der Einzelne Aufmerksamkeit bekommt, entwickelt er auch Teamgeist.«
Von 1966 bis 1971 studierte das SDS-Mitglied Claussen in Frankfurt Philosophie, Soziologie, Literatur und Politik, unter anderem bei Adorno. Von 1994 bis 2011 besetzte er als Professor einen Soziologie-Lehrstuhl an der Universität Hannover. Themenschwerpunkte: Antisemitismus, Xenophobie, Nationalismus, Rassismus, Transformationsgesellschaften, Migrationsbewegungen, Psychoanalayse.
Die »Rede von der Identität« bezeichnet Claussen als »Mode«: »Sechseinhalbtausend Jahre kam die Menschheit ohne sie aus, auf einmal hat das nun angeblich jeder, eine persönliche wie eine nationale. Das sind alles Reaktionen auf die Säkularisierung.« Dem stellt er die Idee der Aufklärung entgegen, das »gute Leben«, den »Anspruch auf Glück, wie er in der amerikanischen Verfassung formuliert ist«. Zwar gäbe es
»die gemeinsame Sache emanzipatorischer Gesellschaftsveränderung, an der die unterschiedlichsten Leute arbeiten«, doch in den aktuellen Bildungsplänen ständen nur noch individuelle Erfolgskarrieren im Mittelpunkt, resümierte er 2011 enttäuscht nach seiner Emeritierung.
DANIEL COHN-BENDIT (*1945)
Der »rote Dany« gehört zu den am meisten im Rampenlicht der Medien stehenden 68ern. Cohn-Bendits Eltern waren Juden. Sein Vater arbeitete in Berlin als Rechtsanwalt, verstand sich als Trotzkist. Die Eltern emigrierten 1933 nach Paris, gehörten zum Freundeskreis von Hannah Arendt.
Aufgrund einer geplanten Auswanderung in die USA versäumten es die Eltern, die französische Staatsangehörigkeit für den Sohn Daniel zu beantragen, der somit zunächst staatenlos blieb. Aus Geldgründen zogen die Eltern nach Deutschland zurück, Cohn-Bendit besuchte die reformpädagogische Odenwaldschule.
1961 wählte er die deutsche Staatsangehörigkeit, um sich dem französischen Militärdienst zu entziehen (2015 bekam er auch die französische Staatsangehörigkeit verliehen). 1965 nahm er ein Mathematikstudium in Paris auf, wechselte nach nur einer Woche zur Soziologie und nahm Kontakt zu einer anarchistischen Gruppe auf. Er vertrat 1968 die »Liaison des Etudiants Anarchistes« (Bund anarchistischer Studenten) beim großen Vietnamkongreß an der TU Berlin.
Dabei ließ er sich von Rudi Dutschkes Strategie der direkten, provokativen Aktion inspirieren. Cohn-Bendit übernahm eine Führungsrolle bei den französischen Protesten. Sein Appell einer linken Einigung in der »Bewegung 22. März« wurde von vielen Studenten aus anarchistischen und kommunistischen Kleingruppen befolgt. Zahlreiche Lehrveranstaltungen wurden von diesem Bündnis verhindert, Hörsäle besetzt.
Nach dem Attentat auf Dutschke lud Cohn-Bendit den SDS-Vorsitzenden Karl Dietrich Wolff nach Nanterre ein, und die Studenten stürmten nach dessen Rede die Universitätsräume, was zur teilweisen Schließung der Universität führte.
Die maßgeblich von Cohn-Bendit vorangetriebenen Provokationen führten zu Straßenschlachten, bei denen Pflastersteine und Molotow-Cocktails zum Einsatz kamen. In einem öffentlichen Gespräch mit Jean-Paul Sartre forderte er den Sturz der Regierung unter Präsident Charles de Gaulle. Kurz darauf plädierte er vor dem Berliner SDS, die Trikolore durch die Rote Fahne zu ersetzen. Als die französische Regierung ihm die Wiedereinreise verweigerte, de- monstrierten Pariser Studenten für Cohn-Bendit mit der Losung »Wir sind alle deutsche Juden«.
Später ließ sich Cohn-Bendit in Frankfurt nieder, besuchte Vorlesungen von Adorno und Habermas, ohne sein Studium zu beenden. Cohn-Bendit solidarisierte sich (»Die gehören zu uns!«) mit den Kaufhaus-Brandstiftern Andreas Baader und Gudrun Ensslin, die er mehrmals im Gefängnis besuchte. Er gründete 1969 eine »Betriebsprojektgruppe« des Frankfurter SDS zur Unterwanderung der Gewerkschaften, aus der die Gruppe »Revolutionärer Kampf« entsprang.
Gemeinsam mit Tom Koenigs, Joseph Fischer und dem späteren Varieté-Direktor Johnny Klinke gründeten sie die Frankfurter Karl-Marx-Buchhandlung. Cohn-Bendit beteiligte sich am Widerstand gegen den Abriß leerstehender Häuser im Frankfurter Westend, lehnte aber die Gewalttätigkeit von Fischers
»Putztruppe« ab. Er arbeitete in einer Kindertagesstätte, aus der die »Kinderladen«-Bewegung hervorging.
1978 fungierte er als Mitorganisator bei der Gründung der hessischen Grünen. Während Fischers Amtszeit als hessischer Umweltminister fungierte Cohn-Bendit als dessen Politikberater. 1989 wurde er Leiter des Frankfurter »Amtes für Multikulturelle Angelegenheiten«.
Cohn-Bendit sammelte Forderungen Frankfurter Einwanderer und versuchte diese durchzusetzen: Die Gründung einer kommunalen Ausländervertretung, Rechtsberatung für Migrantenvereine, Antidiskriminierungsprogramme für Beamte in Polizei und Stadtverwaltung. Eine städtische Antirassismus-Woche und ein »Tag der deutschen Vielfalt« wurden organisiert. Von 1994 bis 2014 saß Cohn-Bendit als Abgeordneter im Europäischen Parlament, teils für die deutschen, teils für die französischen Grünen.
JOSEPH MARTIN FISCHER (*1948)
Der Sohn ungarndeutscher Eltern engagierte sich mit 19 Jahren in der APO, jobbte beim Frankfurter SDS-Verlag Neue Kritik, der klassische Theoretiker des Kommunismus neu auflegte, und war 1970 Mitgründer der Karl- Marx-Buchhandlung im Stadtteil Bockenheim, die als Anlaufstelle des sich bildenden Sponti- Milieus diente. 1971 begann Fischer eine Tätigkeit bei der Adam Opel AG in Rüsselsheim mit dem Ziel, Arbeiter über eine Betriebsgruppe revolutionär zu politisieren.
Das führte zur Entlassung nach einem halben Jahr. Es folgten Gelegenheitsarbeiten, unter anderem bis 1981 als Taxifahrer. Daneben fungierte Fischer als führende Figur der Vorläufer der späteren »Autonomen«. Er war Mitglied der Gruppierung »Revolutionärer Kampf« und beteiligte sich an Straßenkämpfen mit Polizisten, die dabei teilweise schwer verletzt wurden.
Auf einem später bekannt gewordenen Foto von 1973 ist der vermummte Fischer zu sehen, der gemeinsam mit dem später verurteilten Terroristen der »Revolutionären Zellen« Hans-Joachim Klein einen am Boden liegenden Polizisten schlägt.
Letztlich erfolglos verliefen damalige Ermittlungen gegen Fischer wegen Landfriedensbruchs, versuchten Mordes und der Bildung einer kriminellen Vereinigung. 1978 kommentierte er mehrere RAF- Morde noch wohlwollend, wovon er sich später distanzierte.
1981 wurde die Tatwaffe zur Ermordung des hessischen Wirtschaftsministers Heinz-Herbert Karry in Fischers Automobil transportiert. Fischer erklärte dazu, das Fahrzeug damals Klein ausgeliehen zu haben, um einen neuen Motor einbauen zu lassen, nichts aber von weitergehenden Absichten des Terroristen gewußt zu haben.
1983 wurde er für die Grünen in den Bundestag gewählt und begann als Parlamentarischer Geschäftsführer zu arbeiten. In diese Zeit fiel der legendäre Anwurf gegen den christsozialen Bundestagsvizepräsident Richard Stücklen: »Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch.« 1985 wurde er hessischer Staatsminister für Umwelt und Energie in der ersten rot-grünen Landesregierung. Legendär ist seine Vereidigung in Turnschuhen und zerknittertem Sakko.
1998 wurde Fischer Außenminister und Vizekanzler in der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder. In seine Zeit fällt die Beteiligung der Bundeswehr an Auslandseinsätzen in Afghanistan und im Kosovo. Letzteren rechtfertigte er 1999 folgendermaßen:
»Ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen.« 2005 setzte er sich dafür ein, daß das Auswärtige Amt keine Nachrufe mehr für ehemalige Mitarbeiter veröffentlichte, die NSDAP-Mitglieder gewesen waren. Nach der verlorenen Bundestagswahl 2005 legte Fischer sein Abgeordnetenmandat nieder und übernahm eine Gastprofessur für internationale Wirtschaftspolitik an der Universität Princeton.
2010 folgte eine Gastprofessur der Universität Düsseldorf. Fischer wurde Gründungsmitglied und Vorstand des vom Milliardär George Soros finanzierten »European Council on Foreign Relations«. Es folgten zahlreiche Beraterverträge, unter anderem mit den Energiekonzernen RWE und OMV, mit BMW, Siemens und dem World Jewish Congress. Mittlerweile ist Fischer unter anderem Ehrendoktor der Universität Haifa, er erhielt die höchste Auszeichnung des Zentralrates der Juden in Deutschland, den Leo-Baeck- Preis, für Verdienste im Nahost-Konflikt, und die Europamedaille des Freistaates Bayern.
TOM CARL JOERGE KOENIGS (*1944)
Der Sproß einer Kölner Bankiersfamilie studierte an der FU Berlin und in Frankfurt Betriebswirtschaftslehre. Er beteiligte sich an Hausbesetzungen und Straßenkämpfen, wurde Mitglied der Gruppe »Revolutionärer Kampf«. Nach dem Studium nahm er eine Tätigkeit als Schweißer bei Opel an, arbeitete dann als Buchhändler. Sein Millionen-Erbe verschenkte Tom Koenigs 1973 dem Vietcong und chilenischen linken Aktivisten. »Ich fand, daß das Geld mir nicht zustand, weil meine Vorfahren es nicht durch eigene Arbeit, sondern vermutlich durch Ausbeutung angehäuft hatten«, erklärt er dazu. Koenigs trat bei den Grünen ein und hatte dort von 1983 bis 1997 diverse Ämter inne. Danach folgten Tätigkeiten für die Vereinten Nationen, etwa als Leiter der UN-Mission in Guatemala und als Vorstandsmitglied von UNICEF Deutschland. Von 2009 bis 2017 war er Bundestagsabgeordneter. 2016 übernahm er eine fünfjährige Bürgschaft für einen syrischen Einwanderer im Rahmen einer Initiative des Ver- eins »Flüchtlingspaten Syrien«.
WOLFGANG KRAUSHAAR (*1948)
Der Politikwissenschaftler ist der bekannteste Chronist der 68er-Bewegung. Die familiären Verhältnisse seiner Kindheit waren einfach. Ein nordhessisches Dorf, die Mutter betrieb ein Geschäft für Lebensmittel, der Vater verdiente sein Brot als Kfz-Mechaniker. 1966 /67 verweigerte Kraushaar den Wehrdienst, zu dieser Zeit ein Einzelfall. Die Zivildienstzeit in einer psychiatrischen Klinik endete mit der vorzeitigen Entlassung, weil Kraushaar eine bis dahin unübliche Versammlung mitinitiiert hatte, in der Patienten ihre Anliegen vortragen konnten.
Kraushaar studierte Philosophie und Germanistik in Frankfurt, wurde 1972 Mitbegründer der »Sozialistischen Hochschulinitiative« und danach AstA-Vorsitzender. Zwischen 1975 und 1982 arbeitete Kraushaar als Lektor im ursprünglich eng mit dem SDS verbundenen Verlag Neue Kritik und als Mitarbeiter am Didaktischen Zentrum der Universität Frankfurt.
Nach der Dissertation bei Iring Fetscher wurde Kraushaar seit 1987 bei dem von Jan Philipp Reemtsma gegründeten »Hamburger Institut für Sozialforschung« tätig. In diesem Rahmen hat er zahlreiche Publikationen zu deutschen Protestbewegungen, Totalitarismus, Extremismustheorien, 68er-Zeit, K‑Gruppen und RAF-Terrorismus verfaßt. 2004 wurde er zudem Gastprofessor an der Beijing Normal University in Peking.
WINFRIED KRETSCHMANN (*1948)
Keine NS-Verstrickten, keine NS-Opfer. Winfried Kretschmann bezeichnete seinen Vater als »sehr liberal« und die Mutter als unpolitisch. Aus Ostpreußen waren sie vertrieben worden, und Vater Kretschmann wünschte sich für seinen Sohn, daß dieser katholischer Pfarrer würde, was sich mit dessen Kindheitswünschen deckte.
Katholik blieb Kretschmann junior bis heute, doch das neue Klima der 68er- Revolte machte allen theologischen Phantasien einen Strich durch die Rechnung. Er studierte von 1970 bis 1975 Biologie, Chemie und Ethik für das Gymnasial-Lehramt in Hohenheim. Mit dem Beruf als Lehrer wäre es nach dem Willen des Verfassungsschutzes womöglich nichts geworden. Dieser meldete dem Oberschulamt, daß Kretschmann für kommunistische Studentengruppen zur Wahl des Studentenkonvents kandidiert hatte, was wegen des Radikalenerlasses ein Berufsverbot im öffentlichen Dienst hätte nach sich ziehen können.
Mehrere Jahre war er AstA-Vorsitzender und in der Hochschulgruppe des maoistisch orientierten »Kommunistischen Bundes Westdeutschland« aktiv. Hiervon sollte er sich später distanzieren. Nach Überprüfung wurde er dann doch verbeamteter Gymnasiallehrer in diversen baden-württembergischen Städten. 1979 /80 gehörte er zu den Mitbegründern der Grünen im Ländle, wurde 1980 erstmals in den Landtag gewählt und wurde bald Fraktionsvorsitzender. 1986 /87 arbeitete er für Joschka Fischer als Grundsatzreferent im hessischen Umweltministerium. Danach landete er wieder im Stuttgarter Landtag, um dort 2011 nach einem bedeutsamen Wahlerfolg zum ersten von den Grünen gestellten Ministerpräsidenten gekürt zu werden.
CLAUS LEGGEWIE (*1950)
Claus Leggewie ist heute einer der öffentlichkeitswirksamsten Verteidiger der 68er-Bewegung. Der aus einem bürgerlich-katholischen Elternhaus stammende Publizist trat um 1966 der Jungen Union bei. Damals nahm er an einer großen Schülerdemonstration gegen die Erhöhung der Straßenbahnpreise auf dem Kölner Neumarkt teil. Ihn interessierte dabei nur das Machtgefühl an sich, wie er 2015 dem Spiegel verriet: »Man hatte zum ersten Mal das Gefühl von Macht in einer Gemeinschaft, das Gefühl, etwas politisch bewirken zu können.
Solche Momente wünsche ich 16-Jährigen heute.« 1968 nahm er sein Studium in Köln und Paris auf. Nach eigenen Aussagen plante er damals einen Anschlag auf das spanische Konsulat in Köln. Die Ausführung sei allerdings daran gescheitert, daß er und seine Mitstreiter in der betreffenden Nacht zu betrunken gewesen seien. Heute bezeichnet Leggewie dieses Vorhaben als »kolossale Dummheit, aber der Anlaß war die Brutalität der Franco-Justiz«.
Einen einzigen Pflasterstein hätte er damals in ein Fenster geworfen.Um sich vom orthodoxen Marxismus abzugrenzen, sah Leggewie keine andere Alternative, als Maoist zu werden. 1977 verbreitete er mit anderen Uni-Dozenten das Pamphlet Buback – ein Nachruf, das den RAF-Mord am damaligen Generalbundesanwalt rechtfertigte. »Wir haben das veröffentlicht, weil wir Anhänger einer radikalen Rede- und Meinungsfreiheit waren«, rechtfertigte Leggewie sich 2015.
1989 begann Leggewie mit seiner Tätigkeit als Politik-Professor in Gießen. Leggewie erhielt zahlreiche Universitätspreise sowie den Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen. 2008 wurde er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung »Globale Umweltveränderungen«. Er ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von »Attac« und im »Rat für Migration«.
Heute bringt er 1968 mit den Begriffen »Freiheit, Demokratie, Republik« in Verbindung. Die Bewegung sei in eine »Fundamental- Liberalisierung« Deutschlands gemündet. Das stehe im Gegensatz zu heutigen »Revisionisten«, die 1968 auf der Basis eines »identitären Gegenprogramms« kritisieren, »das im Grunde auf die Bewahrung der Dominanz des weißen Mannes hinausläuft«. Der alte weiße Mann warnt deshalb heute: »Insofern hat 68 noch lange nicht gewonnen. Es steht alles auf dem Prüf- stand, es steht vieles auf der Kippe.«
Leggewie versteht links und rechts als eine »nach wie vor […] wichtige Unterscheidung im politischen System«. Und da nun »die Rechte so stark wird«, bräuchte es ein linkes »Gegengewicht«. 2015 zog er sein persönliches Resümee: »Ich finde es großartig, wie wir inzwischen in der Regel mit den Flüchtlingen umgehen. Deswegen stehe ich zu Multi Kulti – und zu 68.«
OSKAR REINHARD NEGT (*1934)
Der in Ostpreußen aufgewachsene Sohn einer Vertriebenen-Familie studierte Soziologie und Philosophie in Frankfurt bei Horkheimer und Adorno, der auch sein Doktorvater wurde. Von 1962 bis 1970 arbeitete er als Assistent für Jürgen Habermas in Heidelberg und Frankfurt, ehe er 1970 einen Lehrstuhl für Soziologie in Hannover übernahm, den er bis zur Emeritierung 2002 innehatte.
In den SDS war er bereits 1956 eingetreten, warb dort für die enge Zusammenarbeit zwischen marxistischer Linker und Gewerkschaften. Dabei brachte er es zum stellvertretenden Leiter einer DGB-Bundesschule. Eine Absage erteilte Negt dem als »verbrecherisch« bezeichneten Terrorismus, da dieser der linken Sache schade.
Nach einer Episode als APO-Wortführer hatte er das »Sozialistische Büro« in Offenbach inne. Es folgte der Kampf für geringere Arbeitszeiten, konkret: Die 35-Stunden-Woche, die als qualitativer Sprung in eine neue Gesellschaft bewertet wurde. Später folgte der Einsatz für das bedingungslose Grundeinkommen. Negt gehörte zu den Mitbegründern der reformpädagogischen Glockseeschule in Hannover, in der die Prinzipien des Projektunterrichts und der Selbstregulation herrschten.
Bereits 1994 beunruhigte Negt »die geistig-politische Vorherrschaft konservativer und neo-liberaler Ideologien im öffentlichen Leben«. 2013 rief er die SPD-Mitglieder zur Ablehnung des Vertrags zu einer Großen Koalition auf. Angesichts des Erstarkens von »Populismus« und »rechtsradikalen Tendenzen« in Europa plädierte Negt dafür, wieder eine »praktisch eingreifende Kapitalismuskritik« zu entwickeln. Da erstmals wieder seit 1945 die »Gefahr von Weimar« vor der Tür stehe, favorisiert Negt eine rot-rot-grüne Koalition: »Nur die arbeitsteilig zusammenarbeitende Linke ist in der Lage, den Zusammenbruch demokratischer Institutionen zu verhindern.«
FRANZ-JOSEPH RUPERT OTTOMAR VON PLOTT-NITZ-STOCKHAMMER (*1940)
Geboren in Danzig, studierte von Plottnitz Jura in Grenoble, Frankfurt und der FU Berlin. Er trat in den Frankfurter SDS ein und begann 1969 in der Mainmetropole als einer der prominentesten linken Rechtsanwälte zu arbeiten. Seine Fertigkeiten konnte er im Stammheimer RAF-Prozeß anwenden, in dem er den Terroristen Jan-Carl Raspe verteidigte. 1987 wurde er hessischer Landtagsabgeordneter für die Grünen, Fraktionsvorsitzender und 1995 Justizminister in Wiesbaden. Nun setzte er sich dafür ein, daß Sitzblockaden zur gewaltfreien Demonstrationsform wurden, daß das »Lebenslang« für Mörder abgeschafft und Deutschland zum Einwanderungsland erklärt wurde. Doch selbst Bauchtänzerinnen als Unterhaltungsangebot bei Gefängnisfeiern verhinderten nicht einige spektakuläre Ausbrüche in seiner Ministerzeit. Heute lebt von Plottnitz in einem Stilaltbau im Frankfurter Nordend. Er engagiert sich im Wissenschaftlichen Beirat von Attac sowie im Kuratorium von »medico international« und ist Mitglied im Staatsgerichtshof des Landes Hessen.
THOMAS SCHMID (*1945)
Der Arztsohn Thomas Schmid flüchtete 1952 mit seiner Familie aus der DDR, studierte Germanistik, Anglistik und Politikwissenschaft in Frankfurt. 1968 wurde er SDS-Mitglied und gehörte neben Cohn-Bendit, Fischer und dem Kabarettisten Matthias Beltz zu den Gründern der Sponti-Gruppe »Revolutionärer Kampf«. Nach einer Tätigkeit im Rüsselsheimer Opel-Werk arbeitete Schmid ab 1975 in der Redaktion der Zeitschrift Autonomie. Danach war er als Lektor im Verlag Klaus Wagenbach sowie für das linke Stadtmagazin Pflasterstrand, die Berliner taz und Die Zeit tätig.
Ab 1983 setzte er sich wie Winfried Kretschmann für eine gemäßigte Ausrichtung der Grünen hin zur Mittelschichtspartei ein. Mit Cohn-Bendit veröffentlichte er 1993 das Buch Heimat Babylon. Das Wagnis der multikulturellen Demokratie.
Im gleichen Jahr intensivierte Schmid seine journalistische Karriere und wurde Feuilletonchef der Berliner Wochenpost unter Chefredakteur Mathias Döpfner. Mit diesem ging er zur Hamburger Morgenpost, wurde schließlich 2006 Chefredakteur der Welt.
Schmid bewahrte sich einen undogmatischen Zug. 1994 gehörte er zu den Mitunterzeichnern eines Appells gegen den »antifaschistisch« motivierten Brandanschlag auf die Druckerei der Jungen Freiheit. Später verteidigte er den FDP-Politiker Jürgen Möllemann und sprach sich für eine Historisierung des Nationalsozialismus aus.
HANS-GERHART SCHMIERER (*1942)
»Joscha« Schmierer war 1968 Mitglied im Bundesvorstand des SDS. 1969 endete Schmierers akademische Laufbahn, nachdem er seinen Doktorvater, den Heidelberger Historiker Werner Conze, bei einer Veranstaltung mit Eiern beworfen hatte, als dieser die Wehrmacht in Schutz nahm. 1975 folgte eine achtmonatige Haftstrafe in der JVA Waldshut nach einer Verurteilung wegen schweren Landfriedensbruchs. 1973 gehörte er zu den Mitbegründern der straff organisierten maoistischen K‑Gruppe »Kommunistischer Bund Westdeutschland« (KBW) und fungierte dort bis zu dessen Auflösung 1985 als Führungsperson.
Bekannt wurde Schmierer damals durch seine Ergebenheit gegenüber dem massenmörderischen Pol-Pot-Regime in Kambodscha. 1978 reiste er mit einer KBW-Delegation zu einem Solidaritätsbesuch in das südostasiatische Land. Noch 1980, Pol Pot war bereits gestürzt und der Massenmord an rund zwei Millionen Bürgern der Weltöffentlichkeit bekannt, schickte Schmierer ein Telegramm an den Ex-Machthaber, in dem er diesem »unsere feste Solidarität« zusagte.
So viel außenpolitische Kompetenz hinderte Joschka Fischer nicht daran, Schmierer 1999 als Mitarbeiter in den Planungsstab des Auswärtigen Amtes zu berufen. Im Gegenzug verteidigte Schmierer noch 2001 Fischers einstige Gewaltexzesse und gab der Polizei eine Mitschuld daran. In seiner Tätigkeit im Auswärtigen Amt beschäftigte sich Schmierer unter anderem mit Grundsatzfragen der Europapolitik. Schmierer behielt auch noch unter Fischers Nachfolger Frank-Walter Steinmeier bis 2007 diese Funktion. Der einstige Chefredakteur der Zeitschrift Kommune konnte in vielen Artikeln für die Berliner taz, aber auch für die bürgerliche Presse diverse westliche Militäreinsätze als »konsequente Weltinnenpolitik« rechtfertigen.
JÜRGEN TRITTIN (*1954)
Jürgen Trittin ist zu jung, um als echter 68er durchzugehen, wenngleich er bereits 1969 als Schüler an Demonstrationen in Bremen teilgenommen haben soll. Doch er steht exemplarisch für jene, die unmittelbar in jenen damals noch frischen Strukturen sozialisiert wurden, die die 68er aufgebaut hatten. Der Sohn eines Sturmbannführers der Waffen-SS studierte Sozialwissenschaften in Göttingen. Er wurde für die »Sozialistische Bündnisliste«, einer Kooperation der trotzkistischen »Gruppe Internationale Marxisten« (GIM), des maoistischen »Kommunistischen Bundes« (KB) und anderer Linksradikaler, Mitglied im Fachschaftsrat.
1978 kandidierte er erfolgreich für die »Liste demokratischer Kampf« des »Kommunistischen Bundes« für einen AstA-Sitz und wurde schließlich Präsident des Studentenparlaments. Die Organisation von Demonstrationen und die Beteiligung an Hausbesetzungen waren für das KB-Mitglied Teil einer politischen Gesamtstrategie.
»Wir wollten einen anderen Staat«, erklärte er rückblikkend 2001. Trittin bekundete, sich schon aus charakterlichen Gründen nicht an Gewaltakten beteiligt zu haben. Dennoch sei das Verhältnis des KB zum Terrorismus nicht von moralischer, sondern nur von instrumenteller Ablehnung geprägt gewesen: »Wir sahen im Terrorismus einfach nicht das geeignete Mittel für unsere Ziele. Wir waren keine pazifistische Vereinigung.«
Anfang der 1980 wandte sich Trittin der KB-Abspaltung »Gruppe Z« zu, deren Ziel die linke Unterwanderung der im Entstehen befindlichen Grünen war.
1981 wurde er wissenschaftlicher Assistent der »grün-alternativen« Stadtratsfraktion in Göttingen, arbeitete als Pressesprecher der niedersächsischen »grünen« Landtagsfraktion und wurde 1985 Landtagsabgeordneter. 1989 war Trittin einer der Mitbegründer der berüchtigten »antifaschistischen« Zeitschrift Der Rechte Rand. Von 1990 bis 1994 fungierte er als niedersächsischer Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten.
Es folgte 1998 der Einzug in den Bundestag und umgehend bis 2005 die Tätigkeit als Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Energiewende, Ökosteuer und Dosenpfand wurde unter seiner Ägide vorbereitet. 2012 nahm er an der Bilderberg-Konferenz in Chantilly/Virginia teil. Bereits 1999 hatte Trittin Deutschland als ein »in allen Gesellschaftsschichten und Generationen rassistisch infiziertes Land« bezeichnet.
KARL DIETRICH WOLFF (*1943)
Der Richtersohn besuchte ein hessisches Gymnasium, dann eine amerikanische High-School und wurde 1962 für zwei Jahre Zeitsoldat bei der noch jungen Bundeswehr. Danach studierte er Jura in Marburg. Gemeinsam mit seinem Bruder, dem Orchestermusiker Frank Wolff, wurde er in der Studentenbewegung aktiv. Er wurde ins Frankfurter Studentenparlament und den AStA gewählt. 1967 /68 fungierte KD Wolff als Erster Vorsitzender des »Sozialistischen Deutschen Studentenbunds« (SDS).
1969 reiste er auf Einladung der 1960 gegründeten Organisation der Neuen Linken, »Students for a Democratic Society«, durch die USA und mußte sich dort vor dem »Komitee für unamerikanische Umtriebe«, einem Gremium des Repräsentantenhauses, rechtfertigen, weil er über einen US- Senator als »rassistischen Banditen« gesprochen hatte.
1970 besuchte Wolf mit einer Delegation die Volksrepublik Nord-Korea. Das Frankfurter SDS-Mitglied Werner Olles, einst als Chauffeur für Wolff tätig, schrieb 1998: »Wenn der ehemalige SDS-Vorsitzende K.D. Wolff von einer seiner Nordkorea-Reisen zurückkam und voller Stolz das Kim-Il-Sung-Käppchen trug, aber über die Konzentrationslager des dortigen Regimes nichts zu erzählen wußte, sagte auch das viel über das Verhältnis der Neuen Linken zu den Diktaturen dieser Welt aus, ebenso wie sein das nordkoreanische Henker-Regime glorifizierender Aufsatz im ›Kursbuch‹.« Olles distanzierte sich von Wolffs Umfeld und Gewaltapologetik, nachdem es zu Anschlägen auf amerikanische Einrichtungen in Frankfurt gekommen war und des Verrats verdächtige »Genossen« observiert wurden.
In dieser Zeit begann auch Wolffs Tätigkeit als Verleger. Er gründete den Verlag Roter Stern, der später in Stroemfeld/Roter Stern und Stroemfeld/Nexus umbenannt wurde. In den 90er Jahren fungierte Wolff als Beiratsmitglied im Vorstand des PEN- Zentrums Deutschland. Die Deutsche Nationalbibliothek in Frankfurt präsentierte 2010 in ihren Räumlichkeiten eine Ausstellung anläßlich der 40-jährigen Gründung seines Verlages.