Die möglichen Ursachen von Gebärverweigerung und das unpopulärer werdende Leben mit Kindern haben längst einen festen Platz in Kommentarspalten und selbst im beiläufigen Straßengespräch gefunden. Die Motivsuche geht gewöhnlich nach außen und läßt mitunter an das Bild der Gebetsmühle denken: Kinderfeindlichkeit, Familienarmut, insgesamt schlechte Bedingungen sind jene so vielzitierten wie diffusen Gemeinplätze, auf die man die eigene Unlust am Kind leicht abwälzen kann. Umso interessanter ist die Innensicht jener „Emanzipationsfalle“, für die die 38jährige Zeit-Redakteurin Susanne Gaschke weit tiefer schürft als es sämtliche Klischees von Krippenmangel und Vereinbarkeitswunsch leisten können (Die Emanzipationsfalle. Erfolgreich, einsam, kinderlos. München: C. Bertelsmann 2005). Der Bevölkerungsschwund, so Gaschkes unerhörte These, gehe auch auf das Konto der deutschen Frauenbewegung. Jene emanzipatorische Umwälzung vor 35 Jahren habe mit all ihren Freiheiten und der Eröffnung einer multioptionalen Lebensführung für Frauen dieselben eben auch unter einen gesellschaftlichen und ökonomischen Druck gesetzt, der die Entscheidung für ein Kind zu einer komplizierten Kopfgeburt werden lasse. Gaschkes Buch über Vor- und Nachteil eines selbstermächtigten „Biografiedesigns“, über die allüberall vorherrschende Singleästhetik, über die Abschreckungswirkung unerzogener Kinder, über Nutzen und Nachteil heute gängiger Sexualaufklärung (die allein eine Anleitung zur Kontrazeption bietet), über das „abschichtende erstmal-Prinzip“ der Akademiker und damit der Elite und Avantgarde (erstmal: „Grundstudium, erst mal Zwischenprüfung, erst mal Studienortwechsel, erst mal Examen, erst mal beruflich Fuß fassen, erst mal in der Altbauwohnung die Dielen abziehen, erst mal den richtigen Partner finden.
Und, zwischendurch permanent: erst mal Spaß haben“), über das „unordentliche Milieu der Niedrigqualifizierten“ (Überschrift:„Wo Nachwuchs als natürlich gilt“) und über die ökonomistische Wende der Familienpolitik bietet eine erlesene Fundgrube kaum bedachter und haarscharf formulierter Beobachtungen.
Ein möglicherweise gewichtiger Punkt bleibt sowohl bei Birgs umfassender Darstellung des Gebärstreiks und seiner Folgen als auch bei der tiefgreifenden Analyse möglicher Gründe durch Gaschke unerwähnt: Zahl und Bedeutung der durch Abtreibung nicht geborenen Kinder. Rund acht Millionen ungeborene Kinder – vulgo: „Schwangerschaftsgewebe“ – seien seit 1974, dem Jahr der Neufassung des Abtreibungsparagraphen 218 in den Mülleimern von Abtreibungskliniken und Arztpraxen gelandet, rechnet Manfred Spieker vor (Der verleugnete Rechtsstaat. Anmerkungen zur Kultur des Todes in Europa. Paderborn: Schöningh 2005). Die Diskrepanz jener Zahl, die Abtreibungsgegner von einem „Babycaust“ sprechen läßt, zu den vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Zahlen – rund 130.000 Abtreibungen jährlich – kann Spieker, Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück, gründlich belegen. Beispielsweise werden deutlich mehr als die gemeldeten Fälle von den Krankenkassen abgerechnet, über zehn Prozent abtreibungswilliger deutscher Frauen lassen den Eingriff im Ausland vornehmen, auch „Mehrlingsreduktionen“ nach künstlicher Befruchtung werden von der amtlichen Statistik nicht erfaßt. Selbst das dem Bundesamt für Statistik angegliederte Institut für Bevölkerungsforschung nimmt an, daß nur etwa „60 Prozent der Schwangerschaftsabbrüche durch die Statistik gezählt werden“. Spieker geht nun davon aus, daß bei einer Nichtfreigabe der Abtreibung die vor 1974 angenommene Zahl von 100.000 Abbrüchen jährlich bis heute etwa fortzuschreiben wäre. Demnach hätte Deutschland heute über 5 Millionen Einwohner – und damit wiederum potentielle Mütter und Väter – mehr. Nun ist es ein weiter Schritt von Spiekers Rechnung zu Alice Schwarzers Diktum, daß abtreibungswillige Frauen in jedem Fall – also auch gegen das Gesetz – abtreiben würden. Ob sie es um jeden Preis täten? Rund 90 Prozent aller Schwangerschaftsabbrüche nach „Beratungsschein“ (also ohne die seltenere kriminologische oder eugenische Indikation) werden von den Sozialministerien der Bundesländer bezahlt. Interessant ist hierbei, daß jene Zahl zwischen den einzelnen Bundesländern deutlich variiert: Bayern zahlt „nur“ gut 60 Prozent der Abbrüche, NRW demgegenüber 95 Prozent. „Insgesamt geben die Bundesländer“, so rechnet Spieker vor, „jährlich rund 42 Millionen Euro für die Tötung ungeborener Kinder aus.“ Besonders prekär erscheint, daß zur Berechnung einer Kostenübernahme allein das Einkommen der Frau angerechnet wird, das des Mannes aber unberücksichtigt bleibt. Zusätzlich wird die bei der normalen Sozialhilfe geltende Einkommensgrenze um 30 Prozent höher angesetzt. Spieker: „Sozialhilfe zwecks Tötung eines Kindes ist also wesentlich leichter zu beziehen als Sozialhilfe zwecks Geburt und Erziehung eines Kindes.“
Wer ist nun berufen, aus all jenen demographischen, familienpolitischen wie allgemein gesellschaftlichen Mißständen eine Kehrtwende zu fabrizieren, die zur Beilegung des hartnäckigen Gebärstreiks führt? Bundesfamilienministerin von der Leyen hält das Ruder in der Hand. Daß sie gegen den Strom nicht ansteuern wird, zeichnet sich in vielen Bereichen ab. Wer trotz sieben Kindern der beruflichen Vollzeit-Karriere den Vorzug gibt, dürfte selbstredend für eine Ökonomisierung des familiären Bereiches sprechen. Jüngst erklärte sie gegenüber dem Rheinischen Merkur, daß sie den geltenden § 218 nicht anzutasten gedenke. Immerhin dies aber hätte man von einer in jeder Hinsicht Multi-Mutter und Christin erwarten dürfen.