Wonach Leser fragen (1)

von Sigrid Wirzinger - Die 94. Sezession haben wir schon vorgestellt - hingewiesen sei nun besonders auf den Beitrag von David Engels zu J.R.R . Tolkien.

Ein­deu­tig ein Ken­ner, arbei­tet Engels mar­kan­te Pfei­ler und Wesent­li­ches für den kon­ser­va­ti­ven Leser in Tol­ki­ens Werk her­aus und emp­fiehlt eine erneu­te Lek­tü­re ent­lang sei­ner The­sen und über­haupt zum Zwe­cke der inne­ren Sor­tie­rung. Herz­stück ist und bleibt dabei natür­lich die Tri­lo­gie Der Herr der Rin­ge.

Wer Herr der Rin­ge nicht schon zu Hau­se ste­hen hat, die zer­fled­der­ten grü­nen Taschen­bü­cher erset­zen möch­te oder schlicht biblio­phil ist, soll­te zur neu­en Aus­ga­be von Klett Cot­ta grei­fen: alle drei Bän­de im Schu­ber, präch­tig neu gestal­tet zum 50. Erschei­nungs­ju­bi­lä­um. Mit Anhän­gen und Regis­ter und natür­lich in der Über­set­zung von Mar­ga­ret Carroux.

Außer­dem heißt es hier: schnell zugrei­fen: Der Ein­füh­rungs­preis von 68 € gilt noch bis zum 29.2.2020, danach kos­tet die­se Pracht­aus­ga­be 88 €. Hier bestel­len.

– – –

Zur Stun­de jährt sich die kata­stro­pha­le Bom­bar­die­rung Dres­dens von 1945 zum fünf­und­sibzigs­ten Mal. Ein­woh­ner, Flücht­lin­ge und Ver­trie­be­ne aus dem Osten, Sol­da­ten und Zivi­lis­ten, kul­tu­rel­le Schät­ze und his­to­ri­sche Gebäu­de fie­len einem unmensch­li­chem Ver­nich­tungs­werk zum Opfer. Lek­tü­re dazu gibt es genug, hier unse­re Empfehlungen:

Com­pact Spe­zi­al: Dres­den 1945 – Auf 82 Sei­ten beschreibt Wolf­gang Schaar­schmidt in drei Haupt­ka­pi­teln die 40 Stun­den Bom­ben­ter­ror über Dres­den, erschüt­ternd in der Nüch­tern­heit das Kapi­tel »Zah­len und Fak­ten«. Schaar­schmidt sel­ber hat das Infer­no über­lebt und arbei­tet mit sei­nen Büchern und nun mit die­sem aktu­el­lem Heft (bro­schiert, 9,90 €, hier bestel­len) dem Ver­ges­sen und dem Ver­harm­lo­sen entgegen.

Schaar­schmidts Haupt­werk ist sicher­lich das 2013 bei Ares erschie­ne­ne Buch Dres­den 1945 Daten– Fak­ten – Opfer (gebun­den, 272 Sei­ten, 19,90 €, hier bestel­len), es ist nun wie­der ver­füg­bar. Auf der Basis eige­nen Erle­bens und jah­re­lan­gem For­schen ist die­ses Grund­werk ent­stan­den und ist ein wesent­li­cher Bei­trag zur Luftkriegsgeschichte.

Dres­den war kein Ein­zel­fall, die Stra­te­gie des »moral bom­bing« leg­te dut­zen­de deut­sche Städ­te in Schutt und Asche, die Opfer waren nicht Sol­da­ten, son­dern die Zivil­be­völ­ke­rung: Müt­ter, Kin­der, Alte, Vete­ra­nen des Ers­ten Welt­krie­ges. Björn Schu­ma­cher beschreibt den plan­mä­ßi­gen Bom­ben­krieg der West­al­lier­ten in sei­nem Buch Die Zer­stö­rung deut­scher Städ­te im Luft­krieg (gebun­den, 24,90 € hier bestel­len) aufs genau­es­te und bewer­tet abschlie­ßend den Bom­ben­krieg gegen Deutsch­land nach den Maß­stä­ben inter­na­tio­na­lem Rechts…

Als vor knapp 20 Jah­ren Jörg Fried­richs Der Brand erschien, war das media­le Echo enorm. Ein deut­scher Autor, der sich an die Geschich­te des Bom­ben­kriegs wag­te? Heu­te gehört Der Brand  mit sei­ner umfas­sen­de Dar­stel­lung der Kata­stro­phe und ihre bei­spiel­lo­se Dimen­si­on zu den Stan­dard­wer­ken über den Zwei­ten Welt­krieg und soll­te in jedem kon­ser­va­ti­ven Bücher­schrank ste­hen (Taschen­buch, 592 Sei­ten, 14 € hier bestel­len).

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Kommentare (64)

Maiordomus

14. Februar 2020 06:44

Literarhistorisch ernst genommen wurde das Thema "Luftkrieg" eigentlich fast erst nur durch die Schreibe des hoch begabten, unterdessen vielleicht eher überschätzten, an den Folgen eines Autounfalls früh verstorbenen W.G. Sebald, den ich in Zürich und London bei Lesungen noch gehört habe, ohne dass er mir den starken Eindruck zu machen vermochte, den man ihm heute zuschreibt. Eine Bedingung, dass man ihm überhaupt zuhörte, war ein linkes politisches Bekenntnis, wenngleich nicht gerade marxistisch und immerhin jenseits von Schuldstolz.

Natürlich bleibt es von Bedeutung, dass man nicht Belletristik, sondern eigentliche historische Quellenliteratur studiert. In der veröffentlichten Meinung wird Dresden derzeit, wie schon lange nicht mehr, nur noch unter dem Stichwort "Propaganda" subsumiert. Bei meiner ersten Führung durch Dresden, die ich erlebte, unter Bedingung der freien Rede, 1990, wurde bereits auf die Tendenz aufmerksam gemacht, die Opferzahl von Dresden herunterzureden, ganz im Gegensatz zur umgekehrten Tendenz bei Auschwitz. Für mich war immer jeder einzelne Tote ein Toter, wobei die jeweiligen Zahlen weniger mit Wissenschaft als mit "Konsensobjektivität" zu tun hatten, wobei immerhin bei Auschwitz absurde Zahlen um diese Zeit dann auch offiziell herabgesetzt wurden, wobei runde Zahlen, ob nun in der Deutschen National- und Soldatenzeitung vor 50 Jahren einerseits, oder in zugelassenen Geschichtsbüchern andererseits aus meiner Haltung als kritischer Historiker nie ernst genommen werden konnten. Ohnehin war mir das gegenseitige Aufrechnen von Opfern stets zuwider. Natürlich sind auch die hundert Millionen Opfer des Kommunismus in dieser runden Zahl reine Propaganda. Die Vorgänge waren schrecklich genug, die Toten viel zu viele, so dass man nicht noch alles mit Lügen ausschmücken muss. Für Kapitalismuskritiker wie Jean Ziegler hat übrigens der Kapitalismus nicht Millionen, sondern zumindest potentiell, Milliard Opfer. Jeder und jede, die ohne bei Reichen mögliche z.B. medizinische Behandlung einschliesslich Wellness, Ernährung usw. früher stirbt als unter bestmöglichen westlichen Bedingungen, ist natürlich ein Opfer des Kapitalismus. Mit den Toten wird Propaganda gemacht, je mehr Opfer im eigenen ideologischen Lager, desto stärker ist man legitimiert.

Das war 1446 bei der Schlacht von Ragaz zwischen den Eidgenossen und den Österreichern noch nicht so. Stolz bezifferten die Schweizer Geschichtsschreiber die eigenen Opfer zwischen sieben und zwölf, wohingegen mindestens 1 500 Österreicher entweder von Hand totgeschlagen oder zum Ertrinken in den Rhein getrieben wurden. Das waren, trotz christlichem Glauben, noch gleichsam homerische Verhältnisse mit demonstriertem Kriegerstolz. Auch diese Zahlen sind als Propaganda einzuschätzen.

FranzJosef

14. Februar 2020 10:23

Ich habe eine Frage zu Jörg Friedrich, den ich sehr schätze:

Was ist los mit ihm? Versteckt er sich? Schreibt der noch irgendwo? Ich finde - fast - nichts von ihm im Netz.

Ein letztes Lebenszeichen war offenbar seine Teilnahme 2018 an einer Podiumsdiskussion der Bibliothek des Konservatismus "Kulturbruch 68", die auf YouTube veröffentlicht wurde. Er sitzt seltsam unbeteiligt und gelangweilt auf dem Podium und läuft nur wenige Mal zu Hochform auf. Trotzdem wirkt er wie nicht dazugehörig.

Schreibt er noch an einem neuen Buch? Was ist da los? Weiß jemand etwas?

Laurenz

14. Februar 2020 13:22

Jeder kann von Veterans Today halten, was er will. Diese tendenziöse Agentur berichtete schon öfters, daß Dresden mehr Opfer forderte als Hiroshima und Nagasaki zusammen.
Hier ein Eindruck der Dresden - Debatte in den USA.

https://www.veteranstoday.com/2019/08/03/the-destruction-of-dresden-2/

oder

https://www.veteranstoday.com/2018/02/13/73rd-anniversary-of-bombing-of-dresden-worst-war-crime-of-20th-century/

oder

https://www.veteranstoday.com/2018/02/16/the-allied-holocaust-in-dresden/

oder

https://www.veteranstoday.com/2015/02/16/70th-anniversary-of-the-dresden-holocaust/

Natürlich haben die US Amerikaner eine andere Kultur der Free Speech als wir. Vor allem existieren dort keine Offensichtlichkeitsklauseln.

VT als "rechts" zu bezeichnen würde der Agentur nicht gerecht. Die Redakteure mögen keinen Trump, würden hier als anti-semitisch gelten, auch wenn afro-amerikanische - und jüdische Publizisten für die Agentur schreiben.

Laurenz

14. Februar 2020 13:32

https://sezession.de/62191/wiedervorlage-die-hoelle-von-dresden-1945

Als ich Zeit fand, mich dem Artikel zuzuwenden, war er schon geschlossen.
Ich möchte doch alle Mitforisten bitten, historisch genauer zu recherchieren.
Vor allem @Imagine & @zeitschnur ideologisieren, auch noch falsch, aufgrund oberflächlicher Recherche, was zu falschen Schlußfolgerungen führt. Das ist für SiN nicht angemessen.

Andreas Walter

14. Februar 2020 16:02

Achtung deutsche Aktionäre!

Nicht verrückt machen lassen durch solche Artikel:

https://insideparadeplatz.ch/2020/02/12/china-corona-leere-schiffe-wie-schlimm-wirds/

Der BDI ist schon seit Jahren niedrig:

https://transportgeography.org/?page_id=5619

Selbst wenn Kurse jetzt ein wenig fallen ist das noch nicht das Ende der Welt. Es sei denn alle drehen gleichzeitig durch und verkaufen Aktien. Der Schaden wäre dann allerdings tatsächlich wesentlich grösser als alles, was das Virus allein jemals anrichten kann. Da es Kinder kaum und zu 80% hauptsächlich Menschen über 60 betrifft. Jede Panik ist daher im weltlichen wie aber auch weltlich wirtschaftlichem Masstab betrachtet vollkommen unangebracht, selbst wenn jeder Verlust an Menschenleben grundsätzlich zu bedauern ist.

Die Panik selbst ist daher die grösste Gefahr, die manche in den Medien gerade schüren, was ich darum für vollkommen verantwortungslos halte.

Überhaupt fällt es mir auch auf, wie wenige derzeit zu China halten und dem Land darum die Daumen drücken und es womöglich sogar unterstützen in so einer schweren Zeit. Darin aber zeigt sich erst wahre Grösse und wer Freund und wer Feind ist und wer sich China unnötig zum Feind macht ist einfach nur dumm oder beabsichtigt damit etwas bösartiges.

Maiordomus

14. Februar 2020 16:04

PS. Für Jean Ziegler fordert der Kapitalismus in jeder Sekunde jede Menge Opfer, also am Ende M i l l i a r d e n Opfer. Es ist dies seine Theorie des Todes, die man einem linken Sektierer als seinen Glauben durchaus abnehmen kann. Jeder hat das Recht auf solche "Theorie", wenn er sie nicht gerade für wissenschaftlich erklärt. Sie kann freilich in einen Wahn ausarten, siehe Sonnentempler.

Lob für Kositza, "Hausheilige" aber kritischer sehen!

Zur Kritik am neuen Heft: In Sachen Begabung für Rezensionen, für den aufmerksamen Durchschnittsleser geniessbar, bleibt Kositza einmal mehr unschlagbar. Noch sehr bedenkenswert ihre Hinweise auf die FAZ, wo Sibylle Berg und Feridun Zaimoglu als Standardkanon empfohlen werden, Berg: was ich durchaus als Kompliment meine, noch eine zeitkonform politisierte Marlitt, die natürlich zu ihrer Zeit haushoch bessere Auflagen erzielte als Fontane. In einem Brief an Emilie Fontane beschwert sich Fontane darüber: „Die Sachen von der Marlitt (…) Personen, die ich gar nicht als Schriftsteller gelten lasse, erleben nicht nur zahlreiche Auflagen, sondern werden auch womöglich ins Vorder- und Hinterindische übersetzt; um mich kümmert sich keine Katze.“ Berg erhielt auch in ihrer Eigenschaft als linke Unterschriftensammlerin und Spiegel-Kolumnistin und weil es in der Schweiz offenbar keine begabteren Autorinnen mehr gibt, den Schweizer Buchpreis. Immerhin engagiert sie sich politisch, was man ja auch Greta zugutehält.

Was Zaimoglu betrifft, so empörte sich ein absolut hochbegabter (mathematich und sprachlich) Schüler bei seiner Lehrerin, dass man einen solchen Schrott mit jeder Menge Fäkalausdrücke zwangsweise lesen müsse, wofür er eine Maturitätsnote noch knapp bei "genügend" erhielt, später machte er einen Spitzenabschluss an der ETH Zürich.

Noch anregend fand ich als seit 50 Jahren an Geschichtsphilosophie kritisch Interessierter den Aufsatz von Erik Lehnert mit Odo Marquard als einem der wichtigsten Gelehrten unserer Zeit im Vordergrund. Dessen Buch "Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie", worauf Lehnert aufmerksam macht, ist wahrhaft bedeutsam. Wertvoll auch der Hinweis auf Jacob Burckhardts "Weltgeschichtliche Betrachtungen".
Dabei muss aber klar sein, dass die Werke dieser Geistesgrössen nicht gerade leicht zugänglich sind. Insofern wäre, wenn man an Neu-Einsteiger denkt, der Hinweis zum Beispiel auf Marquards Reclambuch "Philosophie stattdessen", zumal auch seinen Aufsatz "Narrare necesse est" (ebenfalls bei Reclam), nützlich, wo nämlich für fast jedermann verständlich gemacht wird, dass Geschichten Erzählungen sind. Eine Voraussetzung wohl für das Verständnis des Hauptwerks, welches wiederum ein Standardwerk seines wohl engsten Weggefährten Hermann Lübbe fortschreibt: "Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse". Lübbe und Marquard haben, in der Nachfolge Poppers, nachgewiesen: Geschichtstheorien und Geschichtsphilosophien sind aufgrund von irreparablen logischen, analytischen und empirischen Mängeln nur von metaphorischer, nicht von wissenschaftlicher Bedeutung. Womit einiges, was Schnellroda als rechten Kanon empfiehlt, wie linker Schrott ebenfalls hinfällig wird. Verlorene Liebesmüh für künftige Deutschlandretter.

Also bringt es wohl wenig, gutmeinenden Einsteigern etwa Spengler zu empfehlen, zumal nicht sein Hauptwerk "Untergang des Abendlandes", zu schweigen von Heidegger, dessen Gesamtwerk ohnehin von sehr geringem politischem Nutzwert ist und auch nicht darauf hin geschrieben wurde. Erst noch hat der Philosoph aus Messkirch von seinen Lesern ausdrücklich verlangt, des Altgriechischen mächtig zu sein, weil sie ihn sonst keinesfalls verstünden. Immerhin hielt er als Student in seiner Heimatstadt 1913 einen noch von wenigen Transzendentalbegriffen durchsetzten Vortrag zum Thema "Können Pferde denken?", was ich wie seine noch reizvolle Studie "Der Feldweg" nicht unterschätzen würde.

Bei Heidegger würde es vielleicht noch was bringen, dass man in Schnelloda erklärt, was sein bedenkenswertester Satz "Die Wissenschaft denkt nicht" bedeutet, und aus "Sein und Zeit" noch das "Alltägliche Selbstsein und das Man", wobei, hätte Heidegger diesen seinen eigenen Text richtig verstanden, ihm seine politischen Irrtümer nicht hätten passieren dürfen. Was den ebenfalls empfohlenen Nietzsche betrifft, wäre allerdings, wie hier schon mal dargetan, Heideggers Erklärung des Satzes "Gott ist tot" für philosophisch Fortgeschrittene hilfreich. Auf keinen Fall zwar ohne Grundlagenstudien der abendländischen Metaphysik.

Wenn man (es gibt auch andere hier) die im Heft so genannten Hausheiligen zum grossen Teil schon vor 40 bis 50 Jahren gelesen hat, müsste eine didaktische Warnung ausgesprochen werden: Nämlich dass man sich in einem Kanon von Ideologen eher verrennt, wiewohl man natürlich bei Carl Schmitt viel über Politik lernen kann. Und selbst beim einzig aufgezählten wirklich grossen Schriftsteller, Ernst Jünger, wäre zu sehen: die 18 Bände der Gesamtausgabe sind für Heutige, zumal Jüngere, nicht mehr durchwegs lesbar. Am wenigsten der von Heidegger in einem Seminar mal behandelte "Arbeiter". Man könnte sich vielleicht auf "Die Eberjagd" beschränken, von geschichtsphilosophischem Gehalt sogar nachhaltiger Hegel, Marx und Oswald Spengler, weil bei Jünger so meisterhaft wie fast nirgends in der deutschen Literatur die epochale Rolle des Zufalls in der Geschichte evident gemacht wird. Noch lehrreicher in dieser Hinsicht ist wahrscheinlich nur noch Kleists "Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden." Kleist wiegt mutmasslich für das Verständnis geschichtlicher Vorgänge den Rest der deutschen Philosophie weitgehend auf, zusammen mit Johann Peter Hebel. Den "Rheinischen Hausfreund" versteht auch deswegen jeder, weil er im Vergleich zu a l l e n Geschichtsphilosophen Geschichten klarer und transparenter zu erzählen versteht, was dann am Ende ein sehr schlichtes "Merke", ermöglicht, nicht den wissenschaftlichen Sozialismus, bloss Common sense, aus der Situation entwickelt. Das kann man aus einer Geschichte und sogar aus d e r Geschichte lernen, sonst leider nichts. Hegel ahnte es übrigens. Bei Hebel ergiebit sind etwa die philosophische Meistererzählung "Kannitverstan" und "Unverhofftes Wiedersehen". Für das Verständnis geschichtlicher Vorgänge hintergründiger und dennoch klarer als Hegel, Marx, Spengler und alle Historizisten zusammen, weil diese in der Regel nicht verstanden haben, was eine historische Erklärung leisten kann und was nicht. Wie eine Geschichte nun mal funktioniert, hat etwa für Ostfriesland der einheimische Philosoph Wilhelm Schapp zu erklären gewusst, schon weil er Ostfriesland im Detail, auf das es ankommt, besser kannte als Hegel, Marx, Spengler, Fukyama jeweils die Weltgeschichte. Dass Schapp, den hier wohl keiner kennt, recht haben kann, die Berühmten sich irren, ist völlig normal, siehe das einstige Ptolemäische Weltbild. Schapp machte exemplarisch klar, dass die Vorgänge der friesischen Lokalgeschichte nun mal keinem auch irgendwie gearteten Geschichtsgesetz folgen, sondern als Abfolge von Notwendigem und Nichtnotwendigem bis zum schlicht Zufälligen einfachhin mal zu erzählen sind: am klarsten wird es, wenn man es zum Beispiel wie Johann Peter Hebel macht. Hegel gegenüber bleiben Spengler und Marx nun mal Unsinn und ganz sicher nicht wissenschaftlicher als etwa das letzte Buch der Bibel, dessen Voraussagen reine Glaubenssache sind. Diese Gedanken sind nur vermittelnd die meinen, weitgehend dem Studium von Marquard und Lübbe entsprechend. Der Aufsatz von Lehnert verliert sich aber meines Erachtens etwas stark in Weitläufigem und meines Erachtens Unbrauchbarem. Dass die Weltgeschichte eine Heilsgeschichte sei, gehört nun mal zum raunenden linken Unsinn, säkularisierte Religion als wahre Volksverdummung, gegen welche es einen Aufstand der Vernunft zu mobilisieren gäbe. Dazu gehört wohl auch die der Jugend mangels noch gesunder religiöser Erziehung vermittelte Klimareligion, vertreten von Leuten, die wie mindestens 97.5% auch der Akademiker selten eine Ahnung von Theoriebildung haben.

Wir brauchen weder linke noch rechte Schwätzer. Bei jetzt 8 Milliarden Menschen, darunter nicht wenigen mit echterm Einfallsreichtum, der Species mit der grössten Fähigkeit aller Wirbelwesen, sich ans Klima anzupassen, gibt es keinen vernünftigen Grund, warum es nicht auch in einer Million Jahre Menschen geben wird. Alles andere ist zum Teil leider sogar biblisch eingebildete Naherwartungsneurose. Alle Theorien über Geschichte jenseits von Johann Peter Hebel sind nun mal reine Ideologien, eingebildete Rechthabereien, in vielen Fällen Konstrukte zur Erstellung eines Feindbildes.

Ich möchte indes Herrn Dr. Stefan Scheil danken für den Verriss von Thorsten Schulte, von dem ich an dieser Stelle mal einen Vortrag gelobt habe, weil er sich, nicht das Gegenteil des zwar weit kritischeren Reinhold Schneider, gegen das Klischee der Einschätzung von Kaiser Wilhelm II. gewandt hat. Dies würde mich veranlassen, das Buch vielleicht doch zu kaufen. Dabei war mir immer klar, dass Schulte parteiische Gebrauchshistorie betreibt. Im Marxismus und Feminismus ist entsprechende Parteilichkeit theoretisch anerkannt, weswegen diese Richtungen wissenschaftlich nichts wert sind, über ein paar Resultate hinaus, auf die andere aber auch gekommen sind, zum Teil längst etwa vor Marx und Engels. Insofern Lehner aber Jacob Burckhardt als Klassiker zitiert, ein Hinweis für Nichtkenner der Gesamtausgabe: "Glück und Unglück in der Weltgeschichte", aus den "Weltgeschichtlichen Betrachtungen". Es würde für den Anfänger und sogar politisch handeln wollende Fortgeschrittene durchaus die meisten "Hausheiligen" ersetzen.

Für Bildungsfossilien meiner Sorte war indes der Aufsatz über Tolkien, der Jungen regelmässig gefällt, lehrreich und echt horizonterweiternd. Von bedeutendem Interesse noch "C.G. Jung und die deutsche Rechte", wiewohl Jung ein noch phantasievoller Ideologe bleibt.

Um mir aber ein Unbehagen über die neue Nummer nicht zu verklemmen : Mir kommt Schnellroda zunehmend von geisttötenden linken Irrtümern verseucht vor: Wer Bertolt Brecht, den Befürworter der Erschiessungen von Moskau und Verfasser der "Massnahme", den (im Vergleich zu Agnes Miegel) aber genialen Lyriker zitiert mit dem Programmsatz am Schluss des Heftes "Hungriger, greif nach dem Buch: Es ist eine Waffe!", verabschiedet sich von philosophischem und akademischem Niveau. Da kann man unmöglich sich gleichzeitig auf Max Webers Wissenschaftsbegriff berufen. Auch nicht auf Husserls Phänomenologie (als Grundlage von Heidegger) usw. Auch nicht von den Prinzipien, wonach Thomas von Aquin seine Quaestiones disputatae de veritate verfasst hat. Eine Ausnahme bilden allenfalls Benedikt Kaisers Bemühungen, die Linken zu lesen. Sie wie sich Thomas von Aquin immer wieder bemüht hat, den Argumenten des Gegners, wenn diese stichhaltig waren, sogar zu Hilfe zu kommen, ihnen noch, falls sie schwach sind, wie ein wohlwollender Moderator zu Hilfe zu eilen.

Um Deutschland zu verstehen, bleibt Lesen wichtig. Deshalb würde ich Arnold Stadlers Romantrilogie "Einmal auf der Welt und dann so" empfehlen (bei Fischer in einem Band); generell seine Studien über den Hotzenwald und den Heuberg. Als Landschaftsroman eines über ein kaputtes Land zutiefst betroffenen Deutschen auch zu verstehen im Hinblick auf Stadlers meisterhafte Studie "Mein Stifter", auch noch eine Abrechnung mit Thomas Bernhards Kultur-Schlechtmacherei. Dass nun aber die von Stifter einst beschriebenen "sanften" Landschaften längst und zumal heute zerstört werden, sicher nicht nur durch die Masseneinwanderung, gehört zu den wesntlichen Aussagen des Autors. Ausserdem macht man sich nach der Lektüre dieses Hauptwerkes eines Theologen und Literaten auch zum Beispiel über die katholische Kirche kaum mehr Illusionen. Und jenseits von Weltuntergangswahn wird klar gemacht: "Heimat wird immer weniger." Dahinter stecken gesellschaftliches und politisches Versagen. Siehe noch Stadlers für unsere Zeit bedeutsamen und bewegenden Psalmenübersetzungen, die durchaus als Aufruf zum Widerstand gelesen werden können, wiewohl nie als plumpe Parteiparole.

Vom neuen Heft weniger befriedigt als auch schon, halte ich trotzdem fest: Jede Nummer enthält unbeschadet dieser Kritikastereien Trouvaillen, die man anderswo nicht findet.

Der_Juergen

14. Februar 2020 16:19

Zwei Punkte:

1) David Engels ist ein begabter und kenntnisreicher Autor. Davon konnte ich mich zuerst anlässlich seines bemerkenswerten Referats in Aarau im November letzten Jahres und bald darauf bei der Lektüre des von ihm herausgegebenen und auch mit eigenen Beiträgen versehenen Sammelbandes "Renovatio Europae" überzeugen. Wenn sich dieser Mann ausführlich zu Tolkien äussert, wird er also etwas zu sagen haben.

2) Jörg Friedrichs Dokumentation "Der Brand" ist sehr eindrücklich. Allerdings erliegt auch er der leidigen Tendenz, deutsche Opferzahlen herabzurechnen. Die von ihm aufgestellte Schätzung von einer halben Million Opfern des alliierten Luftterrors ist viel zu niedrig; die tatsächliche Ziffer dürfte mindestens das Doppelte betragen haben. Man siehe hierzu auch meine Wortmeldung im vorherigen Strang.

qvc1753

14. Februar 2020 18:08

Die Opferzahlen gerade für Bombenangriffe auf Städte sind mit erheblicher Vorsicht zu genießen.
Jede kriegsführende Partei hatte ein Interesse daran die Opferzahlen entweder besonders niedrig zu halten oder eben besonders hoch an zu setzen.
Die Opferzahlen steigen entland und mit der technischen Verfeinerung des Luftkrieges.

Zu Beginn des Krieges stand zunächst das Problem überhaupt den Zielort zu finden und dann auch noch aus 10000 m (oder mehr) ein eventuell ausgemachtes Ziel zu treffen.

Sehr schnell wurde daher klar, dass es fast illusorisch ist "Präzisionsbombardement" zu betreiben.
Ein Sturzkampfbomber mochte - ohne Gegenwehr - eine Brücke treffen.
Ein Bombergeschwader traf eine Fläche und letztendlich is es das, was beide Seiten (und dann später die Alliierten alleine) mit immer größerer Perfektion taten:
Einen großen Verband an einem Punkt versammeln, eine Fläche markieren in die dann Spreng - und Brandmittel hineingeworfen wurden.
Ausgehend von der deutschen Praxis der Vermischung von Brand- und Sprengbomben zu Beginn des Krieges hat britische Forschung eine immer weiter perfektionierte Methode entwickelt eine Stadt aus der Luft durch Brand zu zerstören.
Dies ist - wie in den meisten Fällen - kein zielgerichteter Prozess gewesen. Dies wurde schrittweise und durch praktisches Ausprobieren entwickelt.
Spätestens 1945 war man dann so weit, dass Bomber Command ein gut eingespieltes und vielfältig einsetzbares Werkzeug war. Und weil es da war, setzte man es ein.

Dies war innerhalb der britischen Öffentlichkeit übrigens nie unumstritten. Zum einen wegen der hohen Opferzahlen der britischen Luftwaffenangehörigen. Bei einer Verlustrate von im Schnitt 10 % und dreißig zu absolvierenden Einsätzen handelte es sich um eine der verlustreichsten Waffengattungen der Briten.

Ebenfalls war der unumschränkte Bombenkrieg nie so ganz vom Makel des Angriffes auf Zivilbevölkerung frei. Die britischen Kirchen waren durchaus kritisch und auch im Unterhaus gab es vereinzelte Stimmen der Kritik.

Aber das die Deutschen ernten was sie gesät hatten, das war für die meisten durchaus Legitimation genug.

Wer sich allerdings auf die Logik des unumschränkten Krieges eingelassen hatte, der konnte auch den Luftkrieg nicht auf Kombattanten beschränken. Die Zerstörung der feindlichen Produktionsstätten erforderte zwangsläufig, das entweder die daneben stehenden Arbeiterviertel getroffen wurden. Oder es wurden diese gezielt angegriffen, da die Fabriken verteidigt oder inmitten der Wohnviertel standen.
Schon die Luftkriegstheoretiker vor dem II Weltkrieg hatten dies als Ausweg aus der Falle des Stellungskrieges gesehen. Wenn die Heimat zerstört war, dann konnte die Front nicht mehr kämpfen. So die Idee.

Städte sind aber nicht zwangsläufig einfach zu zerstören - je moderner die Bebauung, desto besser der Brandschutz durch Brandschneisen, Bauart etc. Deswegen fackelten alte Städte mit vielen Holzbauten in kurzer Zeit ab, die neueren Industriestädte mit ihren neuen Quartieren waren wesentlich schwieriger zu verbrennen.

Das Ganze war also - mit den bekannten Ausnahmen - eher ein langwieriges und beidseitig verlustreiches "Abschleifen" von Menschen, Bauten und Maschinen.

Der Kulminationspunkt war dann - nachträglich betrachtet - Dresden. Hier kam alles zusammen:
eine barocke Perle, bewohnt von einer selbstbewussten Bürgerschaft, unverteidigt, mit barocker Bausubstanz, ein regionales Verwaltungszentrum, mit mehreren Kasernen, einem großen Bahnhof und alles an einem Februartag bei gutem Wetter und klarer Sicht gut zu finden und damit angreifbar.
Aus der Sicht von Bomber Command gab es keinen Grund eine Stadt wie Köln oder Hamburg an zu greifen, Dresden aber nicht.

Und so haben die allierten Verbände einen "Bilderabuchangriff" geflogen. In der Nacht kamen die Bomber der Royal Air Force und setzten das Stadtzentrum Dresdens in Brand.
In die Löscharbeiten am nächsten Tag flog die USAF ihre Tagesangriffe.
Dies war gängige Praxis, da so die Löscharbeiten unterbunden und die Brände ungelöscht blieben.

Was einen zu den Opferzahlen bringt.

Zur Abbildung des Leides des Individuums sind diese nicht geeignet. Ob 30.000 Tote anders gelitten haben als 50 ist nicht diskutabel.

Was und welche Propaganda mit welchen Zahlen vorgenommen wurde, das ist die andere Frage.

Zum einen scheint es entscheidend zu sein ob die Opferzahlen hoch - oder heruntergerechnet wurden.
Dabei betritt man in hohem Masse in jeglicher Beziehung vermintes Gebiet.

Wenn z.B. Rechtsextreme vom "Bombenholocaust" sprechen und Linksextreme "Bomber Harris - do it again" fordern, dann hat man eine kleine Idee von den Maßstäben der Diskussion und zwischen welchen Polen diese sich abspielen kann.

Als Historiker kann man sagen, dass die Opferzahl als gesichert gelten kann, die auf belegbaren Verlusten beruht. Belegbar ist das, was sich aus Quellen und Archiven belegen lässt.

Wenn keiner wissen kann wie viele von den Flüchtlingen (für die die Stadt eigentlich gesperrt war) tatsächlich vor Ort waren, wie viele Opfer Goebbelsche Propaganda angab und inwieweit eine Verwaltung in einer zerstörten Stadt in der Lage war 1945 Opferzahlen zu ermitteln, dann erahnt man die Schwierigkeiten für einen Historiker diese Opferzahlen zu ermitteln. Es wäre viel erreicht wenn man sagen könnte: ca. 25.000 sind gesichert, mehr wahrscheinlich, aber jenseits der Zahl X immer weniger wahrscheinlich.

Dazu ist der Umgang mit Opferzahlen vielfach politisch aufgeladen:
Wer heute Opferzahlen von hunderttausend als gesichert vorgibt, der hat oftmals eine andere politische Couleur als derjenige der eine weitaus niedrigere annimmt. Oder wird - je nachdem - der einen oder anderen Seite zugerechnet.

Das dies mehr etwas über die politische Situation als die Geschichte aussagt, das geht dabei unter.

Meine Meinung dazu ist:
Mit den Opfern Dresdens ist es letztlich wie mit den Opfern der Konzentrationslager. Man muss sich ihrer trauernd erinnern. Und keine Politik mit diesen Opfern machen.

Aber die Erinnerung an alle diesen Opfer verpflichten zu einer Politik die sich der Ursachen dieser Opfer erinnert und es sucht anders zu machen.

Ratwolf

14. Februar 2020 23:10

Dresden ist das Symbol für die Deutschen nach dem Krieg. Es ist ein Wort, welches für die vielen anderen sinnlos zerstörten Städte und für das unglaubliche Leid der Menschen in diesen Städten steht.

Spiegelverkehrt zu den Verbrechen der Nationalsozialisten (Nürnberger Prozesse) gab es nie einen Prozess gegen die Verantwortlichen auf Alliierter Seite für die Bombardierung Dresdens und der anderen Städte. Es gab und gibt auf Alliierter Seite allenfalls eine kaum wahrnehmbare "Kontroverse". Das ist ein erster auffälliger Stachel im Fleische der ach so tollen „transatlantischen Freundschaft“.

In der nachträglichen Überschau zeigen solche Asymmetrien den letzten Unbedarften des besiegten Landes, dass Geschichte und die Sichtweise auf die Dinge von den Siegern diktiert werden, welche das besiegte Land dann für ihre Zwecke gebrauchen wollen.

Ansonsten sind fremde Stützpunkte in Deutschland und Italien nach Bombardierungen wie in Dresden oder Monte Cassino nicht vermittelbar.

Unter diesen Gesichtspunkt muss man die Geschichtsverdrehungen, die kleinen Verschiebungen und die Schuldzuweisungen einordnen.

So, wie man dann auch die dann darauf folgende deutsche (oben aufgelistete) Literatur als logische Reaktion sehen kann.

Der Besiegte muss als der Böse für alle Zeiten geschwächt werden, damit der Sieger den Nutzen hat. Wenn es knirscht, werden die einseitigen Fakten hervorgeholt. Sonst könnte niemals "Freundschaft" zu den zukünftigen Besatzern entstehen.

Bleibt zu fragen, welchen Sinn solche Zerstörungen ergeben sollen...

Im Anschluss der Zerstörung kriechen die Überlebenden wieder aus den Trümmern und machen einfach weiter. Was sollen sie auch sonst machen? Solche Zerstörungen erzeugen also nur möglichen Widerwillen im Nachhinein des Krieges. Und das die USA und die anderen kleineren Länder den Krieg gewinnen würden, war damals schon jeden klar.

Also was ist es?

Da es nicht rational begründbar ist, muss man die ursächlichen Mechaniken dafür in einem unterbewussten "kollektiven" oder "kulturspezifischen" Ur-Grund suchen.

Viele sagen dann, es ist das Barbarische oder das Archaische im Menschen, also das "Böse" an sich.

Das ist eine hilflose Ausrede, welche für alles und jedes Malheur herhalten könnte. Eine Bankrotterklärung des suchenden Geistes.

Das wirkmächtige Prinzip war „Erneuerung durch Zerstörung“. Es ging also nicht nur um „Den Sieg“, welcher zeigen sollte, wer von beiden der Stärkere ist. Das wäre eine alte Germanische oder früh-europäische Sichtweise gewesen, bei der gleiche oder ähnliche Kulturen gegeneinander gekämpft haben.

Bei diesem Krieg ging es um die Verbreitung einer Idee, einer Kultur und einer völlig neuen Sichtweise der Dinge, wie es sie in Europa so bisher nicht gegeben hat.

Der Folgestaat der französischen Aufklärung und der französischen Revolution wollte und will seine Vorstellungen in Europa umgesetzten, bis alles so aussieht, wie im Ausgangsland. Dazu muss das "Alte" zerstört werden, um den "Neuen" Platz zu machen.

Die kleineren Alliierten sind dabei nur Handlanger, welche selber auch eingeordnet werden.

Einen bemerkenswerten Unterschied gibt es dabei dennoch:

Die für sich selber so hoch erachtete Freiheit, gilt für die Eroberten nur soweit, wie sie bereit sind, den ihnen aufgezwungenen Weg scheinbar selber weiter zu gehen.

zeitschnur

14. Februar 2020 23:49

Das Opferzahlenthema scheint nicht zur Ruhe zu kommen. Es sind hier zwei Ebenen solcher Flächenbombardements und Feuerstürme zu trennen:

a. die menschliche und persönliche, mitfühlende Ebene: Man erlebt das unermessliche Leid solch infernalischer Nächte mitfühlend noch einmal mit. Meine Kindheit ist wesentlich davon geprägt, dass sowohl mein Vater als auch andere mir nahe stehende Menschen mir, selbst noch klein, in allen Details diese Bombennächte beschrieben, mein Vater, der mit dem Kriegsende erst ins Schulalter kam, also ein ganz kleiner Junge war, und mir alles aus seiner damaligen Kinderperspektive in meine nachkriegliche trug, ungefiltert gewissermaßen, getragen auch durch die genetische Nähe. Auf dieser Ebene potenziert jedes individuell erlebte Leid das gesamte Leid um ein Mehrfaches und addiert sich nicht einfach nur dazu, geschweige denn dass es im allgemeinen Leid aufgehen könnte. Ich kannte Menschen, die bestimmte Geräusche nicht verkrafteten und traumatisch reagierten, man musste wissen, dass dahinter diese Kriegserfahrungen standen, um sie zu verstehen und mitzutragen. Später begegneten mir solche Traumamuster nach dem Jugoslawienkrieg wieder, als ganz junge Leute zB das Schreien der Kinder im Schwimmbad hier in Deutschland, im Frieden, nicht durchstanden, weil es sie an das Schreien der Kinder in einem brennenden Haus in Sarajewo erinnerte. Die Szenen sind zu "groß", um verkraftet werden zu können und evozieren daher auch große Zahlen.

b. Auf dieser Ebene a. bleiben einfach nur - sehr sakral gesprochen - "die vielen" stehen, denn, und damit kommen wir zur nächsten Ebene, denn die, die das den Menschen antaten, meinten die vielen ganz bewusst und wollten auch die vielen treffen.
Solche Bombardements WOLLEN möglichst viele treffen. Gleich, was propagandistisch dazu vermeldet wird oder einfach nur im Schauder geschätzt wird: Es sollten die vielen sein, und es waren die vielen! Der Lebensraum der vielen wurde sorgfältig erst in Schneisen gebombt, um sie danach gezielt und leicht abzufackeln.
Diese Absicht müsste jenseits der subjektiven Betroffenheit (die ernstzunehmen ist und keinesfalls verhöhnt werden darf!) in aller Schärfe benannt werden und nicht mit "kleinen Opferzahlen" verharmlost werden.
Natürlich hat die defensive (!) Propaganda die Möglichkeit, diese Absicht in einer hohen Zahl in die Welt zu schreien - oder eben auch, wie @ Maiordomus zeigte, als misslungen zu beschämen, indem man eine Zahl, die unter der der vielen (und damit beabsichtigten) liegt, bekanntgibt.
Das ändert aber nichts an der Absicht, die niemals Sachgüter und nur wenige Personen meinte, sondern Menschenleben und möglichst viele davon zu opfern gedachte.

AndreasausE

15. Februar 2020 00:15

Moin,

bin neu hier, guten Abend, habe mich eben wegen Tolkien angemeldet, weil ich auch noch die grünen Taschenbuchausgaben besitze, Übersetzung ins Deutsche.

Ich mochte die nie.

Mir ist gänzlich unbegreiflich, was man daran gut findet.

Sicher, Phantasie hat der Autor gehabt, Anklänge an Mythologie mögen Appetit auf nähere Beschäftigung machen, aber literarisch ist "Herr der Ringe" doch Schrott.
Mich widerte die Schwarzweißmalerei an, völlig uninteressante Charaktere (geändert hat sich nur Gollum, alle andere gleichgeschaltet wie ideale Sowjetmenschen), primitivste Mordlust ("Orkschädelspalter", "Berge von Ork-Aas" - halleluja!), schlichtweg öde Langeweile über hunderte von Seiten, abstoßend.

Mich ekelte das Machwerk derart an, daß ich auf den letzten Seiten hoffte, Mordor möge doch noch gewinnen.

Maiordomus

15. Februar 2020 07:49

Warum Johann Peter Hebel erkenntnistheoretisch grundlegender ist als Autoren v. rechtem u. linkem Kanon

@An die Redaktion und ausserdem an @Franz Josef. Ich danke für die geistige Grösse, ernsthafte Kritik an Ihrem Heft anbringen zu dürfen bis hin zur Relativierung von "Hausheiligen". Dabei dürfen Sie sich jedoch vor mangelndem Respekt gegenüber Ihrer Arbeit nicht beklagen. Und @Franz Josef empfinde ich als einen ernst zu nehmenden, womöglich noch jüngeren "neu Hinzugekommenen", der, wie schon andere, die Frage nach dem Sinn der Lektüre rechter Klassiker gestellt hat.

Deswegen scheint es mir notwendig, auf "das Einfache, das Bleibende und das Grosse" verweisen, um die drei Grundbegriffe aus Heideggers fast einzig allgemeinverständlichem Text "Der Feldweg" zu bemühen. Wobei "das Einfache" wohl das Wichtigste ist. Beim "Bleibenden" und "Grossen" kann sich schon Verwirrung einstellen. Im Vergleich zu Johann Peter Hebel (dem Klassiker des Einfachen), dem Menschheitsskeptiker Heinrich von Kleist und dem ostfriesischen Lokalhistoriker (zugleich Philosoph) Wilhelm Schapp besteht bei Hegel, Marx, Engels, Oswald Spengler und Francis Fukuyama das Problem, dass sie von der Analytik des Geschichtenerzählens etwa so viel Ahnung haben wie mittelalterliche (zwar gescheite) Naturwissenschaftler von den Keplerschen Gesetzen der Planetenbahnen oder den Mendelschen usw. von der Vererbung. Ohne die entsprechende Analytik(Lübbe), wenn man vom Geschichtenerzählen weniger versteht als Hebel und Kleist, weiss man nicht ausreichend, was eine Geschichte ist. Weiss man dieses nicht, bleibt die Geschichtstheorie wegen inneren Widersprüchen auf der Strecke.

Es sollte nicht als nur polemisch gelten, wenn Werke der Geschichtsphilosophen - etwa bei Popper - mit Grimms Märchen verglichen werden. Letztere finde ich ähnlich wie die Bibel lehrreich und tiefsinnig. Bloss als Lehrbücher der Wissenschaft sollte man sie, über die Poetik hinaus, nicht verwenden. Über den Menschen erfährt man bei den Brüdern Grimm möglicherweise mehr Handfestes und wirklich Wahres als im Gesamtwerk von Marx/Engels sowie auch aus leider nicht wenigen Werken des "rechten Kanons". Denselben also, Nietzsche inbegriffen, eher etwas tiefer hängen, wenn man sich schon auf Max Weber und Odo Marquard berufen möchte. Weber und Marquard, im neuesten Heft von Erik Lehnert gelobt, bleiben eine Herausforderung, aus der man die notwendigen Konsequenzen ziehen müsste. Und Ihnen, @Franz Josef, glaube ich nach 65 Jahren täglicher Lektüre (auch derjenigen Bücher, die Reich-Ranicki nicht gelesen hat) einen hoffentlich tröstlichen Rat geben zu dürfen: Johann Peter Hebel und Heinrich von Kleist haben a) über den Menschen b) über die Geschichte c) über die Gewissheit und Ungewissheit des Handelns sogar mehr und Genaueres gewusst und sich mit weniger Irrtümern darüber geäussert als möglicherweise selbst Immanuel Kant, der zeitweilig noch im Ernst an einen sittlichen Fortschritt der Menschheit glaubte. Zu schweigen von Fichte und Hegel. Hebel erweist sich, als Kenner der Menschen und des Menschen meines Erachtens sämtlichen deutschen Philosophen des rechten und linken Kanons überlegen. Dies ist nicht nur meine geschmäcklerische Meinung, sondern die am ehesten wissenschaftliche Überzeugung nach 60 Jahren fast täglicher Lektüre wissenschaftlicher, philosophischer und belletristischer Werke wenn möglich von Weltrang.

Es folgen leider noch notwendige Korrekturen für meinen obigen Essay:

Zu Ernst Jünger: Die "Eberjagd", aus streng wissenschaftlicher Sicht nachhaltiger a l s Hegel, Marx, Oswald Spengler, Francis Fukuyama, weil die epochale Rolle des Zufalls in der Geschichte evident gemacht wird. (Und noch was anderes: Einschätzungen über Erfolg und Misserfolg erfolgen erst hinterher, im Augenblick gilt: "Kannitverstan". )
H e b e l (nicht Hegel) gegenüber bleiben Marx, Spengler, Fukuyama usw. (relativer) Unsinn und ganz sicher nicht wissenschaftlicher als die biblische Apokalypse, ein Text übrigens, Grüsse an die "Antichristen" im Forum, den man mit guten Gründen gleichzeitig als genial visionär und paranoid einschätzen kann. Aber selbstverständlich ist es kein wissenschaftlicher Text.

Bei Hebel (besonders) e r g i e b i g sind die philosophischen Meistererzählungen "Kannitverstan" und "Unverhofftes Wiedersehen". Es handelt sich um erkenntnistheoretisch geniale Grundmodelle für Verständnis und Selbstverständnis von Geschichten. Kannitverstan ist auch die bis heute bedeutendste Anleitung zum Verständnis dessen, was zum Beispiel im Fernsehen, und zwar nicht bloss in den öffentlich-rechtlichen Zwangsgebührensendern, als "Wirklichkeit" vermittelt wird. Es handelt sich um das Orientierungsproblem des Erzählers aus Tuttlingen, der nicht Holländisch kann ("Kannitverstan"), sich über Beobachtungen in einer niederländischen Hafenstadt aber trotzdem einen Reim machen will, und zwar so, dass für ihn alles klar und verständlich wird und auf diese Weise die Welt und sein Weltbild in eine angemessene Ordnung gelangt. Mit objektiver Erkenntnis hat dies etwa so viel zu tun wie die von Kant kritisierte Erkenntnis "des Dings an sich", der objektiven Erkenntnis dieser Welt, ein Problem, mit dem sich Kleist in seinem berühmten "Kant"-Brief an seine Schwester ausgelassen hat, bis heute die beste vereinfachende Kurz-Zusammenfassung der Lehre von Kant. Schopenhauer deutete das Problem so: "Die Welt ist meine Vorstellung."

Zurück zu Hebel:Damit ich mich in dieser Welt aber nicht verirre, muss ich mir eine Geschichte erzählen, die mich einigermassen beruhigt, zumindest glaube ich nun, "drauszukommen". Was wirklich und "an sich" vorgefallen ist, hat mit dieser Geschichte nichts zu tun. Dem Erzähler dient sie zur Selbstorientierung, dem Zuhörer zur Unterhaltung. Der intelligente "geneigte" Leser nach Hebel lernt zusätzlich noch was hinzu, nämlich wie es in der Welt zugeht und wie zum Beispiel Medienberichte von intelligenten Medienkonsumenten in der Relativität ihres Wahrheitsbezuges einzuschätzen sind. Dazu mahnt Hebel dann eben sein "Merke" an. In diesem schlichten, aber doch vielschichtigen hochdifferenzierten Erzählen erweist sich Johann Peter Hebel als ein Denker, der uns mit die Voraussetzungen liefert, wahnhafte Weltorientierungen von der Apokalypse über Karl Marx über den "Mythos des 20. Jahrhunderts" (Rosenberg) bis Greta Thunberg und zum Beispiel Politologen des Deutschen Fernsehens ("Angela Merkel ist liberal") geschichtsphilosophisch oder auch nur schlicht mit dem gesunden Menschenverstand einzuordnen. Was Johann Peter Hebel indes zu Auschwitz oder zu Dresden zu erzählen gehabt hätte, wissen wir nicht. Doch ist ganz oben im untersten Abschnitt meiner ersten Wortmeldung die Geschichte der Schlacht bei Ragaz einschliesslich von deren Opferzahlen dargetan. Die wahren Opferzahlen von 1446 können definitiv nicht mehr ermittelt werden. Wir sehen aber, was für eine erzähltechnische Bedeutung Opferzahlen haben. Dies müsste auch im Geschichtsunterricht erklärt werden. Andernfalls kann man ja den Streit um die Opferzahlen nicht verstehen und denselben also auch nicht angemessen einordnen. Nietzsche würde dies "kritische Historie" nennen. Der Pfarrerssohn aus Röcken bei Lützen verrannte sich aber dann leider selber in eine Geschichtsideologie, weil er forderte, dass Geschichte "dem Leben" dienen müsse. Dass Johann Peter Hebel und Wilhelm Schapp diesbezüglich auf klügerem Niveau sind als Nietzsche, müsste jeder intelligente Mensch einsehen. Hebel bleibt der wohl der methodisch bestreflektierte geniale Erzähler in der deutschen Literatur, was auch Kafka und Canetti realisierten. Die "Weiterentwicklung" in Richtung Zaimoglu und Sibylle Berg deutet eine Falsifikation von Theorien an, den kulturellen Fortschritt betreffend.

Bedauerlicherweise gilt Hebel heute, obwohl seine Judengeschichten die fast besten Darstellungen des Antisemitismus in der Weltliteratur sind, wegen der rücksichtslos wahrhaftigen Unbefangenheit seines Erzählstils als Antisemit. Desgleichen gilt "Die Verlobung von Santo Domingo", eine Meistererzählung Kleists, beim derzeitigen Stand der Idiotie geradezu als Prototyp einer "rassistischen" Erzählung. In didaktischen Hinweisen wird die "Lehrkraft" gewarnt und entsprechend angehalten, dies zur Vermeidung von pädagogischem Schaden unbedingt zu thematisieren.

links ist wo der daumen rechts ist

15. Februar 2020 08:08

Lektüren 1 - Dresden

Zitate.

Eins:

"Das Gespenstische an der Potsdamer Konferenz lag darin, daß hier ein Kriegsverbrechergericht von Siegern beschlossen wurde, die nach den Maßstäben des späteren Nürnberger Prozesses allesamt hätten hängen müssen. Stalin zumindest für Katyn, wenn nicht überhaupt, Truman für die überflüssige Bombardierung von Nagasaki, wenn nicht schon von Hiroschima, und Churchill zumindest als Ober-Bomber von Dresden, zu einem Zeitpunkt, als Deutschland schon erledigt war.
Alle drei hatten 'Bevölkerungsumsiedlungen' verrückten Ausmaßes beschlossen, alle drei wußten, wie verbrecherisch diese vor sich gingen. Gemessen am Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz Sauckel, der Hitler die Arbeitskräfte zutreiben mußte, hätten sie alle drei hängen müssen. Denn sie haben sowohl angeordnet wie gewußt, was man von dem Tölpel Sauckel nicht unbedingt sagen kann. Auch gemessen an Generaloberst Jodl wäre ihr Schicksal der Strick gewesen."

Richtig, es handelt sich um das berühmte Zitat von Rudolf Augstein in der Spiegel-Ausgabe 2/1985
https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13510734.html
später leicht abgewandelt und gekürzt im Editorial einer Februar-Ausgabe (ad Dresden) wiederholt – sehr beliebt seitdem bei der „revisionistischen“ Rechten, vgl. etwa Reinhard Spitzy, „So haben wir das Reich verspielt. Bekenntnisse eines Illegalen“ (Langen Müller 1986).

Zwei:

"Als die deutsche Bevölkerung die Wahrheit über Auschwitz erfuhr, erfuhr die englische Öffentlichkeit die Wahrheit über Dresden. (...) In Dresden ist der Anti-Hitler-Krieg zu dem entartet, was man zu bekämpfen vorgab und wohl auch bekämpft hatte: Zu Barbarei und Unmenschlichkeit, für die es keine Rechtfertigung gibt. Wenn es eines Beweises bedürfte, daß es den gerechten Krieg nicht gibt Dresden wäre der Beweis."

Dieses Zitat stammt aus dem berühmt-berüchtigten „Konkret“-Aufsatz von Ulrike Meinhof.
Ein gewisser Jürgen Elsässer hat sie dafür getadelt – hier:
http://www.trend.infopartisan.net/trd0603/t100603.html
Einige Jahre später hieß es wieder anders:
https://www.compact-online.de/als-linke-noch-um-deutsche-trauerten-ulrike-meinhof-ueber-dresden/
Tja, diese Kapriolen.

Drei:

"Es bleibt also bei dem Befund oder der Vermutung, die Sebald früh formuliert: daß ein 'Strom psychischer Energie, dessen Quelle das von uns allen gehütete Geheimnis der in den Grundfesten unseres Staatswesens eingemauerten Leichen ist', uns alle bis heute fester aneinander bindet als 'jede positive Zielsetzung'. (…)
Denn ein Volk, das mindestens in seinen Eliten - die so bitte nicht genannt und als solche erkannt sein möchten - zwar unermüdlich seine gewaltige Schuld debattiert, doch an sich selbst als Opfer von Vernichtung oder auch Vertreibung nicht zu denken wagt, das muß sich und anderen unheimlich bleiben."

Die Zitate finden sich in einer Rezension von Reinhard Baumgart zu Sebalds Luftkriegs-Buch.
https://www.zeit.de/1999/18/Das_Luftkriegstrauma_der_Literatur

Man mag Sebald ja vieles vorwerfen, auch und v.a., daß er vieles übersehen hat, aber sein Verdienst bleibt, daß er den Finger in die Wunde gelegt hat.

Vgl. auch
https://www.deutschlandfunk.de/literatur-und-luftkrieg.700.de.html?dram:article_id=79521
https://www.zeitschrift-osteuropa.de/site/assets/files/2089/oe050421.pdf
https://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article137154720/Dresden-war-wie-der-Mond-nichts-als-Mineralien.html

Maiordomus

15. Februar 2020 08:11

@Sigrid Wirzinger. Vom Mitarbeiterstab Ihres Verlages werden Sie möglicherweise auf dieser Seite seltener gelobt andere. Darum möchte ich Ihnen für Ihre Arbeit an dieser Stelle danken. Verweisen möchte ich auf Ihre Buchempfehlung zu Weihnachten 2019, "Reclams Märchenschatz" von etwa 1696 Seiten. Fürwahr ein Standardwerk nicht nur für den "rechten Kanon"! Dass Sie jenes Buch empfohlen haben, und nicht gerade eine Spezialausgabe von Jüngers "Arbeiter", deutet darauf hin, dass meine Grundlagenkritik an Theorie-Literatur auf der Basis von Johann Peter Hebel am wenigsten mit einer Kritik an Ihnen zu verwechseln wäre.

Ich bin aber natürlich nicht gegen Theorie-Literatur. Aber diese muss in der Tat auf das "Einfache", und wenn es dann und wann erlaubt ist, auf "das Bleibende" und "das Grosse" zurückgeführt werden. Womit wir wieder bei Heideggers "Feldweg" angelangt sind, einem Text von fast Hebelscher Anschaulichkeit und Transparenz. Eine kluge Buchhändlerin aus dem Konstanzer "Bücherschiff" sagte zu mir: "Das Einzige vom Heidegger, was ein normaler Mensch lesen kann!"

RMH

15. Februar 2020 10:11

@AndreasausE

Sie wären, vermutlich, mit dem neueren "Lied von Eis und Feuer" von George R.R. Martin besser bedient, da haben die Charaktere Brüche und das Gut und Böse sind, obwohl dennoch als Motive klar erkennbar, nicht so eindeutig. Leider schafft es der Autor nicht, das Werk zu beenden (das wiederum spricht klar für das Können von Tolkien).

Während man noch zu Beginn bzw. in der ersten Hälfte bis Mitte des 20. Jhdts (Tolkien) mit bereits damals fast schon "antiquierten" Kategorien von Gut und Böse arbeitete, deren Wirkmacht als gestaltende Mythen für die Menschen zu ihrem letztlich Gutem dienen sollte, ist man Ende des 20. Jhdts und zu Beginn des 21. Jhdts dann (endlich?) ganz postmodern, relativ und wechselhaft und "entwickelnd" (G.R.R. Martin). Diese Feststellung sagt nichts über literarische Qualitäten aus - denn die ist bei beiden Werken meiner Meinung nach sehr hoch - sondern über die jeweiligen Zeiten.

Insofern: Herr der Ringe ist literarisch kein Schrott. Mit so einer pauschalen Aussage disqualifizieren Sie, werter @AndreasausE, sich selber.

links ist wo der daumen rechts ist

15. Februar 2020 10:31

Lektüre 2 – Tolkien / Cook

Interessant diese Verknüpfung „Dresden“ und „Herr der Ringe“.
Als ob es unterirdische Verbindungen gäbe. Man stelle sich ein Gespräch zwischen Alexander Kluge und Heiner Müller darüber vor…

Ich bin kein Fan von Tolkien und halte im Übrigen die ganze Fantasy-Abteilung für mehr als entbehrlich. Man müßte einmal den übertriebenen angelsächsischen und französischen Hang zu SF und Fantasy untersuchen, also von Jules Verne und Villiers de l'Isle-Adam über H.G. Wells bis zu Tolkien – als Gegengewicht zur deutschen Mythen-, Sagen- und Märchenwelt.
Und klingt das ganze Tolkien-Zeug nicht wie eine purifizierte Form des ariosophischen „Wurzelrassen“-Brimboriums – nur halt aus der Veranda-Sicht eines teeschlürfenden englischen Kolonialoffiziers.

Wenn ich in einem früheren Kommentarstrang geschrieben habe, daß Harry-Potter-Leser als Erwachsene sehr leicht in einer „Trainspotting“-Welt enden können, wirken Tolkien-Fans auf mich immer wie lebenslänglich in ihrer Fantasy-Welt Verdammte, unfähig, andere Lebens- und Lesewelten wahrzunehmen. Oder wie mein Großvater zu sagen pflegte: Es ist unsinnig, mit Jesuiten zu diskutieren.
Schrecklich, wenn einem dann diese Sektenmitglieder bei jeder Gelegenheit ihre „Mordor“-Sicht drüberstülpen.
Meine These: wer Tolkien liest, liest sonst fast nichts (abgesehen von Wikipedia-Artikeln).

Und als notwendiges Gegengift zu dieser angelsächsischen Zeitvergeudung:

Heinrich Zimmermann, Reise um die Welt mit Capitain Cook (Erdmann 1978).

In dieser verdienstvollen Reihe erschienen ja unzählige historische Reiseberichte in Neuausgaben. Vieles davon scheint mir auch – trotz oder wegen der Drastik - für das Vorlesealter geeignet.

Nachdem der etwas bekanntere Georg Forster Cook schon auf einer Weltreise begleitet hatte, nahm Zimmermann als „einfacher Matros“ an Cooks letzter Reise teil und wurde mithin Zeuge seines unrühmlichen (?) Todes.
Immer wieder erstaunlich und berührend, wie hier ein einfacher Mann, loyal und doch irgendwie zwischen den Fronten (während der Reise treten die Franzosen in den Krieg gegen die Engländer ein, die Holländer sind neutral), seine Eindrücke schildert.
Brennpunkt dabei ist immer das Einschätzen des Verhaltens der Eingeborenen, sobald man eine Insel anläuft.
Und selbst freundliches Gebaren kann umschlagen, wenn z.B. eine Ziege der Besatzung gestohlen wird.

„Herr Cook wurde nach seinem bekannten Charakter hierüber sehr aufgebracht, ließ zwei Tage lang durch die Soldaten auf dem Lande alle erreichbaren Hütten verbrennen und durch die Matrosen an der Küste die nämliche Verwüstung ausüben, dabei auch noch alle greifbaren Kähne der Einwohner gänzlich zerhauen und zerstreuen. Der Schaden, der den Einwohnern dadurch verursacht worden, können sie in einem Jahrhundert schwerlich mehr ersetzen. (…) Ich muß daher das Verfahren des Herrn Cook selbst einigermaßen mißbilligen. Als etwas Besonderes sahen wir es an, daß Omai [ein Eingeborener, der eine Zeitlang in England verbracht hatte] selbst und drei von seinen Ruderknechten, die er mitgenommen hatte, an dieser Verwüstung das meiste getan und sich weit ärger dabei als wir Europäer betragen haben.
Wie wir am zweiten Tag von dieser Verwüstung wieder zu den Schiffen gekommen, wurde die Ziege bald danach von den Einwohnern zu dem andern noch auf der Weide gewesenen Vieh wieder zurückgebracht.“

Honi soi qui…
Die Lage spitzt sich zu, als auf einer anderen Insel ein Beiboot entwendet wird und deswegen der „König“ der Inselbewohner als Geisel aufs Schiff gebracht werden soll.

„Das Volk, das sich bei unserer Ankunft gleich in einer unzählbaren Menge versammelte, und das sich schuldig wußte, riet dem König ab, mitzugehen, und dieser weigerte sich hierauf. Ein altes Weib breitete zwischen dem Könige und Herrn Cook ein Tuch aus und deutete damit an, daß ihn der Kapitän nicht über dasselbe bringen dürfe. Herr Cook wollte den König gewaltsam mit sich fortreißen, das Volk aber warf ihn mit kleinen Steinen. Er, der zuvor von diesen Leuten als ein Abgott verehrt wurde, ergrimmte darüber, schoß aus einer mitgeführten doppelten Flinte den mit Schrot geladenen Lauf auf sie ab, ergriff den König nochmals bei der Hand und riß ihn über das ausgebreitet Tuch mit sich fort.
Einer, der gleich hinter Herrn Cook stand, stieß ihm einen eisernen Dolch, von denen er dem Volk in der Art ihrer oben beschriebene hölzernen Dolche einige hatte verfertigen lassen und zum Geschenk gegeben, zur rechten Schulter hinein und vorne auf der linken Seite zum Herzen hinaus.
Herr Cook fiel tot zur Erde, und unsere Mannschaft auf dem Lande gab auf das Volk Feuer. Dieses stürmte gleich auf sie los, erschlug noch drei von ihnen und drei wurden verwundet.“

Die verbliebene Mannschaft rettet sich auf die beiden Schiffe, es werden noch ein alter Mann und ein altes Weib, „die uns wegen des Alters und vor Schrecken nicht entrinnen konnten“ als Geiseln genommen und wieder freigelassen. Der bitte nach Überlassung der sterblichen Überreste Cooks wird nur zum Teil entsprochen.

„Herr King nahm sie [drei „Ehris“ – Eingeborene] mit an das Schiff, und Herr Clerk versprach ihnen, daß die Feindseligkeiten aufhören, sie aber den Körper des Kommodore herbeischaffen sollten. Sie versprachen dieses, und am nächsten Tag brachten die nämlichen drei ein Stück vom Kopf, etliche abgenagte Beine und die rechte Hand von Herrn Cook. Diese erkannten wir an einer bekannten Verwundung am Daumen, die er ehemals auf einer Jagd bei der Aufnahme der Küsten von Neufundland erlitten hatte. Sie gaben uns zu verstehen, daß diese Stücke ihr Anteil wären, den sie von dem Körper bekommen hätten. Herr Kapitän Clerk gab ihnen Geschenke und versprach ihnen noch größere, wenn sie noch mehr Stücke brächten. Tags darauf brachten sie auch noch einige verstümmelte Gliedmaßen, und gaben uns zu verstehen, daß sie diese von den Verwandten gesammelt.
Wir sahen nun wohl ein, daß es unmöglich war, den Körper ganz oder noch andere Teile zu bekommen, und daß die übrigen schon aufgezehrt seien; daher begruben wir am 21. Februar diese Stücke mit den gewöhnlichen Zeremonien in der See.“

Die Reise wird indes unverdrossen fortgesetzt, schließlich hat man einen königlichen Auftrag zu erfüllen.

Und nun folgt für mich der Höhepunkt des Reiseberichts.
Man erreicht Kamtschatka, legt im Hafen St. Peter und Paul an und verständigt den zuständigen Gouverneur Böhm.

„Dieser würdige Mann schickte allsogleich zwei seiner Bedienten, wovon einer ein geborener Preuße und der andere ein Russe, aber von deutschen Eltern war, nebst einem russischen Kaufmann zu unseren Schiffen ab. Diese brachten einen deutschen Brief mit, worin sich der Gouverneur über unsere Ankunft freute und uns mit dem, was in seiner Macht stände, zur Hand zu gehen versprach.
Ich kann nicht ausdrücken, welche Empfindungen es bei uns und bei den anderen Bedienten hervorrief, daß wir Landsleute sahen. Den einen hatte ich schon nach dem Gesicht als Deutschen erkannt, und das Vergnügen seinerseits, der seit siebzehn Jahren keinen Landsmann gesehen hatte, und das meinige, sind nicht zu beschreiben.
Herr Kapitän Gore und der Maler Wepper, den wir auf unserem Schiff hatten und der die deutsche Sprache sehr gut verstand, begaben sich sogleich auf Schlitten zu dem Gouverneur, der in Baljaga-Recka wohnte. Nach neun Tagen kündigten sie dem Kapitän Clerk an, daß der Gouverneur ihn auf seinem Schiffe besuchen werde. Er kam auch wirklich, wurde bei seiner Ankunft mit einundzwanzig Kanonenschüssen begrüßt, speiste am ersten Tag auf der Resolution, am zweiten auf der Discovery, und wurde bei seiner Abreise abermals mit einundzwanzig Kanonenschüssen und dreimaligem Hurrarufen begleitet.
Der Gouverneur, Herr Böhm, leistete uns in allem Hilfe, unter anderem verehrte er uns zweiundzwanzig Mastochsen von seiner eigenen Viehzucht, die uns überaus willkommen waren. Wir sind überhaupt diesem Manne, der uns besonders freundschaftlich behandelt hat und uns bei unsern damaligen betrüblichen Umständen mit allem Möglichen zur Hand gegangen ist, ganz vorzüglich Dank schuldig.“

Tja, es gab damals nicht nur die tumben Deutschen, wie uns @zeitschnur vor kurzem via Hölderlin-Zitat wissen ließ, nein, es gab diese Helden wie Heinrich Zimmermann oder Gouverneur Böhm in ihrer „edlen Einfalt und stillen Größe“…

Und was ist dagegen die „Herrenmenschen“-Sicht eines Tolkien, pardon me, eines Herrn Cook oder Wells oder Kipling...

Franz Bettinger

15. Februar 2020 10:40

@Andreas-aus-E: Ich komme aus dem Lachen kaum raus. Chapeau vorneweg! Da kommt so ein Neuling nach SiN-City, wo grade alle von Rechts bis Links um den Herrn der Ringe tanzen und Lobeshymnen singen, und sagt: Ist alles Schrott. Und dann begründet er das auch noch genial gut! Lieber @Andreas, ich empfinde genau wie Sie! (Auch wenn @Laurenz mich jetzt zerreißt.)

zeitschnur

15. Februar 2020 11:47

Vielleicht führt uns die Frage nach dem Umgang der Deutschen mit den an ihnen begangenen Verbrechen im WK II die heutige Problematik noch deutlicher vor Augen:
Es ist meinetwegen eine traumatische Reaktion, die eigene Opferrolle zu verleugnen. Aber hier fällt schon auf, dass es wohl kein Volk gibt, das sich so pathologisch mit seiner Regierung identifizieren lässt. Offenbar scheint es "normal" zu sein, dass sich jeder Deutsche verantwortlich fühlt für die (Un-)Taten seiner Regierenden, sie jeweils verteidigt bis sie zusammenbrechen und anschließend die Schuld dieser Leute auf sich nimmt, weil ja niemand gut christlich den ersten Stein erheben darf. Das deutsche Gemüt verlegt die Obrigkeitsidentifikation dann ohne weiteren Bruch auf die Sieger: jetzt sind sie die, aus deren Sud wir leben, ja, wir sind sie, sie sind wir. Und wir sind zugleich nie Opfer, sondern empfangen immer den gerechten Lohn für unsere Taten, auch wenn der „Lohn“ objektiv in keiner nachvollziehbaren Relation zur Untat des regierenden steht.

Nun geht dieses schwer pathologische Volk heute hausieren mit einem "offenen Herzen" für "Flüchtlinge", ein Volk, das mit seiner eigenen Flucht und Vertreibung bis heute nicht gesund fertig wurde, sondern immer krankhafter darauf reagiert hat. Niemand ist weniger geeignet für den Umgang mit echten Flüchtlingen als Deutschland. Man glaubt hier, weil man mit Euros herumprotzen kann, hätte man die Qualifikation, Opfer zu verstehen und aufzufangen. Innerlich kann man diesen Menschen, sofern sie echte Flüchtlinge sind, nichts geben, als sie zu lehren, mit Geld und Veräußerlichung zu ignorieren, dass man Opfer ist.
Man kann schon den Eindruck gewinnen, dass dieses absurde Flüchtlingsgetue eine Art Stellvertreterkrieg ist, den die Deutschen - natürlich wieder autoaggressiv und aggressiv zugleich - mit einer geradezu jenseitsmäßigen Zeitverzögerung führen.

Ich denke immer weiter darüber nach, was das "Eigene" dieses kranken Volkes da sein soll? In diesem veräußerlichten Volk ist das "Eigene" nicht erst seit 1945 die Sache, die am meisten vernachlässigt wurde. Wahrscheinlich lässt Hölderlin Hyperion genau das auch aussprechen, damals schon: Deutschsein ist in jedem Stand, in jeder historischen Rolle etwas Äußeres und Ver-äußertes, niemals etwas Eigenes. Und mit „Eigenes“ meint er ein individualisiertes Menschsein als Deutscher.
Natürlich gab es dem zum Trotz immer genug Menschen, die dieser zerrissenen und leider auch oft so hohlen Nation dann doch ein großes Interieur geben konnten, so groß, dass es buchstäblich für alle reichte.
Ich gebe daher @ Maiordomus aus diesen Gründen auch meinerseits recht damit, dass Deutschland nur der versteht, der deutsche Literatur liest. An den realen, oberflächlich orientierten Menschen kann man wirklich irre werden. Und das gilt, wohlgemerkt für alle, die diesen alten Hang zur barbarischen Ver-äußerung überwinden wollen, weil die Zeit wirklich überfällig dafür wäre: Lesen, lesen, lesen.
Man müsste dann allerdings auch der vielfach beklagten De-Industrialisierung, sofern sie Impulsen aus dem Volk entspricht, vielleicht zugute halten, dass sie der unbewussten, aber doch nicht ganz falschen Einsicht entspricht, dass ein gut geöltes, funktionstüchtiges Ingenieursvolk inzwischen selbst zur seelenlosen Maschine wurde und dringend eine Phase der Verinnerlichung und Vermenschlichung bräuchte. Ein Land, das Flüchtlingshilfe am Fließband produziert, ist eigentlich ein Gespenst.
Vielleicht würde es dann auch wieder etwas mit einer Besinnung auf die schweren Wunden, die man uns zugefügt hat, die nicht durch Wegschauen geheilt sind, sondern immer noch brennen.

Maiordomus

15. Februar 2020 11:55

@links, wo der Daumen rechts ist.

Ich danke Ihnen, dass Sie bei Ihrem lesenswerten Kommentar nicht nur auf die nun mal gar nicht dumme (mir bloss einst widerwärtige) Ulrike Meinhof verweisen, sondern noch dazu auf den brillanten Autor W.G. Sebald, der mich beim ersten Kennenlernen über Lesungen noch nicht überzeugte. (Weil er sich nämlich für das, was er las, wenn er nicht las, zu entschuldigen schien.)

Man sieht nun auch besser durch, warum Horst Mahler, einer der saubersten radikalen Intellektuellen seiner Zeit, zum Baader-Meinhof-Verteidiger werden konnte. Auf der Basis nun mal von Max Weber und Edmund Husserl ist es mir aber nicht möglich, wie zwar auf der Rückseite des Sezession-Heftes mit Berufung auf Brecht erklärt wird, als Philosophierender das Wort "als Waffe" einzusetzen. Ich gehöre in diesem Sinn wohl keinem "intellektuell-radikalem" Lager an, mit Ausnahme vielleicht dem Bezug des Wortes "radikal" zu lateinisch "radix", die Wurzel. Aber nicht mit Stumpf und Stiel das Unkraut ausrotten, sondern wenn schon, flächendeckend den Wurzeln Pflege angedeihen zu lassen. Ich liebe Radieschen. Das heisst nicht, dass es für mich keine Gegner gäbe.

Wenn einer hier (gemeint nicht im Heft Sezession) das Christentum ablehnt, ärgere ich mich darüber zwar kaum stärker als wenn er sagen würde, er sei gegen die Homöopathie oder er lehne die Steinersche Anthroposophie ab. Wer aber Christentum pauschal und (bürgerlichen) Humanismus ebenso pauschal gleichzeitig zu seinem Hassobjekt erklärt, dem stehe ich garantiert nicht näher als einem Erich Mielke unsäglichen Angedenkens. Falls Mielke gesagt hat (was umstritten ist) "Ich liebe euch doch alle!", erinnert mich dies an das schrecklichste Ministerium in Orwells Roman "1984". Es handelt sich nicht zufällig um das "Ministerium für Liebe". Dass und warum dies so ist, hat kein Geringerer als der oben von mir zwar kritisierte Friedrich Nietzsche in seinem Buch "Genealogie der Moral" meisterhaft erklärt, und zwar auf der Basis von Dante. In dessen Hauptwerk steht, als Inschrift am Portal der Hölle: "Auch mich schuf die Ewige Liebe." Nietzsche ergänzt dazu, mit einem Zitat von Thomas von Aquin über die selbstgerechte Freude der Seligen angesichts der Qualen der Verdammten: An die Pforte des Himmels (aller Erwählten) würde geschrieben gehören: AUCH MICH SCHUF DER EWIGE HASS. (Damit wird gleichzeitig deutlich gemacht, warum Aussagen von Gabriel, nicht Erzengel, Maas, Merkel, Friedrich Merz im Gegensatz zu Primitivitäten bei den Rechten natürlich nicht als "Hass" eingeschätzt werden können, weil diese Persönlichkeiten als Repräsentanten des Himmels der Guten alles, was sie äussern, nur aus Liebe zum Volk quasi wie aus einer Engelsposaune der Menschheit gegenüber "kommunizieren". Würde sich jedoch Teufel ausdrücken, wäre es klar "menschenverachtend". Falls einige von dieser Gutmenschenlogik überfordert sind: Spätestens ab der Halsgerichtsordnung aus der Zeit von Kaiser Karl V. konnte nur als Experte über Hexenprozesse urteilen, wer über ein mehrjähriges theologisches und juristisches Studium verfügte. Das bedeutet sichere Unterscheidung zwischen den Guten und den Bösen nach Kriterien, wie sie im "Hexenhammer" bei näherem Hinsehen nicht unintelligent ausgearbeitet sind. Salvador Dali schuf eine grandiose Grafik: "Der Teufel als Logiker", 1965 in München ausgestellt, ersetzte mindestens ein Semester Wissenschaftliche Dämonologie. Zumindest von einem Gutachter der Hexenprozesse wurde, für einen sauberen Prozess, akademisches Niveau verlangt. Auf die hohen intellektuellen Anforderungen eines Gutachters beim Hexenprozess hat Hermann Lübbe in einem Aufsatz über die geistigen Grundlagen des Terrors aufmerksam gemacht, u.a. in seinem Aufsatz "Freiheit und Terror", vor 40 Jahren bei Reclam publiziert. Dessen war sich auch Friedrich Dürrenmatt bewusst, dessen intellektuelles Niveau niemand mit einer Kolumnistin oder einem Kolumnisten des Spiegel verwechselt.

So blieb es dem Schweizer Jahrhundertautor, als hervorragendem Kenner der Rechtsgeschichte, stets vor Augen, dass bedeutende Errungenschaften der Hexenprozesse nicht nur in die moderne Justiz eingegangen sind, sondern nach wie vor in derselben sogar konserviert werden. Zur Illustration dienen die auch von Reick-Ranicki als Dürrenmatts Meisterwerk gelobte Erzählung "Die Panne" sowie weitere seiner Kriminalerzählungen (alles philosophische Parabeln) einschliesslich des nobelpreiswürdigen "Monstervortrages über Gerechtigkeit". Ich finde es insofern merkwürdig, eine peinlich Lücke, dass es Dürrenmatt nicht in den "Kanon" von "Sezession" geschafft hat. Als einer der ersten hat er (in: Der Versuch) das Verschwinden der Weissen aus Europa vorausgesagt.

@links, wo der Daumen rechts usw. Ihr Beitrag und noch andere hier bestätigen, dass zwischen meinen Ausführungen auf dieser Seite und den Ausführungen anderer ein innerer Zusammenhang besteht.

zeitschnur

15. Februar 2020 12:09

@ Franz Bettinger

Hier kommen mal wir beide zusammen - ich konnte auch nie verstehen, wie man sich diesen langweiligen Schrott freiwillig antut und auch noch quasireligiös ausdeutet. Im katholischen Lager gibt es da auch ganze Szenen.

Musste übrigens als Mutter einem Fan-Sohn (ja, mal wird tolerant in der Familie) dieses Machwerk auf Englisch im Schuber kaufen, was ich auch gerne tat. Das überdurchschnittliche Interesse an der Fremdsprache kann ich ja mal abstrahieren.

Es ist aber eine interessante soziologische Frage, warum so viele auf diese Art von Literatur abfahren.
Haben ein paar kritische Geister da Ideen? Würde mich interessieren, wie sie argumentieren.

Maiordomus

15. Februar 2020 12:31

@Andreas aus E. @Bettinger. Da ich "Der Herr der Ringe" nicht gelesen habe, aufgrund des altakademischen Anfangsverdachts, es könnte so sein, wie Sie schreiben, beschränke ich mich darauf, die im gedruckten Heft "Sezession" gegebene Deutung eines Nichtmarxisten namens Engels als geistvoll und anregend zu bestätigen. Habe von Autor David Engels in Aarau meinerseits mit Genuss einen noch gehaltvollen Vortrag gehört. Auch glaube ich, dass die bei mir als belesene Frau (siehe oben) Kurs haltende @Sigrid Wirzinger als vielseitige Leserin einen zu respektierenden literarischen Geschmack geltend machen kann.

Bei "Schrott" in dieser Debatte denke ich eher an Geschichtstheorien, Geschichtsideologien und Geschichtsphilosophien, denen ich mit einiger Geduld Johann Peter Hebel, Heinrich von Kleist und den ostfriesischen Lokalhistoriker Wilhelm Schapp entgegengesetzt habe. Dessen Hauptwerk, an das in Sachen Methodik und Analytik nun mal Hegel, Marx, Spengler, Fukuyama nicht heranreichen, trägt den Titel "Philosophie der Geschichten" (Leer 1959). Zur Stellung dieses Buches in der phänomenologischen und analytischen Kritik der Geschichtsphilosophie vgl. Hermann Lübbe: Bewusstsein in Geschichten. Studien zur Phänomenologie. Mach, Husserl. Schapp, Wittgenstein". Freiburg im Breisgau 1972, S. 81 - 114. Persönlich glaube ich nicht, dass Adorno oder Habermas eine ähnlich bedeutende denkerische Leistung gelungen ist. Schapp trug, über seinen Einfluss auf Lübbe, massgeblich zur Erledigung der Geschichtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei. Vgl. noch Hans Blumenberg. Dieser nennt "die Geschichte" im Sinne seiner philosophischen Metapherntheorie "eine absolute Metapher".

Zu "Schrott", Herr @Bettinger. Dass Theorien berühmter Leute sich in "Schrott" verwandeln können, vgl. die Phlogiston-Theorie, die als letzter Franz von Baader verteidigte, oder die medizinische Theorie vom "rete mirabile" im Gehirn (Folge der Rinderanatomie bei der Ausbildung von Ärzten im mittelalterlichen Italien), ist wissenschaftsgeschichtlicher Alltag. Da Ihnen das naturwissenschaftliche Denken klar mehr liegt als die Schule von Hegel (nicht Hebel), werden Sie sich darüber nicht verwundern. Diesmal müssen Sie und ich mal nicht "auf einander losgehen". In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, was zwar provozierend christlich tönt, "einen schönen Sonntag".

Imagine

15. Februar 2020 13:46

@Laurenz 14. Februar 2020 13:32
„Vor allem @Imagine & @zeitschnur ideologisieren, auch noch falsch, aufgrund oberflächlicher Recherche, was zu falschen Schlußfolgerungen führt.“

Das ist eine argumentfreie Behauptung.

Der Ökonom A. Sohn-Rethel gehörte zu bestinformierten Menschen in der damaligen Zeit, weil er in einem „Think-Tank“ der führenden deutschen Konzerne, Banken und Wirtschaftsverbände tätig war.

„Durch Vermittlung von Poensgen gelangte er [A. Sohn-Rethel] im September 1931 zu einer wissenschaftlichen Hilfstätigkeit beim Mitteleuropäischen Wirtschaftstag (MWT). Der MWT war ein Interessenverband der führenden deutschen Industrieunternehmen, Banken und Verbände. Dort konnte Sohn-Rethel – für Soziologen ein seltener Fall – seit 1931 unerkannt „in der Höhle des Löwen“ und aus nächster Nähe, „im zweiten Rang Mitte“, das machtpolitische Geschehen beobachten und nach Branchen analysieren. In der Emigration verfasste Sohn-Rethel auf der Grundlage eigener Beobachtung seine Analyse, die erst 1973 unter dem Titel „Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus“ veröffentlicht wurde.“ (Wikipedia)

Maiordomus

15. Februar 2020 13:50

@Benedikt Kaiser. Zu meiner Anerkennung Ihrer Arbeit. Vgl. oben, Valentinstag gestern, 16.02 Uhr, wo nicht gleich alles klar wurde:

Natürlich verwechsle ich Ihre Methode nicht mit der idealtypischen scholastischen aus den besten Traktaten des Thomas von Aquin. Meine Ausführungen blieben zudem wegen eines ausgefallenen Wortes unverständlich bis schwer verständlich. Zu den Postulaten der scholastischen Methode gehört a) die Position des Feindes korrekt wiedergeben (was hat der philosophische "Höcke" wirklich gesagt?) b) wenn der Feind seine eigene Position schlecht begründet hat, dieselbe in Interessenvertretung des Feindes der Sache zuliebe besser begründen, weil eine Widerlegung nur aus zufälliger Schwäche des Gegners für die Debatte langfristig nur ein Pyrrhussieg wäre. Also lohnt es sich, Argumente der Manichäer (damals) bzw. Argumente der Linken (heute) weiterzudenken und die Position des Gegners in bestmöglicher Evidenz darzutun. c) Es geht nicht um den Parteisieg, sondern um die besseren Argumente, die Wahrheit. Weil aber letztere nicht leicht definitiv festzulegen ist, halte man sich an den "Logos" von Sokrates: Es gilt das bestmögliche Argument zur Sache: "Der Satz, der sich nach Prüfung aller Argumente als der beste erweist." Platon, Frühdialog Laches, ev. Eutyphron.

Zu einem solchen Resultat müsste idealtypisch eine Quaestio disputata de veritate nach Thomas von Aquin führen. Unser Argumentationsniveau ist in der Regel noch nicht auf diesem optimalen Niveau. Aber dass Sie als Rechter die Linken aus echter Neugier lesen, einschliesslich Lernbereitschaft. ist eine im platonischen Sinn akademische Haltung. Es sollte allerdings nicht primär darum gehen, aufgrund dieser Erkenntnisse den Gegner "erst recht" fertig machen zu können. Unser höchster Horizont muss die "Sache selbst" sein, wie es Husserl als Grundlage seiner Phänomenologie artikuliert hat. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, weiterhin gut unterwegs zu bleiben. Falls Sie sich mal bei Übereifer ertappen, erinnern Sie sich zur allfälligen Selbstbesänftigung an diese Mahnung.

Die Geschichte von Politik und Wissenschaft bestätigt jedoch nicht, dass Sie mit der oben geschilderten sauberen Haltung erfolgreicher sein werden als diejenigen, die mit deutschen "Faschisten nicht diskutieren" wollen, sondern in der Art Orwells nur von "Verbrechdenk" faseln. Dieses stalinistische Niveau ist freilich intellektuell derart "Schnecke", dass es zwar eine Beamtung eintragen kann, aber selbst nur in Ausnahmefällen das aus wissenschaftshistorischer Sicht nicht immer niedrige Durchschnittsniveau eines herkömmlichen Hexenrichters des 17. Jahrhunderts erreicht. Immerhin muss man froh sein, dass man nicht so schnell hingerichtet wird.

Falls Sie, Herr Kaiser, eines unwahrscheinlichen Tages dank Erfolg Ihrer politischen Richtung in der Frankfurter Paulskirche zum offiziellen Redner eingeladen sind: denken Sie daran, dass dies schon mal für Daniel Cohn-Bendit, Joschka Fischer und Carolin Emcke (oder wie sie heisst) bereits Standard war und damit für Ihr politisch- intellektuelles Format bis zum Erweis des Gegenteils eigentlich nichts erweist. Besuchen Sie mal den "Museo della tortura" in San Gimignano/Toskana. Dort können Sie eine metallene Gesichtsmaske besichtigen von der Sorte, die Giordano Bruno am 17. Februar 1600 auf dem Campo fiori in Rom angeschraubt wurde, damit das Publikum bei der Verbrennung des Denkers dessen Schreie nicht hören konnte. Halten Sie sich aber bei heute herkömmlichen Schikanen noch lange nicht für einen Märtyrer. Letzteres gehört nach christlichen Tradition zu den Gnaden, die nur bei denjenigen wahre Heiligkeit bezeugen, die das Martyrium nicht vorsätzlich anstreben und sich darauf auch nichts einbilden würden.

Imagine

15. Februar 2020 14:09

„Prof. Preparata: Das ist eine typische dämonisierende Charakterisierung eines besiegten Gegners. Die Sieger verfolgen damit zwei fundamentale Ziele: Erstens, unter den Schülern das aufrichtige Gefühl zu entwickeln, dass die Diktatur Hitlers, die Herrschaft des „Antichristen“ gewesen sei, und dass jeder, der sie zum Sturz brachte, quasi ein „Ritter Gottes“ war. Zweitens, durch die alleinige Schuldzuweisung an (Nazi-)Deutschland für jegliche Schandtaten des Westens, konnten sich die angloamerikanischen Staatenlenker und ihre Sympathisanten aus aller Welt als „die Guten“ darstellen. Sie krönten sich selbst als eine „Legion Gottes“ …

Die Siegermächte züchteten Hitler ganz bewusst heran, um Deutschland als potenzielle Gefahr für geopolitische Interessen des angloamerikanischen Staatenbundes ein für alle Mal zu beseitigen. Als Führer eines „neuen Deutschen Reiches“ sollte er einen Angriff auf das „rote, gottlose Russland“ einleiten.

Die Geschichte mit der Alleinschuld ist kompletter Unfug. Das ist britische Propaganda, die in der liberalen Ära der Theatralik und des Massenspektakels, als Grundlage für ihr System dient. Der Imperativ lautet immer, niemals als Aggressor zu erscheinen, auch wenn man der Drahtzieher der gesamten Operation war. Dieser Imperativ gründet auf dem schizophrenen Bedürfnis danach eine dreiste Selbstgerechtigkeit an den Tag zu legen und eine Kriegslüsternheit, die immerzu dominieren und erobern von anderen Nationen bedeutet. Dieses Zusammenspiel von machtgetriebenem Blutrausch und Hochmut mündet in einer irren Heuchelei, wodurch das tatsächliche Motiv der kriegerischen Bestrebungen samt des „diplomatischen Zwischenfalls“, der eigentlich zum Krieg führte, verschleiert bleibt. Uns wird also weiß gemacht, dass die Schandtaten Deutschlands die angloamerikanischen Imperialisten dazu zwangen, aktiv zu werden. Durch die „Intervention“ musste man angeblich einem „Tyrannen“ Einhalt gebieten.

Ich behaupte ja nicht, dass Deutschland unschuldig war. Keinesfalls. Aber man kann aufzeigen, dass ein angriffslustiges Deutschland sehr geschickt zu einer Kriegserklärung gedrängt wurde. […]
Deutschland erscheint dadurch im Rückblick immer als Aggressor, obwohl die gesamte Dynamik über einen längeren Zeitraum hinweg durch britische Strategen geschaffen wurde, die nicht weniger als Deutschland und andere Großmächte an einem Krieg interessiert waren.
Eigentlich sogar noch mehr, da die neueren Entwicklungen den Aufstieg des Deutschen Reiches zur Supermacht zum Ende des 19. Jahrhunderts offenbarten. Das war eine direkte Gefahr für das Britische Imperium: Großbritannien war der Herrscher und die Welt war sein Territorium. Die Briten wollten diese Dominanz nicht gefährden. Sie denken noch immer auf diese Weise, so wie es Amerikaner tun, die von den Briten geschult worden.


Sie [= die Deutschen] verhielten sich auf der weltpolitischen Bühne unreif. Ihre Selbstüberschätzung gründete in ihrer totalitären, selbstverherrlichenden und kollektiven Kult-Idee. Es war zudem eine militärische Aggressivität gepaart mit einer außerordentlichen strategischen Mittelmäßigkeit. Das Dritte Reich war damit den Briten in ihrem Spiel kein ebenbürtiger Gegner. Zusammen mit den zuvor genannten Faktoren führte dessen rassistische Feindseligkeit gegenüber Russland und den Slawen dann im Juni 1941 zu seinem Untergang. Das war ein grenzenloser Triumph für die Anglo-Amerikaner.“

https://www.dasmili.eu/art/prof-guido-preparata-die-siegermaechte-zuechteten-hitler-ganz-bewusst-heran/
und
https://www.dasmili.eu/art/prof-guido-preparata-die-deutschen-sind-ein-besiegtes-und-erobertes-volk/

Gracchus

15. Februar 2020 16:41

zu Tolkien:
Ich habe den Essay zu Tolkien mit Interesse und durchaus Zustimmung gelesen; der Essay sei auch dem Foristen Laurenz ans Herz gelegt. Auf die literarische Qualität geht Engels aber nicht ein, und da neige ich doch eher den kritischen Stimmen hier im Forum zu, dass Herr der Ringe doch streckenweise arge Langeweile hervorruft - m. E. könnte man die drei Bände gut und gerne auf einen zusammenstreichen -, was m. E. daran liegt, dass Tolkien ziemlich umständlich erzählt oder weniger er- als mit ziemlicher Pedanterie aufzählt; dieses vorwiegend additive Verfahren ermüdet, atmosphärisch verdichtete Schilderungen sind Mangelware; zwar entführt er uns in eine fantastische Welt, aber der Fantasie sind darin ziemlich die Zügel angelegt; dass in einer archetypischen Welt die Figurenpsychologie ins Hintertreffen gerät: okay, aber dass sich die Figuren wie in einem Korsett bewegen müssen? Als mit am interessantesten empfand ich die Figur des Tom Bombadil, die aber nur einen Kurzauftritt hat (und in der Verfilmung - "unverzeihlich" (Angela Merkel) - gar nicht vorkommt). Borges, ein anderer fantastischer Autor, konnte mit Tolkien wenig anfangen.

Gracchus

15. Februar 2020 17:15

@Maiordomus
Ihr Trommeln für Hebel ist mir natürlich sympathisch - aber Ihr Argument für Hebel in diesem Zusammenhang tritt mir nur vage vor Auge. Schapp sagte mir vage etwas, und ich wurde fündig in einem Aufsatzband von Odo Marquard, namentlich "Die Philosophie der Geschichten und die Zukunft des Erzählens", darin Schapp eine prominente Rolle spielt. Der Aufsatz versteht sich als ein Plädoyer für ein Denken in Geschichten - und somit gegen einsinnige Geschichtsdeutungen, wie auch von Lehnert in seinem lesenswerten Beitrag anhand eines anderen Werks von Marquard referiert.

RMH

15. Februar 2020 18:49

"Meine These: wer Tolkien liest, liest sonst fast nichts (abgesehen von Wikipedia-Artikeln)."

@links ist wo der daumen rechts ist

Diese These halte ich für nicht haltbar. Schon alleine bei mir dürfte Tolkien lediglich unter <1% meiner nicht-beruflichen Lektüre ausmachen und ich bin lediglich ein regelmäßiger Leser und kein Vielleser.

Bitte verwechseln Sie nicht die durch die Verfilmung aufgekommenen Cos- und Roleplayer mit einem normalen Tolkien Leser (! und eben nicht reinen Filmseher und Gamer), der den Hobbit und Herr der Ringe irgendwann mal gelesen hat uns sonst gar nichts vom Autor.

Meine These zu diesen 2 Werken von Tolkien ist eher so, dass die Masse der Leser mittlerweile bei Band 1 von Herr der Ringe scheitern, da alles zu lang ist und man noch die gute alte Lesedisziplin aufbringen muss, um auf den "Zug" zu gelangen. Wenn sie dann alle 3 Bände von Herr der Ringe geschafft haben, dann wars in aller Regel "nice but not twice". Die, die es ein Stück weit mehr gepackt hat, die lesen dann noch den "Hobbit" im Nachgang, obwohl zeitlich dem Ringkrieg vorgehend. Die Leser, die sich etwas im Vorfeld kund getan haben, lesen erst den Hobbit und schaffen deshalb meistens auch Herr der Ringe.

Alles nicht der Rede wert und das, was ein Revival von Tolkien im breiteren Umfang ausgelöst hat, waren doch klar die Filme und darauf aufbauend dann entsprechende Games.

Beides schon wieder im Abklingen. Der Artikel jetzt in der Zeitschrift Sezession zeigt nur auf, wie konservativ Tolkien ist und das er dennoch sich (noch!) an der linken Kulturmafia vorbeischmuggeln kann. Wer weiß, evtl. kommt die Bilderstürmerei auch noch auf Tolkien zu.
Insofern ist genug Anlass, ihn auf Seiten der Rechten zu besprechen. Wer es nicht mag, soll es eben nicht mögen, ist ja ok, aber "Schrott" im Bereich von Tolkien ist eben auch nicht angebracht.

Wenn Sie Fantasy mehr im welschen, angelsächsischen verorten und dabei auch Science Fiction mal eben mit rein mischen, dann haben Sie offenbar noch nichts bis nur wenig aus der Zeit um Achtzehnhundert bis ins 19. Jhdt. hinein aus Deutschland gelesen. Und ohne diese "Vorarbeit" der deutschen Autoren und des "Märchensammelns", wie bspw. von den Gebrüdern Grimm oder die im 19. Jhdt. bis Anfang des 20 Jhdts. maßgeblich von Deutschland aus betriebene, extensive bis teileweise exzessive Altphilologie mit der einhergehenden Popularisierung der antiken Mythen, gäbe es vermutlich das zeitlich erst deutlich spätere Genre "Fantasy" nicht in dieser Form. Tolkien sticht in diesem "Genre" durch seine Einzigartigkeit der Konzeption und sein sprachliches Können ganz klar heraus. Man muss dann nicht mehr eine Marion Zimmer Bradley lesen oder ähnliches. Den von mir bereits genannten G.R.R. Martin habe ich hingegen in Urlauben recht gerne gelesen.

PS:
Wie eine ganze Stadt dagegen im Brand untergeht, kann man bei Tolkien recht gut in der "Der Fall von Gondolin" lesen.

Laurenz

15. Februar 2020 18:51

@Imagine ... wieso zitieren Sie wieder irgendeinen Hanswurst um Ihre Position zu untermauern? Wieso untermauern Sie nicht Ihre Eigene Haltung unter der Zuhilfenahme allgemein anerkannter Fakten.
Der Young-Plan (1927) mutierte die USA vom größten Schuldner des Planeten in den größten Gläubiger desselbigen. Die kurze Hoch-Konjunktur Weimar-Deutschlands basierte daraufhin bis zum Schwarzen Freitag rein auf Pump. Mit der einsetzenden Welt-Depression brach das ganze Konstrukt zusammen und 30 Mio. Deutsche (die Hälfte) hungerten, weil man keine Refinanzierungen der internationalen Kredite erhalten konnte. Hierauf bezieht sich die Währungs-Rede Hitlers im Reichstag 02/1938.
Sie, Imagine, verstehen eben wie die meisten nicht, daß die Hoheit über die eigene Währung, das entscheidende Momentum für den Erfolg einer Nation darstellt.
Von daher, erst recherchieren, dann selbst denken und dann posten. Solange Sie andere denken lassen, wird das nichts mit einer Debatte auf Augenhöhe.

@AndreasausE & Franz Bettinger .... warum sollte ich jemanden zerreißen?

Das, was AndreasausE elementar an Tolkien kritisiert, ist das einzige Relikt, was aus Tolkiens Leben, Seinem Katholiszismus, im "Herr der Ringe" übrig geblieben ist, die extrem-christliche Polarisierung zwischen Gut und Böse. Hier weicht Tolkien, explizit im von allen akzeptierten Extrem-Rassismus, vom kopierten Heidentum ab.
Daher kann man fundamental argumentieren, wie AndreasausE, muß man aber nicht. Tolkiens Kunst ist es, die politischen Verhältnisse im Buch, die den heutigen sehr ähnlich sind, mit Spannung zu verstecken.

zeitschnur

15. Februar 2020 23:02

Ist es ein Sakrileg hier, wenn man Tolkien nicht großartig findet, nicht als Fundgrube der gesammelten Chance für eine Erneuerung Europas alias Abendlandes ansieht, wird man gleich als umgekehrt "politisch unkorrekt" angeheftet?

Die Kulturkritik des Herrn Engels mag ja in manchem, gewissermaßen im Querschnitt sogar auch für mich teilbar sein, nicht aber dieses merkwürdig euphorische Bild des Abendlandes bzw seiner geradezu mythischen Strukturen:

"Gott als historischer Akteur; Gut und Böse als unverhandelbare Größen; Ehre, Treue und Pflicht als höchste Tugenden; klare gesellschaftliche Hierarchien; feste Geschlechterrollen; Einsicht in die Vergeblichkeit allen menschlichen Handelns; Schönheit und Leid als einander bedingend; die Hoffnung auf die Wiederkehr des Königs..." (S. 30)

Und dass das alles endlich die optimale Vereinfachung künstlich verkomplizierter Dinge ist, wird durch die selbstmitleidige Bemerkung abgesichert, dass all das heutzutage ja als "politisch unkorrekt" gelte.

Es ist dem Autor vielleicht selbst entgangen, aber die Aufzählung enthält bereits einige Selbstaufhebungen logischer Natur. So könnte er sich zB fragen, warum all die romantischen Kyffhäuserträume, wenn doch alles menschliche Tun (samt seiner romantischen Basis) vergeblich ist.
Es stimmt ja, dass genau diese Schlagworte bei Tolkien aufgebaut werden, aber genau deshalb verstehe ich nicht, wie v.a. Christen dem so frenetisch anhängen. Die Nichtchristen mögen ja Kyffhäuserträume haben, aber die Christen wissen doch, dass das Reich IHRES Königs nicht von dieser Welt IST und NIEMALS war. Dass dieser König nichts hielt von "festen Hierarchien" und "Geschlechterrollen" (ohne deshalb als Auslöser aufzutreten - er heilte all diese Krankheiten!) und ankündigte, dass diese Welt vergehen wird, unweigerlich, wird durch solche Träumereien sogar förmlich konterkariert.

Natürlich hat Engels schon bemerkt, dass es eine "pagane Versuchung" gibt auf konservativer Seite, und von blanker Restauration hält er auch nichts. Wenigstens das ist schon mal gut. Aber wie man dann, ohne den Deutungsraum zu wechseln, dann das "heroische Christentum" als Erlösungslehre skizzieren kann, ohne zu verstehen, dass sie noch veräußerlichter sein wird als alles, was wir schon hatten, verstehe ich wiederum nicht.

Ich habe Schwierigkeiten mit dem Begriff der "transzendenten Rückbindung", ohne die es angeblich nicht gehe.
Was fängt der Autor mit der abendländischen Geschichtserfahrung an, dass es auch mit ihr noch nie ging?
In Wahrheit ist das Abendland dieser immer wieder neu geträumte Traum, der aber noch nie realisiert war außer im Träumen.

Die riesige Hürde, die politisch alleine deswegen schon nicht zu überwinden ist, weil Politisches per definitionem Äußerlichkeit ist, ist die Innenseite des Menschen, der Sprache, der grundsätzlich verborgene Raum des Herzens, der alleine die Transzendenzerfahrung ermöglicht. Rituale, schöne Zeremonien, viel Pathos und Ehrgefühl - all das liegt im Äußerlichen und kann nichts Innerliches schaffen.
Asu diesem Äon werden keine Nationen, sondern einzelne Menschen, Männer, Frauen, gerettet. Wenn Engels anstelle von Tolkien und traditionalistischen katholischen Autoren vielleicht einmal lesen würde, was der verborgene König, der hier schon damals nicht "herrschen" wollte und mit seinen Verfremdungen in Purpur und Rüstung nicht verwechselt werden sollte, dazu hinterlassen hat: ja, er kommt zurück, aber er nimmt die Seinen mit: zwei Frauen an einem Mahlstein werden sitzen, aus demselben Volk, demselben Tempel, aber die eine wird mitgenommen, die andere nicht.

Es ist nicht so, dass ich kein Verständnis für die Sehnsucht nach heiler Welt und dem Gefühl, es lohne sich, sich für die äußerliche Geschichte zu verkämpfen, habe. Aber es ist unchristlich, es ist ein förmliches Gegenprogramm zu allem Christlichen, sofern es auf der ursprünglichen christlichen Überlieferung basiert. Dieses Äon kann nur Exodus für den einzelnen sein, dafür sollte er die Zeit nutzen, nicht hier seine Hütte absichern. Abraham wird in der Bibel als Erster als "Iwri" ("Hebräer") bezeichnet. Und "Iwri" bedeutet "Jenseitiger", "Fremder". "Wir sind Gäste und Fremdlinge in dieser Welt". Wer das nicht aushalten will, der muss anderswo als im Christentum suchen.

Das sind die Gründe, warum ich Tolkien als Integrationsautor alleine schon inhaltlich für nicht tauglich halte. es wird sich zeigen, was dann erst einmal sein wird, wenn Autoren wie er oder Raspail zu politischen Hofautoren geworden sind, wenn das römische Reich restauriert und Rom wieder in seiner alten Macht installiert sein wird - vatikanisch natürlich, wie Engels irgendwie abgesangmäßig oder wie immer (ich hab es nicht ganz klar verstanden) meint. Es gibt viele gute Gründe, diesen Traum als die ultimative Veräußerlichung alles Innerlichen anzusehen und damit als den Antichristen. Und ich bin wahrlich nicht die Erste, die um diese Drohung wusste. man muss nur russische Autoren des 19. Jh lesen: sie wussten das genauso gut.

Franz Bettinger

16. Februar 2020 01:23

@Zeitschnur, @Maioirdomus: Obwohl wir uns gelegentlich fetzen, stimmen wir im Grunde in viel mehr, und vor allem in den wesentlichen Dingen überein, sonst würden wir uns nicht hier auf SiN zusammen finden. Dummer (?) Weise verletzt man sich immer an den paar wenigen Nägeln, die aus der Veranda herausstehen und hält die für das große Problem. Ich kenne und schätze meine Pappenheimer.

Rabenfeder

16. Februar 2020 11:40

Nun habe auch ich endlich die aktuelle Lektüren-Sezession zur Hand genommen und finde darin
einen sehr starken Beitrag von Prof. Engels zu Tolkien; so stark, dass ich ernstlich versucht bin, meinen Kommentar im Geiste der Eintracht mit einem Wort zu beschließen:
Lesenswert!

...und doch regt sich der Geist des Widerspruchs, wie es seine Natur ist. Er muss, ob er will oder nicht. Vielleicht will er aber auch und will gar stets Böses. Möge der stets Widersprechende, selbst wenn er denn Böses will, Gutes schaffen (helfen).

Deshalb wollen wir auch diesen Geist sittsam streng im Zaume halten und ihm nur wenige Anmerkungen gestatten:

Prof. Engels schreibt:
„ Für viele jener Suchenden stellt gerade Tolkiens heroische Mittelerde mit ihrer scheinbaren Immanenz des Göttlichen eine ideale Projektionsfläche neuheidnischer Sehnsüchte dar – ein flagrantes Missverständnis, welches die grundlegend christliche Dimension von Tolkiens Sekundärschöpfung völlig verkennt.“

Es ist sicherlich unbestreitbar, dass sich des Autors Weltanschauung in seinem Werk deutlich aufzeigen lässt, so auch seine stark christlich-katholische Prägung, sein Platonismus, seine angelsächsische, „englische“ Perspektive, sein tiefes Misstrauen der „Maschine“ gegenüber, als zwingender Magie, seine Sorge um die Entfremdung der Menschen vom Licht und ihren Fall in ein sklavisches „wraith“-Bewusstsein;
bis in die Geographie Mittelerde hinein finden sich kaum verhüllte, bewusste oder unbewusste Ab-Bilder aus der primären Welt. Mordor zum Beispiel, das sich drohend gegen den Westen richtet, gleicht es nicht einem anderen kleinen Landvorsprung, mitsamt dem Höllenmaul, dem Morannon im Nordwesten und dem Tal von Udun dahinter?

...und doch schrieb Tolkien in einem Brief an Milton Waldman 1951 über die Welt König Arthurs:

„For one thing its „faerie“ is too lavish, and fantastical, incoherent and repetitive. For another and more important thing: it is involved in, and explicitly contains the Christian religion.
For reasons which i will not elaborate, that seems to me fatal. Myth and fairy-story must, as all art, reflect and contain in solution elements of moral and religious truth (or error), but not explicit, not in the known form of the primary „real“ world.“

Tolkiens Bruch mit C.S. Lewis war offenbar auch eine Folge seiner heftigen Kritik an den „Chroniken von Narnia“, die ihm zu explizit christlich waren.

Im oft zitierten Vorwort zum „Lord of the Rings“ schreibt Tolkien:

„As for any inner meaning or „message“, it has in the intention of the author none. It is neither allegorical not topical.
(…)
But I cordially dislike allegory in all its manifestions, and always have done so since i grew old and wary enough to detect its presence. I much prefer history, true or feigned, with its varied applicability to the thought and experience of readers. I think that many confuse „applicability“ with „allegory“, but the one resides in the freedom of the reader, and the other in the purposed domination of the author.“

Können wir also Tolkiens Werk missverstehen?
Wir können sicherlich Dinge hinein interpretieren, die Tolkien selbst ablehnen oder gar verabscheuen würde, das wohl.

Wie dem auch sei, der Gottesdienst im westlichsten, Valinor nächst gelegenen Königreich der Edelmenschen, in Westernesse, in Numenore gleicht doch wohl eher einem heidnischen Naturdienst, als den komplexen Katechismen und Regeln einer Kirche aus der primären Welt, wie der katholischen zum Beispiel:

„But in the midst of the land was a mountain tall and steep, and it was named the Meneltarma, the pillar of Heaven, and upon it was a high place that was hallowed to Eru Illuvatar, and it was open and unroofed, and no other temple or fane was there in the land of the Numenoreans.“

Illuvatar.... Allvater, nicht wahr?

*Hust*

Prof. Engels schreibt:

„Das „Heidentum“ ist also nur eine Stufe innerhalb eines umfassenderen Heilsplans, und wenn die auf den ersten Blick klarer umrissenen Fronten jenes „heroischen“ Zeitalters aus der heutigen Perspektive auch durchaus attraktiv erscheinen mögen, wäre eine Rückkehr dorthin nicht nur eine widernatürliche Regression, sondern auch ein Verrat an unserer heilsgeschichtlichen Mission und darüber hinaus auch ein nicht nur offensichtlich künstliches, sondern auch problematisches, falsches, ja sogar gefährliches Unterfangen.“

Vergleichen wir den Gottesdienst in Numenore mit der katholischen Kirche, dann dürfte kein Zwist darüber bestehen, wo sich die Künstlichkeit angesiedelt hat. Ein solches Schimpfwort kann also „künstlich“ für einen echten Katholiken nicht sein, denn was für ein Kunstwerk ist die siegreiche Kirche, in der allein das Heil sein kann, diese Kathedrale des misstrauischen, südlichen, römischen Geistes!

Ein berühmter Erspürer der Archetypen schrieb einmal:

„ It was not in Wotan’s nature to linger on and show signs of old age. He simply disappeared when the times turned against him, and remained invisible for more than a thousand years, working anonymously and indirectly.Archetypes are like riverbeds which dry up when the water deserts them, but which it can find again at any time. An archetype is like an old watercourse along which the water of life has flowed for centuries, digging a deep channel for itself. The longer it has flowed in this channel the more likely it is that sooner or later the water will return to its old bed.“

Vielleicht ist auch dies unvollständig, vielleicht war der Allvater niemals verschwunden oder lediglich zum Teufel umgedeutet, und muss deshalb auch nicht wiederkehren? Vielleicht war es deshalb so leicht für viele germanische Barbaren, erst die arianische Version des Christentums zu übernehmen und dann, weil es opportun war, auch „römisch“ zu werden? Für einen gemordeten Lichtbringer einzutreten und mit aller Kraft zu kämpfen, war vielleicht den starken Thormannen so fremd nicht?

Dem Allvater, diesem Zauberer und Poeten, Künstler und Opferwilligen, wenn es denn einem Ziele dient, der seinen Augapfel nicht schont und auch seinen Sonnen-Sohn nicht, diesem Patron der Männerbünde, dem soll die katholische Kirche nicht ein tiefes aktives Lachen wert gewesen sein?

Wer den Gedanken weiter spinnen möchte (muss man ja nicht), der liest in dem berühmten Aufsatz der obigen Erspürers auch:

„ Wotan disappeared when his oaks fell and appeared again when the Christian God proved too weak to save Christendom from fratricidal slaughter. When the Holy Father at Rome could only impotently lament before God the fate of the grex segregatus, the one-eyed old hunter, on the edge of the German forest, laughed and saddled Sleipnir.“

Ein Zauberer bleibt beweglich aber er muss wissen, wer er ist. Sonst mag bei all der Opferei zuviel Substanz verloren gehen, so dass keine neues Leben, keine neue Häutung mehr möglich ist.

Gesetzt, da ist noch Substanz, dann mögen, ganz ähnlich zum „Aufgehoben sein“ des Heidnischen in der katholischen Kirche, wie es Prof. Engels ja durchaus mit Recht versteht, im Gegenteil die 1000 (oder 2000) Jahre Christentum aufgehoben sein in einen höheren Heilsplan.

So, und jetzt haben wir dem wandernden Geist, „who creates unrest and stirs up strife, now here, now there, and works magic“ genug Raum gewährt und beschließen diesen Kommentar zum Tolkien-Beitrag von David Engels im neuen Heft mit dem Wort:

Lesenswert!

Phil

16. Februar 2020 11:52

Es mag Hardcore-Tolkien-Leser geben – auch schon vor den Filmen –, die (fast) nur Tolkien lesen, sich da extrem hineinfuchsen und sektenmäßig rüberkommen, aber das ist eine Minderheit!

Warum Fantasy lesen? Warum überhaupt lesen fragt Ivor Claire in der Nr. 94 und findet als Antwort: weil Lesen eine "geistige Kur" ist.
Fantasywelten erscheinen da manchem als sehr geeigneter Kurort. Und im Gegensatz zu Claire sehe ich darin schon ein Stück weit Eskapismus. Das ist für mich nichts Negatives, solange temporär und kein Dauerzustand.

Gracchus

16. Februar 2020 13:13

@Maiordomus
Ich hatte Ihre Wortmeldung vom 15.02, 7.49 Uhr, leider übersehen; meine Nachfrage hat sich dadurch erübrigt. Ihre Ausführungen kann ich sehr gut nachvollziehen. Ich selbst bin übrigens durch einen schönen Essay von W. G. Sebald auf Hebel aufmerksam geworden und seitdem regelmäßiger Hebel-Leser. Hebel-Lektüre kann auf nicht leicht zu beschreibende Weise beglücken. Also Hebel lesen!

Gracchus

16. Februar 2020 14:05

@Tolkien-Debatte
Der Erfolg von Tolkien rührt m. E. daher, dass in HdR - wie David Engels schreibt - die christlich-heidnische Synthese auflebt, also die heidnische Sagenwelt, ein magisches Naturgefühl und der Kampf zwischen Licht und Finsternis verknüpft sind, wobei das christliche Element eher im Hintergrund strahlt. Mit C. G. Jung, dem in dem Heft ja ebenfalls ein Beitrag gewidmet ist, könnte man sagen, dass Tolkien bei seinen Lesern an archetypische in Versunkenheit geratene Bewusstseinsschichten anknüpft. Diese Melange ist womöglich nur in einem fiktionalen - oder bei Jung: therapeutischen - Rahmen möglich bzw. darin verbannt worden. Und zwar grob gesagt von einem Christentum, das vorzugsweise protestantisch alle heidnischen Relikte eliminiert hat, und von einem Rationalismus, der alles Magische eliminiert hat - hin zur "reinen" Lehre. Wiederum grob gesagt: Mit der Neuzeit hat ein Prozess eingesetzt, der sich seither immer und immer im Kleinen wiederholt und nichts weniger als auf eine Amputation des kulturellen-historischen Gedächtnisses hinausläuft. Das Credo lautet: Alles vor uns war finster, und nur wenn wir uns davon lossagen, damit brechen, können wir in ein neues goldenes Zeitalter treten. Ich halte das Gebot: Du sollst Mutter und Vater ehren dagegen. Darin besteht mein Konservatismus. Es geht nicht um die Restauration vergangener Zeiten, sondern um das ehrende Gedenken.

Laurenz

16. Februar 2020 20:43

@zeitschnur ... (...)

Ihre obskure Behauptung, Ihr persönlicher Erlöser sei nicht an Hierachien etc. interessiert gewesen, ist stumpf gelogen. Jesus war Stalinist, siehe

Zitat- Matthäus 10:34 ff. 34Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen! Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.35Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter;36und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein.37Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert.38Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht wert.39Wer das Leben findet, wird es verlieren; wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es finden. -Zitatende

Erklären Sie den Unterschied zu Stalin, ich sehe keinen. Jesus proklamiert hier recht ehrlich seine totalitäre Diktatur und das zu seinen Lebzeiten.

Sie, zeitschnur, träumen auch bloß von Ihrem gottgegebenen Ur-Kommunismus, so wie @Imagine vom Endsieg des Marxismus träumt, vergessend, daß der Mensch für diesen Scheiß' nicht gemacht ist. Wir sind nun mal weder Bienen noch Ameisen.

Und extra für sie immer wieder gerne, auch zu allgemeinen Lese-Debatte auf SiN, Lisa Eckharts Kritik am "Lesen". Und wenn Lisa Eckhart Sie, zeitschnur, bei 03:25 ff. fast namentlich erwähnt, sollte Ihnen spätestens dann klar werden, daß Sie gar nicht so einzigartig sind, wie Ihr Ego Ihnen immer Glauben machen will. https://youtu.be/2uNmsv3s--w (06:50 Min.)

Laurenz

16. Februar 2020 21:15

@Rabenfeder

Sie haben gut recherchiert, und damit wird Ihr Beitrag plausibel. Abseits der theoretischen Debatte der "Denker", mag ich Ihnen ganz praktisch den grundsätzlichen Unterschied zwischen heidnischer Haltung und christlich-morgenländischer Importware für die Debatte aufzeigen.

Das hilft vielleicht der Klarheit im Denken.

Beide Kulturen arbeiten mit spiritueller Wahrnehmung. Im Heidentum wird spirituelle Wahrnehmung nur dann allgemein gültig, wenn auch alle! die tatsächlichen, meist kosmischen Ereignisse auch wahrnehmen können, wie zB die gefährliche Bewegung der Midgard-Schlange (die Eisgrenze entlang des Helwegs). Ansonsten bleibt spirituelle Wahrnehmung auch bei Tolkien immer persönlich, individuell, gerade wenn Gedichte in Elbisch "vorgetragen" werden.

Spirituelle Wahrnehmungen aus dem christlich-jüdischen Morgenland werden grundsätzlich zum Gesetz für alle, und wehe dem, der nicht glaubt und befolgt.

Hier ein Mormonen-Video (02:51) zur Speisung der 5.000. https://youtu.be/wdI11BLt2JM

nach Matthäus.

Die Jesus-Tschekisten hatten die Nahrungsmittel natürlich geklaut, wie man gut im ARTE France Video in Herrn Schicks Beitrag exemplarisch sehen kann. Wäre dem nicht so, hätten wir längst (Erd-weit) das Arbeiten einstellen können.

Und Sie haben ganz Recht, Rabenfeder. Ich verorte Barad-Dûr in Jerusalem und Dol Guldur im ehemaligen Sowjet-Moskau, Sauron ist Jehova. Tolkien hätte mir ganz sicher nicht zugestimmt, zumindest nicht öffentlich.

Nemesis

16. Februar 2020 21:56

@zeitschnur
...ist die Innenseite des Menschen, der Sprache, der grundsätzlich verborgene Raum des Herzens, der alleine die Transzendenz-erfahrung ermöglicht. Rituale, schöne Zeremonien, viel Pathos und Ehrgefühl - all das liegt im Äußerlichen und kann nichts Innerliches schaffen.

1. Wenn es so ist wie Sie sagen, daß alles was im Äußerlichen liegt, nichts Innerliches schaffen kann, weshalb existiert dann z.B. Kunst? Weshalb sind Sie dann Künstlerin? Es wäre dann doch völlig sinnlos ein Werk zu schaffen, wenn es nichts Inneres zu schaffen vermag. In diesem Fall würde es dann ja nur etwas rein Äußerliches darstellen. Was ist dann der Sinn von Kunst?

2. Wenn Transzendenzerfahrung etwas rein Innerliches ist, und ich würde dem zustimmen, wie erklären Sie dann Religionen, die ja in erster Instanz ausschließlich immer eine rein äußerliche Zuordnung sind. Sie könnten als Christin ja keinerlei Kenntnis von Ihrer Auffassung als Christin bekommen, wenn diese Ihnen nicht von außen (z.B. über heilige Schriften oder mindestens über Erzählungen etc.) zugänglich gemacht worden wären.
Anders ausgedrückt: Sie können zwar eine Transzendenzerfahrung machen, aber Sie wären überhaupt nicht in der Lage, diese einem bestimmten religiösen System zuordnen zu können, weil Sie dafür kein Ausdrucksmöglichkeit besäßen. Sie wüßten nicht, daß Sie Christin sind. Erst durch das Äußerliche erfahren Sie ja, daß Sie (jedenfalls in Ihrem Fall) Christin sind (oder sein wollen). Da diese Überlegung aber für alle religiösen Systeme gilt, stellt sich doch die Frage: Kann es so etwas wie ein „richtiges“ System überhaupt geben (denn dieses hängt ja dann, wie ich oben gezeigt habe, von äußerlichen Faktoren ab).

Wenn das so ist:
Was also ist dann das Transzendente?
Müßte es dann nicht etwas sein, was über den Religionen steht?
Was aber sind dann Religionen?

Maiordomus

16. Februar 2020 21:57

Hebels "Kannitverstan" als Kritik an ideologischem Wahn

@Gracchus. Ihre Ergänzung zu Marquard scheint mir Spitze, das hätte wohl Erik Lehnert nicht besser machen können. Sie bringen die Sache in Kürze auf den Punkt.

Der Hinweis auf Hebel und den im gleichen Atemzug genannten Kleist war daktisch gemeint, weil ich bei einigen Mitforisten das Ächzen über die Lesbarkeit und das Lesenmüssen der sog. rechten Klassiker förmlich aus ihren Kommentaren herausgehört habe.

Zumindest was die Theorie der Geschichte betrifft, scheint es mir nicht zwingend, dass man Hegel und damit Marx-Engels, Schelling, Fichte, Nietzsche, Heidegger usw. kennen muss, wobei von Nietzsche der Aufsatz "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" relevant bleibt. Wer wie Nietzsche "Epochen ausruft", bemüht sich nicht um reales Verständnis von Geschichte. Die metaphysischen Geschichtstheorien ab Hegel sind mühsam zu verstehen, weswegen man sich klug vorkommt, wenn man sie endlich durchgearbeitet hat. Diejenigen, die sie wie Marquard durchgearbeitet haben, erbrachten den Beweis, dass diese philosophischen Empires von Kaisern ohne Kleider regiert werden. Es handelt sich um Theorien von bestenfalls der Qualität des älteren astronomischen Weltbildes, welches heute Astrologinnen und Astrologen für Beratungszwecke dient. Auch für Hegel, Marx, Engels, Comte, Spengler lag ein analoger Beratungszweck vor. Ein Hebelsches "Merke" sozusagen. Berüchtigtes Beispiel ist der Schluss von Spenglers Hauptwerk "Untergang des Abendlandes", welches ab 1919 in 5 Jahren 43 Auflagen erlebte. Die Morphologie der Weltgeschichte nach dem Weltkrieg als Trost in der Niederlage. Der lateinische Schluss-Satz bei Spengler:

FATA DUCUNT VOLENTEM NOLENTEM TRAHUNT
(Das Schicksal geleitet den Willigen, den Unwilligen zieht es hinten nach.)

Für Karl Popper, "Das Elend des Historizismus" dienen und dienten alle Geschichtstheorien ideologischen Legitimationszwecken. Das war schon vor der Aufklärung so, hat sich nun aber gemäss Popper sogar noch verschlimmert. Die Prophetie der Druiden, Priester und Astrologen (von denen Kepler der am wenigsten dumme war) wurde nun durch den Total-Schwachsinn "wissenschaftlicher" Voraussagen ersetzt. Die praktische Bedeutung dieser Voraussagen wird gemäss Popper bei Oswald Spenglers am klarsten auf den Punkt gebracht, siehe oben das lateinische Zitat. Für Popper ist es wie folgt gemeint: "Hilf das herbeiführen, was ohnehin kommt." Für Marx und Engels waren der Kapitalismus vorbei, für Spengler die liberale Demokratie, wobei er, wie Marx und Engels, dies und jenes richtig vorausgesagt hat, zum Beispiel, bei Spengler, die geopolitische Führungsrolle der USA und Russlands im 20. Jahrhundert. Diese ergab sich jedoch keineswegs von selbst aus der "Morphologie der Weltgeschichte", so wenig wie eine halbwegs vernünftige Astrologie, zum Beispiel diejenige von Johannes Kepler, mit Prophetie verwechselt werden sollte.

Der von Popper so genannte Historizismus der pseudowissenschaftlichen Geschichtstheorien begründete einen neuen, ultrasektiererischen Fundamentalismus auf der Basis absurder, als Dialektik verkaufter Antilogik, etwa bei der Erklärung der Fortpflanzung des Huhns mit dem Satz: "Das Huhn ist die Negation des Eis", immerhin gemäss Walther Theimer ("Der Marxismus") einer der Fundamentalsätze des Dialektischen Materialismus als Grundlage des Wissenschaftlichen Sozialismus. Auf diesem dialektischen Niveau begründeten Marx, Engels und ihre Interpreten ausserdem ihre Geschichtsgesetze, bis hin zum "gesetzmässigen Sieg des Sozialismus über den Kapitalismus" und dergleichen. In diesem Sinn waren nun die genannten Ideologiebegründer Geschichtserzähler, wobei diese Idiotien heute als "Narrativ" ihre neuen Urstände feiern. Von einem wissenschaftlichen Fortschritt im Vergleich zum 12. Jahrhundert, als in Paris zumindest der Nominalismus erfunden wurde, kann zumindest bei der Produktion solcher Theorien im Ernst nicht die Rede sein. Der Historizismus war und blieb einer der grössten Rückfälle hinter die Aufklärung, eröffnete die Epoche der wahnhaften Geschichtsbilder, bei welchen natürlich ein Alfred Rosenberg nicht hintan bleiben wollte. Die Diktatur der Suggestion!

@Gracchus. Weil es nun mal mit den grossen Erzählungen von der Weltgeschichte jenseits der Betrugsabsichten nichts ist, muss man sich fragen, was eine "lehrreiche" Erzählung denn überhaupt leisten kann. Dies sieht man exemplarisch bei den Erzählungen von Johann Peter Hebel, Heinrich von Kleist und natürlich schön bei den Märchen der Brüder Grimm, etwa "Das eigensinnige Kind". Dass einem ein Kind stirbt, wirklich traurig, ist erklärungsbedürftig, und also muss es so erklärt werden, dass es ins Weltbild der Betroffenen passt. Das Kind wurde mit dem Willen Gottes krank, weil es "nicht tat, wie die Mutter wollte", so dass es nun mal auf den Friedhof musste. Da aber Strafe sein muss, vergleiche die neuere deutsche Geschichte, hielt das Kind regelmässig sein Ärmchen aus dem Grab bis endlich die Mutter mit der Rute kam und die nötigen Streiche verabreichte. Dann kehrten für das Kind, die Mutter, die auf Konsensobjektivität beruhend Gesellschaft Ruhe und Frieden ein. Womit die Geschichte fertig ist und endlich wieder zur Tagesordnung übergegangen werden kann. Diese Geschichte ist in sich sinnvoll, und so tröstet man sich mit Geschichten. Eine Morphologie der Weltgeschichte oder eine Theorie des gesetzmässigen Fortschrittes oder ein Geschichtsgesetz nach Marx und Engels sind eigentlich nicht nötig, um zu erklären, dass nun mal alles kommt, wie es kommt.

Im Vergleich zum Märchen "Das eigensinnige Kind", wohl noch passend als Beispiel für die Religionskritik von Ludwig Feuerbach, ist nun aber Johann Peter Hebels "Kannitverstan" das bis heute transparenteste Beispiel für eine Welterklärung in einer komplizierten, vom Kapitalismus und der Globalisierung beherrschten Welt. Ein Otto Normalverbraucher aus Tuttlingen, des Niederländischen nicht mächtig, kommt nach Amsterdam, ein damaliges Zentrum des Welthandels. Am Hafen sieht er Schiffe und Waren, und er fragt schwäbelnd einen von dort, wem dies alles gehöre: "Kannitverstan" lautet die Antwort. Dann kommt er an einem grossen palastähnlichen Haus vorbei, ähnlich wie bei Chamissos Schlemihl der Protagonist an den im Bau befindlichen Palast des Milliardärs John. Und wiederum will der Tuttlinger wissen, wem dies denn gehöre. "Kannitverstan" lautet die "Information". Er realisiert nun, was für ein reicher Mann dieser Herr Kannitverstan sein muss. Kurze Zeit später passiert er einen langen vornehmen Leichenzug. Wer ist denn da wohl verstorben? Antwort: "Kannitverstan". Tröstliche Bilanz: auch reiche Leute müssen sterben, und zu Hause hat er was zu Erzählen, von den Schiffen, dem Haus und dem Sterben und Beerrdigtwerden des grossen Herrn Kannitverstan.

Merke (diesmal nicht von Hebel): Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Schiffe und das Prachtshaus einem Herrn namens Kannitverstan gehören, aber nun mal nicht erwiesen und kolossal unwahrscheinlich. Ausser für den Tuttlinger, der sich selber tröstet.

Die Erzählung ist aber, für den Zuhörer, von enormem Aufklärungswert: genau so erklärt die ideologische Betrachtungsweise jeweils die Welt. Sie konstruiert einen Zusammenhang, der nicht besteht, der aber trotzdem, zum Beispiel für den heutigen Medienkonsumenten, zweifelsfrei aufgeht. Nach diesen Prinzipien, nur freilich nicht ganz widerspruchsfrei, versuchten gemäss dem Pariser "Weissbuch" 1934 die deutschen Rundfunksender den sog. "Röhmputsch" und die damit verbundenen Erschiessungen zu erklären. Im Ausland wurde dies etwa so ernst genommen wie Hebels holländische Leser (er hatte welche) die Geschichte vom Herrn Kannitverstan für bare Münze nehmen konnten.

Weiterführende Aufgabe: Erzähle eine zeitgenössische zusammenhängende Geschichte aus Thüringen, in der, anstelle von Kannitverstan, dreimal das Wort "Faschist" vorkommt! Wer die glaubwürdigste Version hinkriegt, wird stellvertretender Ostbeauftragter der Bundesregierung.

Im Unterschied zu einer Gesamtdarstellung der Weltgeschichte, welche auf "Geschichtsgesetze" zurückgeführt wird, ist die Geschichte von Hebel einfach. Sie erklärt nicht die ganze Welt, sondern lässt diese in ihrer unverständlichen Komplexität dem schlichten Tuttlinger vor Augen führen. Dieser findet mit dem "Herrn Kannitverstan" den Schlüssel zur Geschichte. Dass dieser Schlüssel aber ausserhalb des Gehirns des Tuttlingers nichts öffnet, wissen alle, nur er selber nicht. Die Welterklärung blockiert in ihrer vermeintlichen Vollständigkeit jede Möglichkeit, sich den Tatsachen stellen können. So funktionieren Ideologien, Verschwörungstheorien, vielfach die Propaganda von Regierungen und Medien, inbegriffen die öffentlichrechtlichen.

AndreasausE

17. Februar 2020 00:17

Ich danke sehr, daß meine Einlassung hier veröffentlicht wurde und Widerhall fand.

Zu Tolkien bzw. Herr der Ringe, könnte ich mich endlos auslasen - ich mag es schlicht nicht, es ist mir quasi von erster Zeile, nämlich was man mir zum Anfixen gab, "Der kleine Hobbit", an, zuwider gewesen.
Dieser bräsige, feiste Gutmensch in seiner Guthobbitwelt.
Der dann ausgeguckt wurde, das Böse zu besiegen - meiomei, das mag seinerzeit unerhört gewesen sein in der populären Literatur, ich kannte das zuvor aus Cowboyfilmen, "wir" gegen die "Wilden" oder auch schlicht aus der Bibel, Kain und Abel, das mal abstrakt gedacht. Nur daß da dann kein Superheld draus wurde, der eine war dann ja tot, sein Geschäft besorgte dann ganze Sippschaft, ehe in Sintflut ersoffen.

(Einschub: Eine völlig schwachsinnige Geschichtsschreibung, das nur nebenbei bemerkt - warum treibt der "Herr" den Kain erst in andere Länder (wer war da seine Frau?) um sich nachher zu beschweren, daß da von Leuten mit Hirn in Birne Turm gebaut wurde und dann Sprachverwirrung zu wirken, die wegen Entzweigung doch eh kommen mußte, kennt man von jedem Gebirgstal, jeder Hallig, Dialekte - was für ein Scheißgott, da muß man wirklich obermetaphysisch denken können, oder schlicht vollbekloppt sein, solchen Kram zu glauben.)

Ach, egal, ich hab nun vergessen, was ich eigentlich schreiben wollte, hab hoffentlich nicht allzusehr gelangweilt.

AndreasausE

17. Februar 2020 00:36

Phil 16. Februar 2020 11:52

"Warum Fantasy lesen?"

Darauf immerhin vermag ich eine Antwort zu geben: Weil "Fantasy" schlicht und ergreifend eigene Phantasie anregen kann. Dabei ist es völlig egal, ob man nun Klassiker liest (Bibel, Homer, Edda, Märchen) oder neueres Zeug.

Entscheidend ist, daß das Hirn die Schwelle zur Ander(s)welt überschreitet, wie es Esoteriker ausdrücken würden.
Quasi bislang nie Gedachtes selbst zu denken wagen - und im Idealfall das dann noch zu Papier bringen oder wenigstens zu erzählen, denn ohne Widerhall ist alles Nichts, alte Weisheit.

Mit Eskapismus (was für ein negatives, mißbilligendes Wort) hat derlei rein gar nichts zu tun, ganz im Gegenteil.

...
Nur "Herr der Ringe" finde ich schlicht schixx, das vermag ich mir nicht zu verkneifen.

Maiordomus

17. Februar 2020 09:45

@Maiordomus, letzte Wortmeldung: Der Hinweis auf Hebel und Kleist war natürlich d i d a k t i s c h gemeint.

zeitschnur

17. Februar 2020 10:11

@ Laurenz

Es ist wirklich hoffnungslos, wie Sie aufgrund einer mangenden literarischen Bildung eine Gestalt, die in vier Evangelien (und außerkanonischen weiteren Texten) gezeichnet wird, mit einer historischen Gestalt ins eins werfen.
Es ist intellektuell nicht mehr nur mäßig, diese Plattitüde ständig wiederzukäumen - wie wär's mit einer Innenrevision Ihres traurigen Herzens?

Eine theologische Debatte über Ihre Jesus-Zitate führe ich mit Ihnen nicht. Aber vielleicht schlagen Sie mal vorerst im Lexikon nach, was
a. Gleichnisse
b. Metaphern
c. Satiren
d. Parabeln

sind, denn dieser Techniken hat sich der dargestellte Jesus häufig bedient, und das ist eindeutig und zweifelsfrei für jeden kompetenten Geisteswissenschaftler.

Ihre persönlichen Anwürfe gegen meine Person lasse ich unbeantwortet - das ist nicht satisfaktionsfähig und kein Kampf auf Augenhöhe, sondern peinlich, und Sie sollten sich mal überlegen, welchen Schaden Sie damit der von Ihnen geliebten rechten Szene damit zufügen: Sie bestätigen damit doch genau das Bild, das man von dieser Szene hat. Oder ist das Absicht?!

zeitschnur

17. Februar 2020 10:47

@ Nemesis

ad 1:
Inneres will sich im Äußeren manifestieren, das Innere ist gewissermaßen "zeitlos", transzendent, das Äußere zeitlich. Beides gehört zusammen.
Aber die Richtung ist immer die von Innen nach Außen, umgekehrt geht es nicht!
Wenn also einer, zB ein Künstler oder ein Religioser aus dem Innen heraus Manifestationen im Zeitlichen schafft, ist das tatsächlich kulturstiftend. Gedächtniskulturen basieren mE nicht darauf, dass durch das Festhalten der Manifestationen auch das Innere festgehalten wird. Es ist etwas anderes, ob ich Ausdruck gebe oder ob ich etwas "festhalte", aber keinen Ausdruck mehr davon geben kann. Man sagte daher immer zurecht, dass Kunst zweckfrei sei.

ad 2.
Natürlich findet der, der noch keinen Zugang zum Inneren einer Sache hat, nur die Manifestation im Äußeren vor. Die eigentliche Erkenntnis über das Innere ermöglicht sie aber nicht. Wir finden dafür zahlreiche Beispiele in der Schrift, zB die Geschichte in Apg 8 vom "Kämmerer aus Äthiopien", der nach Jerusalem gereist war, als Wallfahrt zu innerer Einkehr, und unverrichteter Dinge heimfährt: in all der zeitlichen Manifestation des Gottesglaubens hat er nichts gefunden. Ja, er sitzt sogar lesend mit einer Jesajarolle auf seiner Kutsche und versteht nichts, obwohl er die Worte zu lesen weiß.
Das krassere Beispiel ist für mich noch dies, wo Jesus zu den Jüngern folgendes sagt:
"13 Darum rede ich zu ihnen durch Gleichnisse. Denn mit sehenden Augen sehen sie nicht, und mit hörenden Ohren hören sie nicht; denn sie verstehen es nicht. 14 Und über ihnen wird die Weissagung Jesaja's erfüllt, die da sagt: "Mit den Ohren werdet ihr hören, und werdet es nicht verstehen; und mit sehenden Augen werdet ihr sehen, und werdet es nicht verstehen.…" (Mt 13f)

Das Innere kann nur in der Transzendenzerfahrung erkannt werden.
Und die zeitliche Manifestation ist vor allem dem wertvoll, der bereits selbst die dazugehörige Innere Seite erkannt hat.
Aber durch die äußere Manifestation selbst wird er keinen Zugang zur Inneren Seite herstellen können. Das Innere muss ihn einladen, und das ist unabsehbar und nicht "machbar", er muss es begreifen und sein Tor dafür öffnen. Kulturen leben davon, dass das lebendig geschieht. Ist aber einmal der Bestand an Teilhabern derart dezimiert, wie es auch bei uns der Fall ist, sollte man keine falschen Hoffnungen mehr hegen. Die letzten beiden Generationen sind dazu erzogen worden, ihr Herz, dieses Tor zu verschließen, sie sind dazu manipuliert worden. Man hält sie im Äußeren förmlich fest und verhöhnt das Innere, wie gesagt: seit mindestens 2 Generationen.

Laurenz

17. Februar 2020 11:18

@AndreasausE ... was den Hobbit angeht, so ist er ja auch ursprünglich für Kinder geschrieben worden. Eltern können sich ja überlegen, ob sie im heutigen Zeitgeist "Der Hobbit" ihren Kindern vorlesen würden. Die Wunderwaffen - oder Wunderkräfte-Mythen sind ja nichts Neues. Karl May, die Bibel, nutzte das und Astrid Lindgren inhalierte dieselbe Erzähl-Mechanik, ebenso wie heute Joanne Rowling. Ob Kinder sich tatsächlich Wunderkräfte wünschen, daran erinnere ich mich nur bedingt und könnte dem aber zustimmen.
AndreasausE, erinnern Sie Sich doch selbst an Ihre Kindheit und berichten Sie. Das Bewußtsein in die eigene Vergangenheit zu beamen, ist doch recht einfach, weiter, darüber hinaus, oder in die Zukunft, immer schwerer. Auf jeden Fall hilft es, den Standpunkt zu verändern, was im wörtlichen Sinne dem Verständnis dient.

Tolkien-Werke sind bevorzugt auf deutsch zu lesen, Tolkien hatte selbst deutsche Vorfahren aus dem heutigen Niedersachsen und beschwerte sich desöfteren über das profane Englisch. Er wirkte selbst bei der Übersetzung ins Deutsche mit und schwärmte von der detaillierten deutschen Ausdrucksstärke, gab selbst dem "Auenland" gegenüber "The Shire" den Vorzug und freute sich, zwischen Elben und Elfen unterscheiden zu können, während das Englische nur, fälschlich verallgemeinernd, "Elves" anbietet. Das mag daran liegen, daß Britannien (für das ur-zeitliche Amerika/Australien) als Auswanderungsland steht. Es wandern vor allem 2. und 3. Geborene irgendwohin aus, die sozial Schwachen und weniger Gebildeten mit einer weniger entwickelten einfacheren Sprache.

Der "Herr der Ringe" ist nicht durchweg, aber doch mehr für das Erwachsenen-Ich (Transaktions-Analyse) geschrieben. Warum Sie und auch all die linken Phantasy-Anhänger den "Herr der Ringe" lieben, ist die legitime Möglichkeit die eigene Identität erfolgreich im Rassenkampf, heute würde man sagen, Kulturkampf, leben zu dürfen, natürlich unbewußt. Rassenkampf trifft es aber exakter. Der Fakt ist hier, es gibt keine schwarzen Quoten-Elben, wie im deutschen TV. Orks sind einstige Elben, die vom dunklen Herrscher gefoltert und mutiert wurden.

Die linke "Seele"nlosigkeit wird nach außen gekehrt, sichtbar gemacht.

Und Mordor liegt in unserer Welt dort, wo die abrahamitischen Religionen herkommen. Schwarze und braune Menschen, die Verbündeten des Dunklen Herrschers, kommen, wie bei uns auch, weiter aus dem Süden. Glauben Sie tatsächlich, der Alt68er Leser identifiziert sich selbst mit Orks, Trollen oder Südländern? Nein, er identifiziert sich mit Menschen aus Gondor und oder den blonden Reitern aus Rohan (Wanen und Asen), und wünscht sich die Unsterblichkeit der "edlen" Elben. (Karl May https://www.karl-may-gesellschaft.de/kmg/seklit/JbKMG/2000/94.htm ... Empor ins Reich der Edelmenschen)

Die Naivität der Hobbits, auch die der Elben, drückt sich am besten mit dem deutschen Wort "Arglosigkeit" aus, und "Blondheit" gewinnt schon bei Tacitus seine Doppel-Bedeutung, was sich heute in den selten blöden Blondinen-Witzen artikulierte. Die Arglosigkeit hat den Nachteil im Zusammentreffen mit anders-wertigen Kulturen, vor allem heute bei den Grünen anzutreffen. Der Vorteil der blonden Arglosigkeit liegt in der verbesserten spirituell-kosmischen Wahrnehmung. Keine denkende rationale Hemmung schränkt diese ein.

links ist wo der daumen rechts ist

18. Februar 2020 00:47

@ RMH

Zitat:
„Wenn Sie Fantasy mehr im welschen, angelsächsischen verorten und dabei auch Science Fiction mal eben mit rein mischen, dann haben Sie offenbar noch nichts bis nur wenig aus der Zeit um Achtzehnhundert bis ins 19. Jhdt. hinein aus Deutschland gelesen.“

Allein diese Unterstellung im Doppelpack halte ich schon für schwer erträglich (sind sie etwa beim @ Umstandsmeier in die Schule gegangen?).
Ich habe nichts „eben mal mit rein gemischt“, sondern die Übergänge zwischen SF, Fantasy und auch Gothic/Horror waren v.a. in ihren Anfängen sehr fließend.
Die an sich verdienstvolle Reihe „Phantastische Bibliothek“ des Suhrkamp Verlages
https://de.wikipedia.org/wiki/Phantastische_Bibliothek_(Suhrkamp)
legt beredt davon Zeugnis ab (Herausgegeben von Franz Rottensteiner, der noch bis vor wenigen Jahren regelmäßig in einem meiner Lieblingsantiquariate anzutreffen war).
Ich kann wie gesagt mit dem Genre SF + Fantasy relativ wenig anfangen, nenne aber aus der genannten Reihe als Perle Algernon Blackwood, und hier v.a. seine Meistererzählung „Die Weiden“ (in einer gelungenen Übersetzung von Friedrich Polakovics, Kollege von Jandl und Artmann, dessen Buch über seine Erlebnisse als Wehrmachtssoldat während der Landung der Alliierten ein weiterer Geheimtipp ist) ; danach vergessen Sie alles, was Sie bis Stephen King und darüber hinaus gelesen haben.
Inwieweit die deutsche Literatur bei all dem irgendeine „Vorarbeit“ geleistet hat, ist sekundär, da sich die deutsche Thematik in eine andere Richtung entwickelte; der geistig-philosophische Horizont ist ein ganz anderer.

Empfehle Ihnen dazu als unerläßlichen Überblick, da Sie „offenbar noch nichts oder sehr wenig aus der Zeit um 1800 bis ins 19. Jhdt. hinein aus Deutschland gelesen“ haben, die einschlägigen Arbeiten Manfred Franks:

Das kalte Herz. Texte der Romantik. Insel, Frankfurt 1978
Die unendliche Fahrt. Ein Motiv und sein Text, Suhrkamp, Frankfurt 1979
Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, I. Teil, Suhrkamp, Frankfurt 1982
Gott im Exil. Vorlesungen über die neue Mythologie, II. Teil, Suhrkamp, Frankfurt, 1988
Kaltes Herz, Unendliche Fahrt, Neue Mythologie. Motiv-Untersuchungen zur Pathogenese der Moderne, Frankfurt 1989

Das leitet auch gleich zu meiner Hauptfrage über:
Warum ist besonders im englischen und französischen Sprachraum das Genre SF/Fantasy so ausgeprägt, während man hierzulande einen Hans Dominik oder Kurd Laßwitz (zurecht?) kaum noch kennt.
Meine starke These: Während Deutschland im 19. Jahrhundert noch mit seiner Nationswerdung zu kämpfen hatte und den Begriff „Reich“ (via „Neue Mythologie“ etc. – s.o.) weiter transzendierte, hatten die fertigen Nationen Großbritannien und Frankreich genug „überschüssige“ Muße, ihre imperialen Programme in die Zukunft oder in eine verklärte Vergangenheit zu projizieren.
Wie sich dann die alten Nationen England und Frankreich mit der jungen Nation USA ins Gehege kamen, können Sie z.B. in Villiers‘ „Eva der Zukunft“ nicht ohne Situationskomik nachlesen; salopp formuliert eine Mischung aus Jules Verne, Oscar Wilde und der Biographie Edisons.

Falls Ihnen diese Thesen nicht behagen oder die o.a. Lektürevorschläge Sie geistig überfordern, lesen Sie einfach – ich weise in meiner Fischpredigt gerne wieder einmal darauf hin – Friedrich Meineckes „Weltbürgertum und Nationalstaat“ und gleich anschließend Sieferles „Konservative Revolution“ – eben nicht als Einführung in die KR, sondern als Beinah-Apologie der „Ideen von 1914“; dann werden Sie erkennen, daß es sich bei Letzteren um ein mehr als 100jähriges Erbe handelt, das in vollkommenem Kontrast steht zu allem was England und Frankreich in den beiden genannten Genres zurechtgestutzt haben.

Ich befürchte nur, unser @ Umstandsmeier wird auch das wieder - wie schon in Sachen Hebel, Kleist und Sebald – in geraumer Zeit als seine ureigenste Erkenntnis verwursten.

links ist wo der daumen rechts ist

18. Februar 2020 01:19

@ Umstandsmeier /Hebel - Kleist - Sebald

Ich weiß nicht, wie oft Sie in diesem Kommentarstrang mit der Hebel-Kleist-These hausieren gegangen sind.
Ich habe dazu schon vor Monaten das Wesentliche – und v.a. wesentlich kürzer – gesagt.
Warum Sie glauben, das jetzt mit Vehemenz als Ihre These ausgeben zu müssen, wird Ihr Geheimnis bleiben; redlich ist es nicht.

Deshalb noch einmal in Kurzform:
Bei Hebel und Kleist handelt sich um die zwei Gegensatzpole der Beschreibung historischer Erfahrung. Gemeinsamer Ausgangspunkt (beide haben ja als Zeitschriftenbeiträger gearbeitet) sind jeweilige „unerhörte Begebenheiten“. Während bei Hebel die „lange Dauer“ die Sichtweise bestimmt, explodiert bei Kleist förmlich der Text. Ersteres hat Hannelore Schlaffer im Nachwort der für mich immer noch schönsten bibliophilen Ausgabe des „Schatzkästleins“ (Athenäum 1980) gezeigt, Zweiteres etwa Gerhard Neumann für „Die heilige Cäcilie…“ und der geniale Werner Hamacher für „Das Erdbeben in Chili“.
Konkret: Die Geschichte vom Zundelfrieder aus Hebels „Kalendergeschichten“ führt in einem weiteren Aufsatz Hamachers zur Feststellung, daß wir vor jeder Übersetzung in eine andere Sprache zuallererst der Übersetzungswiderstände innerhalb einer Sprache gewahr werden müssen (ein weiteres Beispiel für ihn die Übertragung des „Armen Heinrich“ von Rudolf Borchardt), während Kleist aus einer derart harmlosen Geschichte vermutlich einen zweiten „Kohlhaas“ entworfen hätte.

Eine dritte Position übrigens nimmt das posthume Werk „Nemesis Divina“ Carl von Linnés ein; damit ist das Feld von Recht/Unrecht, Vergeltung/Willkür und Theodizee/Gnade abgesteckt.

Sebald übrigens, dessen Werk Sie ungerechtfertigterweise als „Schreibe“ abqualifizieren, lotet genau diese Pole aus, weswegen auch z.B. das Wiedergängertum, der Zwischenbereich tot-lebendig oder die Frage, inwieweit ein Text in fast beängstigendem Maße über sich hinausweisen kann, eine große Rolle spielen (dazu immer noch am erhellendsten seine erste große Prosaarbeit „Schwindel. Gefühle“).

Zur Einführung empfehle ich den Interviewband:
Torsten Hoffmann (Hg.): »Auf ungeheuer dünnem Eis«. Gespräche 1971 bis 2001. Fischer-Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 2011

Und: Fernab von Fragen nach Kanonisierbarkeiten – von Sebald kann man schlicht und einfach ALLES lesen; auch und besonders die sträflich vernachlässigten zwei Bände zur österr. Literatur.

Grobmotoriker

18. Februar 2020 06:31

@Nemesis 16. Februar 2020 21:56

Was also ist dann das Transzendente?
Müßte es dann nicht etwas sein, was über den Religionen steht?
Was aber sind dann Religionen?
---
Das Transzendente ist m.E. für die einen die Antwort bzw. für die anderen der Versuch einer Antwort auf die ewige Frage des Menschen: Das, hier, soll also a l l e s gewesen sein?! Ohne die Transzendenz würde die menschliche Existenz doch absolut keinen Sinn ergeben. Wozu dann alles Schuften, alles Anhäufen, alles Lieben und Hassen? Die rein materielle Existenz liefert gar keine Legitimation ihrer Selbst.

Religionen sind das Geschäft mit der Transzendenz; dort wird Gott zu einer Ware, mit der man seinen Dollar macht. Irgendwie muss man „Gott“ ja verkaufen – oder haben Sie eine bessere Idee, als eine Religion zu gründen und zu betreiben? Man nehme Angst und bietet eine potenzielle Belohnung in der Zukunft; man fordere Verzicht und bietet Elitezugehörigkeit; auch drohendes Unheil für die Ungläubigen und einiges mehr sind dafür notwendig. Man mische diese und noch weitere Zutaten, rühre diese kräftig um – und fertig ist eine Religion. Das Businessmodel „Religion“ wird ja gerade bei Klima-Greta neu aufgerollt. Man kann da der Geburt einer Religion in Echtzeit beiwohnen.
Und das alles sage ich als tief Gläubiger - allerdings religionsloser Mensch.

Maiordomus

18. Februar 2020 13:13

@links. Sie haben völlig recht. Gestand ja selber ein, dass das persönliche Kennenlernen von Sebald vor genau 20 Jahren mich veranlasste, diesen zu unterschätzen. Ich behaupte am wenigsten, die Bedeutung Hebels als Ideologiekritiker und als einen der besten und lehrreichsten deutschen Schriftsteller irgendwie entdeckt zu haben. Dies hat mein Doktorvater, selber Hebelpreisträger, auch schon ähnlich gut geschafft wie Sie. Echte Forschungsergebnisse sollte man ohnehin nicht in einem Foristenblog der deutschen Rechten publizieren.

Wollte aber darauf verweisen, dass Hebel wie wenige in den von Kubitschek und Kaiser vorgeschlagenen Kanon gehöre, wie natürlich noch die grossen Russen. Und falls Sie alles schon viel besser gesagt haben, umso besser, wäre gut, Sie könnten noch auf jenen Strang, der mir nicht mehr im Gedächtnis ist, auch für andere verweisen, damit man Ihre Version auch noch in Ruhe zur Vertiefung nachlesen kann. Und mit Ihren Bemerkungen zu Kleist, die wertvoll sind, schlagen Sie bei mir offene Türen zu Kleinholz.

Das Beste, was ich von Ihnen gelesen habe, ist aber der Satz: "Und das alles sage ich als tief Gläubiger - allerdings religionsloser Mensch." Sind Sie sich bewusst, dass Sie damit das vielbändige Hauptwerk "Kirchliche Dogmatik" von Karl Barth in einem Satz zusammengefasst und auf jeden Fall grundsätzlich verstanden haben, wiewohl Barth politisch links tickte. Aber als verständiger Leser von Carl Schmitt mit Recht und mit den intelligentesten Argumenten ein Gegner jeglicher "politischer" Theologie war. Womit für eine Dorothea Sölle und Bedford-Strohm gelten müsste: Zurück auf Feld 1!

Ja, es stimmt, W.G. Sebald ist ein viel bedeutender Schriftsteller als ich dachte. Er war aber selber schuld, dass ich ihn damals nicht für voll nahm. Vor seiner Lesung in Zürich legte er ein Totalbekenntnis zur politischen Korrektheit ab. Von denen, die hier schreiben, hätten wohl noch andere als ich deswegen "Schluckbeschwerden" bekommen.

"Kannitverstan" ist und bleibt so bedeutend wie jedes, aber auch wirklich jedes Werk zum Beispiel von Franz Kafka, genau so wie dessen Lieblingserzählung von Kleist, "Die Anekdote aus dem letzten preussischen Kriege". Auf solche Sachen hier aufmerksam zu machen, wenn immerhin verdienstvoll - dank Kubitschek - über das Thema "Kanon" diskutiert wird, scheint mir kein Luxus zu sein. "Kannitverstan" ersetzt wohl an Informationswert ein Jahr Deutsches Fernsehen und mehr, will man das ideologische Problem des Staatsfernsehens in seiner Tiefenstruktur halbwegs verstehen. Falls Sie mit Ihrem @Daumen das auch schon längst erfasst haben, beglückwünsche ich Sie dafür. Also ehrlichen Dank.

zeitschnur

18. Februar 2020 13:34

Fantasy ist kein Eskapismus! All diese Fantasyliteratur, alle "Zukunftsromane" und SciFi bilden aus der empirisch erfahrenen Welt eine Art Trash-Version, die sich wunderweiß wie originell vorkommt, fast zwanghaft "Schöpfer" spielt, aber eigentlich nur aus dieser empirisch erfahrbaren Realität eine Art unglaubwürdiges Tranny-Leben surrogiert.
Unsterblich langweilig daher für jeden, der das Gefühl für das Mysterium der Realität noch nicht verloren hat, das tief im Inneren, in einem inwendigen "Jenseits" liegt.
Es spricht ganz für sich, dass hier manche Literatur, die das Transzendente integriert (und das ist überhaupt erst der Beginn echter Kunst) von solchem Fantasy-Trash nicht unterscheiden können. Dieser Trash kommt über äußere Hüllen der Dinge ja nie hinaus und peppt sie dann auch noch pseudotranszendent auf.
Im Transzendenten geht aber nicht einfach nur das äußerlich Manifestierte "nach innen" weiter, eine endlose Fortsetzung materialisierter Welten.
Das Innen ist so wenig zum Außen berechenbar wie eine Körperhälfte zur anderen: es scheint symmetrisch, aber wer genau hinsieht, wird irre daran, dass das gar nicht zusammenstimmt, aber dennoch unbestreitbar als ein Ganzes wahrgenommen wird und gewiss auch ein Ganzes IST.
Die Tragik der modernen und erst postmodernen Mentalität ist, dass sie das Verständnis dafür nahezu vollständig verloren hat und damit die Aussicht auf eine ewige Seligkeit.

Laurenz

18. Februar 2020 17:06

@Grobmotoriker .... Das, was Sie bemängeln, geht nicht nur mit der politischen -, sondern auch der spirituellen Einengung des "Meinungs- oder Haltungs-Korridors" einher.
Debatten innerhalb des Abrahamitismus, Marxismus und Atheismus sind Schein-Debatten.
Sie basieren ausnahmslos rein auf Kopf-gesteuerten Glaubensmodellen. Auf den Prozessionen trägt man entweder Kreuze oder Revolutionshelden-Ikonen, Bundesladen, einstmals Hakenkreuze, den Skimitar Mohammeds (Halbmond) und das "nichts" auf den Händen vor sich her. Alles rein rituelle Propaganda-Symbolik. Beati pauperes spiritu.

Wie Sie, Grobmotoriker, auf die Idee zu kommen, per schriftlicher Anleitung, Transzendenz definiert erleben zu wollen, zeigt die Absurdität des Gedankens selbst auf. Mit Verlaub, hanebüchen.

Der Weg, spirituelle Transzendenz (bewußte Tautologie) geplant zu erfahren, funktioniert nur in persönlicher Form eines Erlebens, zB an einer Aufstellung teilnehmen oder ein erfolgreiches Konzert, abseits von Jazz oder 12-Ton-Musik, zu besuchen.
Sobald Ihnen einer in Ihrer nichtigen Not einen Erlöser präsentiert, nehmen Sie Ihre Beine in die Hand und übernehmen damit Verantwortung für sich selbst.
Das Leben eines Sterblichen währt recht kurz. Meinen Sie nicht, daß jeder, in der Kürze der Zeit, dazu angehalten ist, selbst die Konsequenz der eigenen Handlungen zu verantworten, anstatt diese auf irgendeinen imaginären oder realen Schaumschläger abzuschieben?
Jeder trägt seinen eigenen Tod mit sich herum. Und solange dieser einen noch nicht berührt hat, kann man diesen mit todsicherer Wahrheit in der Antwort befragen. Besser, als in irgendwelchen schriftlichen Machwerken nach Trost zu suchen.

Maiordomus

18. Februar 2020 17:29

@links/Daumen. Nachtrag zu Sebald: Bei einer der von mir genannten Lesungen distanzierte sich Sebald wörtlich von seinem "germanischen" und "chauvinistischen" Vornamen Winfried, notabene der Name des heiligen Bonifatius, des Apostels Deutschlands. Dass er nicht gerade sagte, ich habe nun mal einen "Nazi"-Vornamen, war schon alles. Ich fand ein solches Verhältnis zum intimsten Zeichen der eigenen, von den Eltern her mitverantworteten Identität schlicht zum Kotzen und hatte ohnehin in keinem Augenblick seiner Lesungen den Eindruck, einem grossen Schriftsteller gegenüberzusitzen, übrigens jeweils in der vordersten oder zweitvordersten Reihe, er war zu Lebzeiten nicht übertrieben prominent.

Nemesis

18. Februar 2020 18:26

@ zeitschnur @Grobmotoriker
".... das Innere ist gewissermaßen "zeitlos", transzendent, das Äußere zeitlich.

Und das machen Sie woran fest?
Es könnte ja genauso gut andersherum sein: Nämlich daß das Innere zeitlich und das Äußere zeitlos ist. Das mag zwar paradox klingen, aber wenn man sich überlegt, daß das Äußere (im Sinne von Natur) sich immer wieder neu bildet, ist der Gedanke an sich gar nicht so abwegig.

" Aber die Richtung ist immer die von Innen nach Außen, umgekehrt geht es nicht! Rituale, schöne Zeremonien, viel Pathos und Ehrgefühl - all das liegt im Äußerlichen und kann nichts Innerliches schaffen."

Ist das so?
Diese Dinge können aus meiner Sicht sehr wohl Innerliches schaffen, und zwar deshalb, weil sie Innerliches auszulösen vermögen (aber nicht müssen). Wenn es nicht so wäre, läge auch keine Gefahr darin, diese Dinge mißbrauchen zu können (z.B. falsches Ehrgefühl, falsche Rituale die zu zerstörendem Verhalten führen etc.)

Das eigentliche Problem liegt meiner Meinung nach im Transzendenzbegriff. Ich denke, man muß zunächst sehr sorgfältig unterscheiden:

1. Die TranszendenzERFAHRUNG, und da stimme ich Ihnen zu, kann nur jeder selbst machen.
2. Die Frage ist aber, wo die TranszendenzURSACHE liegt (bzw. was sie überhaupt ist).

" Gedächtniskulturen basieren mE nicht darauf, dass durch das Festhalten der Manifestationen auch das Innere festgehalten wird."

Das wäre zu beweisen, ich schließe das keineswegs aus. In Gedächtniskulturen können z.B. in Form von Märchen oder Mythen Manifestationen versinnbildlicht und Innerliches damit durchaus festgehalten und weitergegeben werden. Nur weil es sich um eine Gedächtniskultur handelt, schließt es das ja keineswegs aus.

"Aber durch die äußere Manifestation selbst wird er keinen Zugang zur Inneren Seite herstellen können. Das Innere muss ihn einladen, und das ist unabsehbar und nicht "machbar", er muss es begreifen und sein Tor dafür öffnen."

Darauf bezog sich aber meine Frage nicht.
Angenommen der Kutscher in Ihrem Beispiel hätte eine Transzendenzerfahrung gemacht. Woher weiß er dann, wenn er keinerlei Kenntnis über z.B. die Schriften hat (also in Ihrem Bsp. Jesja liest), daß er Christ ist? Er kann es nicht wissen, denn es fehlt ihm der Referenzbezug.

Meine Frage läuft letztendlich darauf hinaus, inwieweit Religion in (Gesellschafts)Strukturen eingefügte Transzendenzerfahrung ist.

Und damit liegt @Grobmotoriker aus meiner Sicht durchaus nicht verkehrt. Allerdings würde ich differenzieren. Mit Allem was Mißbrauch getrieben werden kann, wird es auch. Das alleine spricht noch nicht per se für oder gegen etwas. Und nicht jeder der sich in der Religion bewegt ist damit auch automatisch Geld- oder Machtorientiert. Das ist mir zu schematisch.

Maiordomus

18. Februar 2020 20:24

Der Titel ganz oben bleibt bedenkenswert:

Wonach Leser fragen - vielleicht nach Stifter und Sebald. Wer aber weiss wohl noch, was wir Herbert Eisenreich verdanken?

@links wo der Daumen rechts ist. Es war mir trotz Suche bisher nicht möglich, Ihre Ausführungen über Hebel, die meine Ausführungen klarer und einfacher vorwegnehmen, ausfindig zu machen. Beeindruckend bleiben die Zeugnisse Ihres Lesens, nicht zuletzt Handke betreffend und dass Sie bei Sebald wiederholt auf seine offenbar verdienstvollen Studien über österreichische Literatur, nicht zuletzt über Stifter, aufmerksam machen.

Zu Sebalds Nachruhm bleibt beeindruckend, dass er, wie ich in der Neuen Zürcher Zeitung zu seinem Hinschide gelesen habe, "in Amerika als einer der wichtigsten deutschen Autoren gilt". Dieses Kriterium repräsentiert seit rund 100 Jahren die globale Leitkultur, ob es uns nun mal passt oder nicht. Angesichts dieses Befundes bin ich mir fast sicher, dass der von Ihnen, Kubitschek und mir geschätzte Peter Handke bei dieser Ausgangslage gegenüber einem noch lebenden Sebald mutmasslich schlicht keine Chance gehabt hätte. Wobei mich nun aber die Ausführungen Sebalds über Stifter sehr interessieren würden.

Ob Leser, die jünger sind als der Durchschnitt der hier schreibenden, noch nach Adalbert Stifter greifen würden, scheint fraglich. Dies trotz seiner "grünen" Ansätze sowie der Bedeutung des Essens und der Diätetik in seinem Leben und Werk, was nebst Sebald (dessen Stifterstudie ich nicht gelesen habe) zum Beispiel bei Arnold Stadler "Mein Stifter" (2005) von Bedeutung ist. Stadler schrieb damit eines der bedeutendsten (zurückhaltend) polemischen Werke, welches sich getraut, gegen den nach seinem Tod quasi heiliggesprochenen österreichischen Zeitgeist-Autor Thomas Bernhard, den erklärtesten Stifter-Hasser, zurückzuschlagen. Seit Josef Nadler 1938 Stifters 70. Todestag auf durchaus anständigem Niveau zelebrierte, begann bekanntlich Stifter etwa dank "Witiko" als "Nazi" zu gelten. Für Thomas Bernhards Dreck schleudernde Suada "Alte Meister" reichte dies dann mehr oder weniger aus, ausser dass Stifter natürlich nicht deutsch kann. Für Thomas Bernhard war es zugleich eine Abrechnung mit der eigenen Bildungsgeschichte.

Bis zum Beweis des Gegenteils, wovon ich mich durch die Lektüre von Sebald gerne überzeugen lasse, bleiben über Stadler hinaus die folgenden beiden nicht allzu umfangreichen, aber bedeutenden und absolut stilistisch brillant geschrieben und inhaltlich tiefgründigen Publikationen wegweisend:

- Emil Staiger: Adalbert Stifter als Dichter der Ehrfurcht, 1943, Staigers Antwort an Nadler, wobei die Differenzen im Vergleich zu Thomas Bernhards Polemik gering sind. Wenn Thomas Bernhard etwas nachweisbar mehr gehasst hat als die Nazis, so war es nun mal die Ehrfurcht.

- Herbert Eisenreich: Das kleine Stifterbuch, 1967.
In Wirklichkeit ein grosses Stifterbuch, epochal, kritisch, so umstritten, dass das Archiv Eisenreich nicht mal Bildmaterial aushändigte. Warum: weil Eisenreich auch über wenig Erfreuliches bei Stifter, von Fress-Sucht bis zu seiner unglücklichen Ehe, bereits so schrieb, dass Stadler 40 Jahre später ohne deswegen Ärger zu bekommen, darauf aufbauen konnte.

Warum ist heute Herbert Eisenreich (1925 - 1986), hervorragender Autor, auch Kafka-Preisträger, vergessen? Weil er nun mal, ohne dass man ihm Nazi-Dreck anhängen konnte, zu den profiliertesten Autoren der österreichischen monarchistischen Rechten gehörte, der über Romane, literarische Essays usw. hinaus zum Beispiel 1977 in einem Aufsatz "Das degenerierte Denken vom Kriege" vernichtende Kritik an der österreichischen Regierung übte wegen einer Armee, die auch im noch laufenden Kalten Krieg nicht im Ernst als Ausdruck einer "bewaffneten Neutralität" gelten konnte, was damals immerhin für die Schweiz noch zutraf. Eisenreichs publizistischer Hauptgegner war die, im amerikanischen Sinne, "liberale" Journalistik, als deren Vorbeterorgan die "New York Times" galt. Dem gegenüber verteidigte er den damals für die Verhältnisse des Kalten Krieges gewiss bedeutendsten Autor, nämlich Alexander Solschenizyn, der diesen "Liberalen" als Störenfried galt, nicht so sehr, weil er "antisowjetisch" eingestellt war, sondern weil er nichts von dem glaubte, was sie selber glaubten. Im genannten Artikel über "Das degenerierte Denken vom Kriege" (er wäre heute aktueller als damals) hielt Eisenreich überdies fest: Nicht das militärische Kräftemessen, "sondern die New York Times hat jenen Krieg entschieden." Gemeint den Vietnamkrieg! Auch wenn man, wie seinerzeit Adenauer, diesen Krieg nicht als das Wichtigste bei der Verteidigung des Abendlandes einschätzte, bleibt Eisenreichs Aussage (bezogen noch auf die Gesamtheit der Medienmacht) wohl zweifelsohne wichtig. Kein Geringerer als Günther Anders, der Warner vor dem Atomkrieg, hielt fest, dass die tägliche Berichterstattung über den Vietnamkrieg im amerikanischen Fernsehen letztlich so weit führte, dass der Wahlkörper den Krieg nicht mehr länger ertrug. Wer "Full metal jacket" von Kubrick gesehen hat, wird wohl auch nicht im Ernst glauben, dass er "gezielte Einzelschuss" nach dem Motto "Jeder Schuss ein Treffer", abgefeuert von einer unglaublich mutigen Vietcong-Soldatin, die Amerikaner hätte aus Vietnam vertreiben können.

Herbert Eisenreich, ein guter Freund auch von Otto von Habsburg und dem durchaus nobelpreiswürdigen (so sah er sich selbst) Alexander von Lernet-Holenia, war unter den konservativen Autoren Österreich einer der bedeutendsten, getraute sich sogar, damals als "rechts" geltende Positionen publizistisch offensiv zu vertreten. Aus heutiger literaturhistorischer Sicht ist und bleibt sein grösstes Verdienst, dass er mit seinem "Skandalbuch" über Adalbert Stifter die Stifter-Forschung revolutioniert hat. Kann man dies von Winfried Sebald auch sagen? Es wird schon verdienstvoll sein, wenn er, vielleicht als weiterer Vorläufer von Arnold Stadler, sich für den bedeutendsten deutsch-österreichischen Prosaautor hoffentlich auf brillante und anregende Weise verwendet hat. Gerne nehme ich an, dass ich Sie, lieber @Däumling, mit diesen Ausführungen nicht abermals langweile. Ich schrieb sie, weil es auf dieser Kolonne auf massgebliche Bücher ankommt. Deren Liste nennt man, nach einer alten Tradition, Medizinbücher betreffend, "Kanon". Der arabische Ausdruck "al kanun" stammt von Avicenna und ist insofern ein frühes Zeugnis für die Islamisierung des Abendlandes.

Gracchus

19. Februar 2020 00:14

@Maiordomus / links ist wo der Daumen rechts ist
Ihre Animositäten beiseite: Ich kann mich zwar entsinnen, dass Sie @links irgendwann Hebel gebracht haben, aber ob auch für derartige Thesen wie hier Maiordomus - also quasi als Antidot gegen geschichtsphilosophische Verstiegenheiten - weiss ich nicht mehr genau. Was mich an dem Engels-Essay zu Tolkien doch irritiert, ist, dass am Ende so eine Spengler'sche Sicht durchschlägt, wenn von später Blüte etc. die Rede ist. Maiordomus hat bei mir trotz aller nicht immer nachvollziehbaren Weitschweifigkeit bei mir insoweit einen Nerv getroffen, als ich solchen Großtheorien doch mit imner stärkeren Misstrauen begegne.

In einem Jubiläums-Artikel zu Hebel hat Mosebach einmal eine Linie von Hebel über Kafka und Walser zu Sebald gezogen. Wie aussagekräftig ist das? Alle die genannten sind große Sprachmeister, sie haben einen unverwechselbaren Ton in die deutsche Literatur gebracht, und ich sehe trotz aller möglicherweise bestehenden Verwandtschaft (Hebel, Kafka, Walser waren überdies Junggesellen) v. a. das Unverwechselbare und Singuläre, sodass ich Ihrer Aussage @Maiordomus, alles von Hebel Geschriebene reiche an Kafka heran, durchaus zustimmen könnte, gleichzeitig ist es für mich eine Null-Aussage. Keiner der genannten Autoren kann doch den anderen ersetzen. Überdies strebten diese Autoren gerade nicht nach literarischen Rängen, die für mich imaginär bleiben.

@zeitschnur: Ihre Aversion gegen fantasy verstehe ich nicht. Ich würde z. B. Ovids Metamorphosen, Kafkas Verwandlung oder Carolls Alice im Wunderland und wahrscheinlich alles abseits des bürgerlichen Realismus dazu zählen und davon ausgehen, dass das bei Ihnen auch nicht unter trash fällt.

Gefreut hat mich, dass Kubitschek zwei Autoren nennt, zu denen er immer wieder greift: Christoph Ransmayr und Wolf von Niebelschütz. Letzterer ist wohl weniger bekannt, seine beiden großen Romane (Die Kinder der Finsternis; Der blaue Kammerherr) unvergesslich und unbedingt empfehlenswert.

links ist wo der daumen rechts ist

19. Februar 2020 00:19

@ Maiordomus

Ich muß gleich einmal Abbitte leisten.
Auch wenn man Sie sehr unsanft anfaßt, reagieren Sie doch immer entwaffnend souverän, fast schon wie der Kleistsche Bär im „Marionettentheater“; das muß man neidlos anerkennen.
Aber heute bin ich zu müde, um auf alle Details einzugehen. Ihre Bärennatur habe ich nicht.

Ad Stifter:
Hier werden wir noch genug Gelegenheit haben, von unseren Lektüre-Erlebnissen zu berichten.

Ad Bernhard:
Lassen Sie sich von seinen Invektiven nicht zu sehr aus der Reserve locken, sehr vieles davon war einfach Pose.
Vor kurzem hat ein von mir geschätzter Literaturwissenschaftler die Genese des berühmten Staatspreis-Skandals geschildert. Zum Schluß mußten wir im Publikum alle lachen, als klar war, wie Bernhards Erregungstalent aus einem an sich völlig nebensächlichen Ereignis einen Riesenskandal choreografiert hatte – und das eben mit einem gewissen Lausbubencharme.
Von Sebald gibt es in den genannten zwei Bänden zur österr. Literatur auch einen sehr instruktiven Aufsatz zu Bernhard (darin ein Bravourstück zu „Verstörung“). Und auch ein Hans Höller hat – jenseits vom Skandalträchtigen - Wesentliches herausgearbeitet.

Ad Sebald:
Ich habe ihn einmal bei einer Lesung erlebt – und bin früher gegangen; es war nicht auszuhalten.
Aber was seine Distanzierungsformeln betrifft: die Texte heben das wieder auf, deswegen hat er sich auch nicht mit moralinsaurer west- und ostdeutscher Literatur beschäftigt und eben auch nicht wie Böll, Grass, Walser & Co geschrieben. Stellvertretend für diese ging er dafür mit Andersch sehr hart ins Gericht.
Aber v.a.: Wir wissen nicht, wie er sich nach der Luftkriegsdebatte und dem in seinem Weltschmerz nicht mehr steigerbaren „Austerlitz“ weiterentwickelt hätte. Gar eine „Rechtswendung“ eines zunehmend Schwermütigen a’la Sieferle?
Auch hier gäbe es vielleicht unterirdische Verbindungen, wenn man etwa seinen ersten größeren literarischen Text „Nach der Natur“ mit Sieferles „Rückblick auf die Natur“ in Beziehung setzte…
Immerhin war ja erst der erste Teil seines literarischen Flügelaltars fertig.
Interessanterweise war der österr. Avantgarde-Autor Konrad Bayer für ihn sehr wichtig. Das auszuführen, würde den Rahmen sprengen, aber es ging dabei z.B. auch um die mystische Dimension eines Textes wie den „Kopf des Vitus Behring“.

Ad Eisenreich:
Sie haben recht, konservative Autoren hatten spätestens ab den 70er Jahren in Ö einen schweren Stand. Es gab da halt die zwei Lager einer „progressiv"-beschreibenden und einer avantgardistisch-experimentellen Literatur, die dem Rest die Luft zum Atmen nahmen.
Leute wie Wolfgang Kraus, Leiter der Österr. Gesellschaft für Literatur, der sich um konservative Emigranten wie etwa Manes Sperber verdient gemacht hatte, oder Achim Benning, Burgtheaterdirektor in den 70ern, der sich auch Ostblock-Dissidenten wie Vaclav Havel annahm, hatten irgendwann den Mainstream gegen sich.

Ad Zitat:
„Das Beste, was ich von Ihnen gelesen habe, ist aber der Satz: ‚Und das alles sage ich als tief Gläubiger - allerdings religionsloser Mensch.‘“
Klingt vielversprechend, stammt aber nicht von mir.
Antworte gerne via Kästners „Aufstand der Dinge“ – beim nächsten Mal.

Laurenz

19. Februar 2020 01:13

@zeitschnur .... der Terminus, Phantasy hier im Artikel gebraucht, ist eine literarische Spielart mit unserer mythologischen Erinnerung und früheren spirituellen Wahrnehmung. Tolkien stahl viel aus der EDDA, anderen Sagen, Märchen und Liedern.

Zitat-All diese Fantasyliteratur, alle "Zukunftsromane" und SciFi bilden aus der empirisch erfahrenen Welt eine Art Trash-Version, die sich wunderweiß wie originell vorkommt, fast zwanghaft "Schöpfer" spielt, aber eigentlich nur aus dieser empirisch erfahrbaren Realität eine Art unglaubwürdiges Tranny-Leben surrogiert. -Zitatende

Für mich persönlich verkörpern Sie auf SiN genau Ihre eigenen Bewertung. Sie projizieren Ihre eigene Existenz auf andere (Soziale Projektion).
Der westliche Mensch ist eben nur noch in der Lage Magie visualisiert wahrzunehmen. Deswegen wird Magie in der heutigen Kunst visualisiert, ganz einfach. Wer ließ den Dornbusch brennen? Wer panschte Wein? Wer erweckte Tote zum Leben? Wer fuhr leibhaftig in den Himmel auf?

Zitat-Unsterblich langweilig daher für jeden, der das Gefühl für das Mysterium der Realität noch nicht verloren hat, das tief im Inneren, in einem inwendigen "Jenseits" liegt.
Es spricht ganz für sich, dass hier manche Literatur, die das Transzendente integriert (und das ist überhaupt erst der Beginn echter Kunst) von solchem Fantasy-Trash nicht unterscheiden können.-Zitatende

Ja genau, für mich entsprechen Ihre Märchen aus 1000 und einer Nacht genau wieder Ihrer Bewertung, Trash.

Zitat-Die Tragik der modernen und erst postmodernen Mentalität ist, dass sie das Verständnis dafür nahezu vollständig verloren hat und damit die Aussicht auf eine ewige Seligkeit.-Zitatende

Wieder haben Sie Recht. Menschliche Kulturen entwickelten sich in mehreren Myriaden. Und mit dem damals postmodernen Christentum wurde alles vernichtet.
Sie erzählen hier etwas von Transzendenz und sind nicht mal in der Lage mit Ihrem Bewußtsein in der Zeit zu reisen. Ihr Ego ist das einzige, was Sie wahrnehmen können. Und so schreiben Sie auch. Man liest unter zeitschnur immer nur ICHICHICHICH und so weiter uns sofort.

@Maiordomus .... was verdanke ich Herbert Eisenreich bitte?

Maiordomus

19. Februar 2020 10:38

@links/Gracchus. Ich freue mich über diese konstruktive Debatte.

Dabei ist klar, dass es mir - wegen dem übrigen Alltag - leider nicht möglich ist, mich hier gleich stets "druckreif" zu äussern. Dies nervte mich fast ebenso sehr wie Sie. Eine Zusammenfassung unserer Debatte mit dem Ziel einer alternativen Präsentation von Literatur müsste ein sorgfältiges Lektorat über sich ergehen lassen. Ihre Beiträge sind mindesten so gut informiert wie die meinen, bringen mich auf jeden Fall weiter. Besonders freut mich, dass für Sie - im Gegensatz zu Hochschulprofessoren - z.B. konservative österreichische Autoren keine Marsmenschen sind. Diejenigen hatten oft ein Bildungsprofil, bei dem ein Reich-Ranicki vielleicht nur als Durchschnitt hätte mithalten können.

Erfreulich bleibt, wie Sie noch auf den einstigen ins Konservative gewendeten Linken Manès Sperber aufmerksam machen, den ich noch an einer Tagung kennenlernen durfte. Falls Sie sich von Martin Walser noch anderes zugemutet haben als respektable Literatur wie "Finks Krieg", "Messmers Gedanken" oder "Ein fliehendes Pferd", so dürfte klar sein, dass Vergleiche mit Hebel, Kafka, Kleist etwa so angemessen wäre wie etwa eine Sibylle Berg zur neuen Droste auszurufen.

Nach 60 Jahren Lektüre historischer Romane würde ich Walsers Goethe-Machwerk "Ein liebender Mann" den Preis "Abfallprodukt des Jahrhunderts" zusprechen. Meine beiden ersten historischen Romane, gelesen 1956 und 1957, waren "Scipio und Hannibal" sowie "Das Kreuz stürzt vom Sophiendom" von Friedrich Donauer, einem Pioner des Innerschweizerischen Schriftstellervereins. Der Hannibal-Roman war für einen Jugendlichen extrem spannend und gab die römische Geschichte zwischen 200 und 216 vor Christus genauer wieder als dies Martin Walser im Hinblick auf die Erektionsfähigkeit Goethes geschafft hat, zu schweigen von der historischen und bildungsmässigen Relevanz. Donauer wusste im Gegensatz zu Walser, was er schrieb und wie es beim Publikum ankommt. In Sachen Spannung war er trotz höherer Genauigkeit und Livius-Kenntnissen Karl May ebenbürtig. Sein Buch über die Eroberung von Konstantinopel durch Sultan Mehmed war für mich überdies eine bleibende, nie zu vergessende Einführung zum Konflikt Christentum - Islam. Ich glaube nicht, dass Lutz Bachmann ein solches Werk mit Langzeitwirkung auf das Unterbewusste des Lesers zuzutrauen wäre. Es wurde für mich auf eine ganz andere, vertieftere Weise bewusstseinsbildend als dass ich dies irgendeiner der mir bekannt gewordenen Pegida-Reden zutrauen würde. Freilich las ich zehn Jahre nach dem Roman über die Katastrophe Konstantinopels noch Goethes "West-östlichen Divan", die bis heute wohl beste Impfung gegen selbstbornierende Islamfeindlichkeit. Als Kulturhistoriker stören mich Minarette in meiner einstigen osmanisch-syrischen Lieblingsstadt Aleppo so wenig wie Tirols Dorfkirchen oder Gipfelkreuze in den Alpen. Mit dieser Meinung oute ich mich nun mal frei von Scham als islamophoben Chauvinisten.

zeitschnur

19. Februar 2020 12:07

@ Gracchus

Wenn für Sie "Fantasy" alles ist, was bereits jenseits des bürgerlichen Realismus liegt, dann weiß ich leider auch nicht mehr, was ich sagen soll.

In der Fantasyliteratur werden (oft unter Zuhilfenahme mythologischer Motive) eine Art "Paralleluniversen" erschaffen. Ovid ist dabei eher den Gebrüdern Grimm vergleichbar als einem Fantasy-Autor. Er hat bestehende Sagen und mythologische Fabeln im Prinzip "gesammelt" und literarisch schön aufgemacht (Hexameter etc)
Ihm ging es ganz sicher nicht drum, eine "Anderwelt" zu kreieren.

Der kardinale Denkfehler besteht mE hier darin zu meinen, jedermann könne "Mythologie" erfinden.
Nein, das kann man nicht!
Die echten mythologischen Texte stammen "von weit her" und tragen ähnliche Merkmale.

Fantasy, die mythologisch tut, wirkt dagegen artifiziell und in der Regel auch "zu perfekt". In der mythischen Erzählung bleibt immer viel offen, widerspricht sich oder verheddert sich. Fantasy hat den Charme einer Ingenieursleistung. Es ist vielleicht typisch deutsch, solche literarischen Ingenieursleistungen tatsächlich als "Gefühlstrigger" zu erleben und nicht unterscheiden zu können von anderen Gattungen, in denen Mythologisches (echt) oder Transzendentes angedeutet wird.

Vielleicht hat ja schon mal ein Literaturwissenschaftler das "Ramayana" mit dem "Herrn der Ringe" verglichen?

Unser modern-postmodernes Dilemma ist tatsächlich ein heilloses Missverständnis der Natur als einer mechanischen Anlage, die man vermessen könnte. Dieses falsche und irgendwo auch absurde Denken deutete sich bereits in der Scholastik an, setzte sich ausdrücklich bei Kopernikus fort und gipfelte vorerst bei Newton, der unserer Kultur seither eine Art Todesimpuls versetzt hat: Er erschuf selbst ein Universum, tat aber so, als sei seine Schöpfung die Wirklichkeit, und bis heute glauben ihm das alle ohne Sinn und Verstand. Seine "Gesetze" müssen im "ganzen Universum" gelten, behauptete er - sagen wir mal bescheidener: in Seinem Universum gelten sie vielleicht, in meinem nicht.
Wir finden in der Natur nirgends die mathematischen Abstraktionen und Funktionsmechanismen vor, die diese Herren ins "All" projiziert haben. Während es hier nirgends in der Natur echte Dreiecke, Kugeln oder rechte Winkel gib, auch keine Fibonacci-Kurven, sondern nur mathematisch interessierte Menschen das in die Natur in ihrer ganzen "Krummheit" hineinsehen, gewissermaßen als "transzendente Abstraktion" dahinter (daher auch die Metapher vom "Weltenbaumeister"), soll "da draußen" also eine Natur sein, die mehr wie ein Uhrwerk und ein Haufen Formeln wirkt, ein Materiallager für all die idealen Formen und Funktionen, "Naturgesetze" (die allerdings extrem widerspruchsbeschwert sind, wenn man diese Theorien mal genauer ansieht), die innerhalb des Orbits nun mal partout nicht gelten können, weil hier keine Abstraktionen, sondern etwas anderes lebendig ist. Kein Baum steht als gerade "Strecke" senkrecht auf dem Boden, keine Körperhälfte gleicht der anderen, der "goldene Schnitt" gilt nur dem Anschein nach - real weicht jeder noch so perfekte Menschenkörper doch davon ab etc. Alles Natürliche und Schöne ist immer "daneben" - neben der Abstraktion, "jenseits" der technischen Auffassung, die eben tot ist und den Tod bedeutet. Daher auch der Exodus der "Iwri", der "Jenseitigen" aus dem "technischen" Ägypten.

Der Charme des Natürlichen liegt darin, dass es im Prinzip nicht "funktionieren" dürfte, wenn man "ingenieurs- und naturgesetzemäßig" drauf sieht. Es ist aber jenseits der angeblichen Naturgesetze tatsächlich stabiler als alle unsere Maschinen, die nach den Prinzipien "funktionieren", die wir auch der Natur unterstellen, die dort aber jenseits unserer Maschinen nicht vorfindbar sind.

Die Fantasyliteratur ist etwas "Ausgedachtes", von der wirklichen Wirklichkeit Abstrahiertes und neu Angemaltes und außerstande den lebendigen Odem des Natürlich parallel zu erschaffen.
Sie wirkt aus diesem Grunde durchweg steril.

Maiordomus

19. Februar 2020 13:20

@Laurenz. Wohl ein Missverständnis. Ich glaube nicht, dass Sie Herbert Eisenreich etwas "verdanken", es sei denn, Sie interessieren sich für den Fortschritt in der Stifter-Forschung und für die Kritik an Thomas Bernhard, Eisenreich war nämlich der wortgewaltigste Gegner von T.B., als dieser auf seine Weise die Literatur zuerst in Österreich und später in Deutschland revolutionierte. Im Gegensatz zu Eisenreichs mutigem Durchbruch in der Stifterforschung hat er gegen Thomas Bernhard verloren. Dies ist schon dadurch erwiesen, dass Eisenreich heute "niemand" kennt, Bernhard jedoch "alle", wenigstens diejenigen, die sich mit moderner deutscher Literatur auseinandersetzen.

Dass Eisenreich im Gegensatz zum Mainstream der Literaten der letzten 100 Jahre kein Pazifist war, sondern wie kein zweiter zum Beispiel die damalige Verteidigungsunfähigkeit des neutralen Österreich kritisierte, macht ihn als Schriftsteller zum historischen Beinahe-Unikum, weil die Kriegseuphorie der Geistigen von 1914 langfristig das gegenteilige Extrem beinahe provozierte.

Nicht falsch scheint es Eisenreich aufgegangen zu sein, dass der Vietnamkrieg nicht mit dem eindrucksvollen "gezielten Einzelschuss" von Vietcong-Soldatinnen und -Soldaten entschieden wurde. Die Entscheidung fand auf metapolitischer Ebene statt. Dies hat kein Geringerer als der unverdächtige Radikalpazifist Günther Anders bestätigt. Eisenreichs Sicht war also im Gegensatz zu den Verrücktheiten des 1. Weltkrieges nicht einfach eine "Dolchstoss-Legende". Die New York Times und die Washington Post haben, zusammen mit dem absolut Eindrücklichsten, den Fernsehbildern und den am meisten kriegsentscheidenden Fotos der Kriegsgeschichte (mit dem vor Napalm fliehenden Mädchen und dem unvergesslichen Bild, wie ein hoher Militär einem Vietcong die Pistole an die Stirn legt), den Unterschied ausgemacht. Seither ist Propaganda mit den Opfern als Appell an das Mitleid eines der wichtigsten Elemente erfolgreicher Kriegsführung. Da konnte John Wayne mit seinen "Green Berets" schlicht nicht mithalten.

Laurenz

19. Februar 2020 19:55

@Maiordomus ..... Danke für die Information aus einer anderen Welt. Immerhin hat die Republik Österreich Herrn Eisenreich ein Ehrengrab spendiert.

Nach Vietnam nahmen die US Amerikaner nur noch lizenzierte Kriegsberichterstatter mit auf ihre militärischen Unternehmungen, um das damalige propagandistische Desaster zu vermeiden. Im Zeitalter des Netzes bringt das allerdings nur noch bedingt etwas. Deswegen haben die USA die Kriegsführung quasi privatisiert, eine Renaissance des Landsknechts-Wesens quasi.

Gracchus

19. Februar 2020 22:41

@zeitschnur
Der Gegenbegriff zu fantasy ist nunmal Realismus. Und m. E. wurde diese Unterscheidung erst mit dem Aufkommen realistischer Literatur virulent. Und wir reden hier von fiktionaler Literatur. Also etwas "Ausgedachtem", "Erfundenem".

Was Ihre Kritik an dem neuzeitlichen Naturbegriff zu tun hat, erhellt sich mir nicht. Mit HdR hat das wenig zu tun. Da herrscht m. E. noch ein magisches Naturgefühl. Wie Laurenz richtig sieht, greift Tolkien auf alte Mythen zurück. Vom Verfahren her nicht anders als Ovid oder die Brüder Grimm.

Lange Zeit war ich mir im Übrigen nicht sicher, ob ich Rudolf Steiner zu den Hellsehern oder den fantasy-Autoren zählen soll, vielleicht war er ja beides. Umgekehrt ist es denkbar, dass uns fantasy-Autoren Nachrichten aus einer wirklichen Welt liefern.

Vielleicht ist Ihnen die Postmoderne ja deshalb suspekt. Was immer man darunter versteht, gehört sicherlich das Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit dazu. Oder anders: Wir können uns nicht mehr sicher sein, ob unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit auf Fiktionen betuht.

Womit wiederum der Bogen zu Hebels großartiger Geschichte "Kannitverstan" geschlagen ist: In dem Sinne war Hebel Postmodernist.

Maiordomus

20. Februar 2020 00:10

Was wir auch noch in Sachen Eisenreich lernen können: Wie der Mainstream nicht nur für die Gegenwart, sondern über das Grab hinaus für politische Abweichler und wirkliche Non-Mainstreamer das Klischee bestimmt, ist wahrhaft fatal, wobei es Reich-Ranicki halb ironisch sagte, weil der Zampano der Literaturkritik eines wusste: Eisenreiche war als Kritiker gewiss keine intellektuelle Niete, unter anderem auch wichtig für die Rezeption von Heimito von Doderer. Er war, gerade als Polemiker, Reich-Ranicki ebenbürtig, ebenso belesen und ein guter Stilist. Aber er stand nun mal auf der falschen Seite der Barrikade, und zwar ziemlich endgültig. Darum lautet das zur Vaporisierung (Orwell-Begriff) seines Andenkens kolportierte Urteil von Marcel Reich-Ranicki so:

„Österreichischer Nationalist, verbohrter Regionalist und schließlich gar regelrechter Monarchist“.

Wer im Geistesleben heute auf der falschen Seite der Front erwischt wird, muss froh sein, wenn er nicht noch schlimmer "wiki-expediert" wird. Weil es nun aber so ist, und weil ich tatsächlich 1968 durch Eisenreich in meiner schon ein Jahrzehnt früher erweckten speziellen Liebe zu Stifter bestätigt wurde, bekenne ich mich zu diesem grossen Toten. Für den Hinweis auf das im Netz bildlich abrufbare Ehrengrab mit Porträt in Bronze danke ich @Laurenz. Die wenigsten der heutigen Publizisten rechts der Mitte haben die Chance, zu Lebzeiten doch so noch gut beachtet aufzutreten wie der vielseitig begabte Österreicher Herbert Eisenreich. Bei den wirklich berühmten müssen sich Kulturkonservative aus der "Welt von gestern" (Stefan Zweig( mit Grillparzer, Stifter, Hofmannsthal begnügen, sozusagen dem literarischen Stefansdom; zum Nachtisch Arthur Schnitzler und bei den Publizisten natürlich Karl Kraus nicht vergessen.

Was Eisenreich als rechtes Gegenstück zu Reich-Ranicki blühte, war im enger belletristischen Bereich als Romancier und Lyriker das Schicksal von Alexander von Lernet-Holenia,. Im Dramatischen und Lyrischen nicht zuletzt dasjenige von Max Mell, der von Reinhold Schneider ("Winter in Wien") 1958 zum legitimen Nachfolger Stifters erklärt wurde.

Man darf sich keine Illusionen machen, dass die geistespolitische Situierung noch nie so für die so weithin entscheidend für die Einschätzung eines Schreibenden war. Insofern bleibt das vorläufig unvollendete Bemühen um einen alternativen Kanon ein "echtes Desiderat". Schüchtern hoffe ich, dass etwa Martin Sellner in seinem Wien meinen als Hommage gemeinten Hinweis auf Herbert Eisenreich zur Kenntnis nimmt. Wer denn sonst, ausser vielleicht @links, wo der Daumen rechts ist?

Maiordomus

20. Februar 2020 09:56

@Eisenreich, unterster Abschnitt: "Man darf sich keine Illusionen machen, dass die geistespolitische Situierung eine Schreibenden (z.B. durch Medien wie Wikipedia) in Sachen verhängnisvoller Klischierung noch nie so verhängnisvoll präsentiert wurde wie heute."

Und nicht nur @Sellner wollte ich auf diesen grossen Wiener aufmerksam machen, sondern natürlich zumal den im Geistigen konsequenteren Intellektuellen @Lichtmesz. Zur "Metapolitik" gehört es nun mal, nicht Hansdampf in allen Gassen sein zu wollen (ein Begriff von Heinrich Zschokke), sondern konsequent Grundlagenarbeit zu betreiben.

Von all dem abgesehen: Das Andenken an Herbert Eisenreich, dessen publizistische "Niederlage" gegen Thomas Bernhard grundsätzlich zur gegenwärtigen metapolitischen Situation im deutschsprachigen Literaturbetrieb beitrug, sehe ich als Beispiel für den Aufbau eines alternativen Geisteslebens. Dabei repräsentierte er eher die Richtung von Gerd-Klaus Kaltenbrunner als diejenige etwa von Armin Mohler. In späten Jahren befand er sich bereits im geistigen Exil, publizierte mit Otto von Habsburg in der "Zeitbühne" und mit Walter Hoeres in "Epoche", den damals neben "Criticon" lesenswerten Organen der geistig Konservativen. (Ich hatte sie alle abonniert.)

@links, wo der Daumen rechts ist. Im oberen Abschnitt ist von der metapolitischen Situation im deutschsprachigen Literaturbetrieb die Rede. Diese Situation kam zustande, weil Germanisten und Publizisten einer früheren Generation regelrecht "gestürzt" wurden, was sie in ihren alten Tagen auch noch schmerzlich zur Kenntnis mussten, etwa der frühere Schweizer "Literaturpapst" Emil Staiger, etwa zur gleichen Zeit verstorben wie Herbert Eisenreich (1986/87). Aus diesem Grunde wurde es für Winfried Sebald schlicht Pflicht, sich bei seinen Lesungen etwa zum Thema "Luftkrieg" einleitend oder hinterher stets für das Gelesene zu entschuldigen und sich von drohender "rechter" Instrumentalisierung der Wahrheit zu distanzieren.

zeitschnur

20. Februar 2020 11:33

@ Gracchus

Ich habe tatsächlich den Eindruck, dass Sie mich nicht verstehen.
Erstens: Literatur ist immer fiktional und immer eine Erfindung. Das taugt also nicht als Unterscheidungskriterium. Es ist aber ein Unterschied, ob ich dabei innerhalb der ERLEBTEN Weltzeit etwas erfinde, oder ob ich gewissermaßen ein anderen Äon erfinde, in dem ich meine Figuren aufstelle. Zu einer Erweiterung des jetzigen Äons zählen auch fantastische Erweiterungen des Realitätsbereichs, wie etwa bei Lovecraft, der in der Antarktis noch weitere Welten hinter der erfahrenen Welt kreiert. Wichtig ist hier, dass wir bisher keine solche Welt erfahren haben. Auch Jules Verne verlegt fantastische Welten in dieses Äon, aber indem er eine Erweiterung herstellt, die bereits wieder das real erfahrene Äon sprengt.
Diese Unterscheidung müsste doch eigentlich verständlich sein?!
Ob sie erst mit dem bürgerlichen Realismus aufkam - sehe ich nicht, weil alles, was die äonische Bindung überstieg zu früheren Zeiten, nicht als "Fantasy" gemeint war: das ist der springende Punkt! Dazu noch unter 2. ein Gedanke.
Zweitens: Sie vergröbern mE die literarische Situation bis hin zur Unkenntlichkeit. Ich gebe ein Beispiel: Das Buch Henoch etwa ist keine phantastische Literatur, obwohl es eine Himmelsreise beschreibt. Das Buch Henoch ist so geschrieben, dass deutlich wird, dass es alles, was es berichtet, für real in dieser und "über" dieser Welt hält. Nur ist das, was der Himmelsreisende Henoch sehen kann, nur wenigen vergönnt zu sehen. Ein moderner SciFi-Roman dagegen erfindet nicht nur eine Welt, sondern auch eine andere Weltzeit dazu und geht niemals im Ernst von der Realität dieser Beschreibung aus. Im besten Fall ist Fantasy eien Projektionsfläche für irgendwelche sehnsüchte und will auch intentional nicht mehr sein. Tolkien hätte neimals die Realität seiner Welten vertreten, natürlich sind sie auch ihm fiktional. Henoch dagegen nicht: Während Henoch eine echte spirituelle Erfahrung macht und sie für echt und real hält und deshalb aufschreibt, und man selbige auch als Vision auffassen könnte, ist Fantasy dagegen spirituell leer und soll weder ein Erfahrung beschreiben noch eine ermöglichen. Es ist reine Unterhaltung oder auch Ablenkung von dieser Weltzeit, in der wir nun einmal leben.

Dass Fantasyautoren in aller Regel auf eine sehr technische Art und Weise auf Mythisches zurückgreifen, macht dennoch das entstehende Werk nicht mythisch.

Dass Sie nach wie vor den Unterschied zwischen Ovid und Tolkien nicht erkennen, macht mich hilflos. Ich hatte Ihnen eine Erklärung gegeben, auf die Sie aber leider nicht eingehen. Ovid ist eine Art Mythensammler - mehr nicht. Das hat wiederum mit einem Text wie dem Henochbuch oder Dem HdR nichts zu tun.

Umbruchszeiten sind häufig von Epigonentum und Manierismus gezeichnet. Man will etwas schaffen und "erhalten", das aber nur noch äußerlich zu erinnern scheint an etwas, das einmal mit Herz und Sinn "voll" war. Eine neue, echte Ausdrucksform hat man noch nicht gefunden aufgrund der inneren Leere, die eben nichts Besseres hervorbringen kann. Die Menschen einer solchen Zeit sind blind geworden für diese wichtige Unterscheidung. Da lässt sich wohl kaum etwas machen.

Das auch zur Zeitenwende Menschen diesbezgl. auf dem Schlauch standen, v.a. die "Gebildeten", lässt folgender Satz von Petrus ahnen:

"Denn wir sind nicht klugen Fabeln gefolgt, da wir euch kundgetan haben die Kraft und Zukunft unsers HERRN Jesus Christus; sondern wir haben seine Herrlichkeit selber gesehen." (2 Petr 1,16)

Die Welt der Fabeln hat grundsätzlich mit der realen Erfahrung, zu der Petrus ganz offensichtlich auch seine spirituelle Erfahrung zählt, null und wiederum null zu tun.
Anders gesagt: Mit nichts wird man diese reale Erfahrung weniger erreichen als mit Fantasy und Fabeln.

Mir nun irgendwelche reichlich platten inneren Haltungen zu unterlegen nach dem Motto "Unbehagen an der Postmoderne" und all diese Parolen - damit hab ich nichts am Hut. ich bin auch kein "Modernisierungsverlierer", nein, ich denke nur eigenwillig und habe schon viel nachgedacht, was freilich Irrtum nicht ausschließt, mich aber außerhalb der Zone irgendwelcher -Ismen gebracht hat.

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