12 Rules for Life statt »Anschwellender Bocksgesang«? Marc Felix Serrao empfahl in der Neuen Zürcher Zeitung vom 27. Juli 2018 den deutschen Konservativen einen Ausweg aus der Sackgasse der kulturpessimistischen Selbstmarginalisierung: »Fragt man jüngere Deutsche, die politisch interessiert sind, nach relevanten rechten Denkern«, so Serrao, »dann bekommt man als Antwort ein paar Tote und vielleicht den einen oder anderen Ausländer genannt.«
An diesem Zustand seien »Botho Strauß und seine Bewunderer mitverantwortlich.« Statt »die Schuld für die eigene Bedeutungslosigkeit immerzu bei den Linken, der deutschen Geschichtsschreibung oder dem Westen zu suchen«, könnten sie doch mal die Rolle, die ihnen ihr »Held« aus der Uckermark »zugeraunt« habe, fahren lassen und stattdessen den Erfolgsrezepten eines nordamerikanischen Gurus lauschen:
Wie es anders geht, läßt sich derzeit auf faszinierende Weise an einem nichtlinken Intellektuellen aus Kanada beobachten. Der Psychologe und Kulturkritiker Jordan Peterson hat in der englischsprachigen Welt binnen kürzester Zeit einen Kultstatus erreicht, der beispiellos ist. Wo der hagere Professor auftritt, füllt er riesige Hallen mit jungen Menschen.
Peterson bietet eine Art Überlebenshilfe gegen das, was er kulturellen Marxismus nennt. ›Steh aufrecht‹, lautet die erste Regel seines Buchs 12 Rules for Life: An Antidote to Chaos. Wer das tue, fange an, die ›schreckliche Verantwortung für das Leben‹ zu akzeptieren.
Petersons Ton ist der eines strengen Vaters, und sein Menschenbild ist so pessimistisch, wie es sich für einen Konservativen gehört. Aber der Appell an die Leser ist liberal: Jeder müsse lernen, aus den Opferrollen herauszukommen, die andere ihm andienen – keinem Kollektiv, sondern sich selbst zuliebe.
Petersons Anfang 2018 erschienenes Buch ist nun auch auf Deutsch erhältlich. Der 1962 geborene Psychologieprofessor, der an der Universität Toronto lehrt, ist innerhalb von nur zwei Jahren zum angeblich »einflußreichsten populären Intellektuellen der westlichen Welt« (New York Times) aufgestiegen.
Peterson wird häufig in die Nähe der »Altright«-Schublade gerückt, die er selbst vehement zurückweist. Seine Karriere ist allerdings eng mit der »alternativ-rechten« Welle des Jahres 2016 verbunden, als im Zuge der Wahlkampagne Donald Trumps neue Akteure die politisch unkorrekte Medienbühne betraten und der Bekanntheitsgrad anderer drastisch anstieg: unter ihnen etwa Steve Bannon, Milo Yiannopoulos, Lauren Southern, Mike Cernovich, Paul Joseph Watson oder Richard Spencer.
Deshalb wurde Peterson zunächst von Freund und Feind durchaus als Teil der damals noch sehr weit gespannten Bewegung betrachtet und von seinen Verehrern mit »Pepe der Frosch«-Devotionalien beschenkt, was vielleicht auch auf seine berüchtigt nasale Stimme anspielte, die böse Zungen mit »Kermit« aus der Muppet-Show vergleichen.
Petersons jäher Ruhm verdankt sich einem Eklat: Im September 2016 veröffentlichte er auf seinem YouTube-Kanal einen Vortrag, in dem er sich dagegen aussprach, »Transgender«-Personen mit geschlechtsneutralen Pronomen anzusprechen, also Kunstwörtern wie »Ze« und »Xe«.
Dies und die generelle Kritik an kanadischen Antidiskriminierungsgesetzen und politischen Maulkorbzwängen auf dem Campus löste, wie zu erwarten, das Gebell der getroffenen Hunde aus. »Social Justice Warriors« und Antifanten störten in Scharen seine Vorlesungen und beschuldigten ihn der »Haßrede«.
Seine Kommentare seien »inakzeptabel, emotional verstörend und schmerzhaft«, würden Haß und Aggression auf »Transmenschen« schüren. Dabei ist Petersons Position zu diesem Thema durchaus differenziert: Er würde im Einzelfall einer transsexuellen Person nicht die gewünschte geschlechtsspezifische Anrede verweigern, wehre sich aber gegen alle Versuche, besonders juristischer Art, anderen Menschen Sprachregelungen aufzuzwingen, die in den Sümpfen sektiererischer Theorien gewachsen seien.
Begriffe wie »Genderidentität« haben einen »radikal sozial-konstruktivistischen« und »kulturmarxistischen« Hintergrund, und wer ihren Gebrauch unter Strafandrohung erpressen wolle, begebe sich ins totalitäre Fahrwasser. Es gelte an dieser Stelle entschieden die Rede- und Meinungsfreiheit zu verteidigen, für Peterson die »Grundlage der westlichen Zivilisation« schlechthin.
Er hielt dem Druck stand und wurde mit einer explosionsartig wachsenden Fangemeinde belohnt, die ihn auf der Crowdfunding-Plattform »Patreon« mit Spenden von über 80.000 $ im Monat versorgt. Im Oktober 2017 kam es zu einem Gespräch zwischen Peterson und Camille Paglia, die seit Jahrzehnten einen ähnlichen Kampf gegen »stalinistische« Tendenzen in den Universitäten und der feministischen Szene führt (»Modern Times: Camille Paglia & Jordan B Peterson«, YouTube, 2. Oktober 2017).
Paglia war begeistert und ernannte Peterson daraufhin zum »wichtigsten und einflußreichsten kanadischen Denker seit Marshall McLuhan«. Petersons Kritik an der universitären Linken beschränkt sich allerdings nicht bloß auf deren Intoleranz gegenüber abweichenden Meinungen, sondern zielt mitten in ihren egalitären Kern.
Berühmt wurde sein Vergleich zwischen Menschen und Hummern: An den Statuskämpfen und den damit korrelierenden Serotoninspiegeln der letzteren könne man ablesen, daß soziale Hierarchien alles andere als kulturelle »Konstrukte« seien, sondern eine tiefsitzende soziobiologische, evolutionäre und hormonelle Basis haben.
Auf dieser Grundlage attackierte Peterson, ähnlich wie Paglia, den heute vorherrschenden Feminismus, der nicht nur Chancengleichheit schaffen, sondern Ergebnisgleichheit erzwingen wolle.
Was die Dynamik der Geschlechterbeziehungen, die weibliche »Hypergamie« und die Gesetze des Sexualmarktes angeht, ist Peterson ein nicht minder harter Realist als F. Roger Devlin, Autor der bahnbrechenden Aufsatzsammlung Sex – Utopie – Macht (Schnellroda 2017, hier bestellen).
Er stellt sich damit auch gegen die pauschale Verunglimpfung der Männlichkeit und gegen eine Sichtweise, die in der abendländischen Geschichte einen einzigen Alptraum aus Unterdrückung, Diskriminierung und »weißem Privileg« sehen will.
Mit seiner Kombination aus Nüchternheit und Schlagfertigkeit gilt er seinen Anhängern als wahrer Debattengott. Sein
bislang größter Hit war seine Diskussion mit der feministischen Journalistin Cathy Newman, deren Pappkameraden er nach allen Regeln der Kunst zerlegte.
»Warum soll Ihr Recht auf freie Rede über dem Recht einer Transperson stehen, nicht beleidigt zu werden?«, fragte Newman. Peterson:
Wer imstande sein will, zu denken, muß riskieren, beleidigend zu sein. Sie nutzen Ihre Redefreiheit, bohren nach, um zu verstehen, was passiert, und riskieren damit, mich zu beleidigen. Und das ist in Ordnung. Nur drauf los, kann ich nur sagen!
Newman war für einen Moment sprachlos. Nach ein paar gestammelten Redeanläufen mußte sie kapitulieren:
Sie haben mich erwischt, ich muß mir das durch den Kopf gehen lassen …
Petersons internationaler Bestseller 12 Rules for Life, der zu »Ordnung und Struktur in einer chaotischen Welt« anleiten will, steht ganz in der Tradition der amerikanischen Selbsthilfe- und Selbstoptimierungsliteratur, allerdings auf einem relativ hohen und zugleich zugänglichen Niveau: Seine »zwölf Regeln« erscheinen auf den ersten Blick eher trivial und alles andere als neu oder originell.
Peterson versteht es jedoch, ihnen mit einem gekonnten Griff in die interdisziplinäre Kiste – Psychologie, Religion, Mythologie, Literatur, Philosophie, Wissenschaft – Tiefe und Bedeutung zu verleihen.
Seine Alltagsregeln haben Kultstatus, allen voran das lapidare »Räum dein Zimmer auf!«, aber auch »Steh aufrecht und mach die Schultern breit«, »Laß nicht zu, daß deine Kinder etwas tun, das sie dir unsympathisch macht«, »Gehe davon aus, daß die Person, mit der du sprichst, etwas weiß, was du nicht weißt«, »Strebe nach dem, was sinnvoll ist (nicht nach dem, was vorteilhaft ist)« oder »Sei präzise in deiner Ausdrucksweise«.
Für Regel Nr. 8 »Sag die Wahrheit – oder lüge zumindest nicht« beruft er sich unter anderem auf sein Idol Alexander Solschenizyn, der die Führung und die Bürger der Sowjetunion in einem berühmten Aufruf ermahnte: »Lebt nicht mit der Lüge.«
Auch andere von Petersons Säulenheiligen weisen eher nach rechts als nach links: Carl Gustav Jung, Nietzsche und Dostojewskij. In der New York Review of Books glaubte ein Rezensent in 12 Rules for Life mehr als nur einen Hauch von »faschistischem Mystizismus« à la Evola und Eliade zu entdecken, da Peterson den Männern empfiehlt, wieder »härter zu werden« und dem ewigen Hunger ihrer Seele nach dem »Heroismus des genuinen Seins« zu folgen.
Peterson verspricht seinem Leser nicht das Blaue vom Himmel, wie es andere Bücher des Genres tun, sondern ermutigt ihn, die dunklen, irreparablen und tragischen Seiten des menschlichen Daseins zu verstehen und zu ertragen. Dabei vertritt er eine veritable Erbsündenlehre: »Sie haben ein böses Herz – wie die Person neben Ihnen«, bekommt das Publikum seiner häufig bis auf den letzten Platz ausverkauften Vorträge zu hören. »Kinder sind nicht von Natur aus gut – und Sie ebensowenig.«
Im Mai 2018 distanzierte sich ein alter akademischer Weggefährte namens Bernard Schiff, Vater einer »Transgender-Tochter«, wegen dieses Tonfalls öffentlich von Peterson. Dieser sei zwar ein »beeindruckender Redner«, »klug, mitfühlend, mitreißend«, »gedankenvoll und gütig«, habe sich aber inzwischen von einem talentierten, geistig agilen Lehrer in einen Missionar und Prediger, einen »Krieger« gegen links und die »mörderische Ideologie des Marxismus« verwandelt – wogegen von rechter Seite nichts einzuwenden wäre.
Die Linke wirft Peterson weiterhin vor, »Haß« zu provozieren, insbesondere, seine vorwiegend junge, männliche, weiße Fanbasis aufzustacheln, die sich etwas weniger nobel und sachlich als er selbst artikuliere; so soll Cathy Newman nach ihrer Debattenniederlage in den sozialen Medien mit einer Flut von »frauenfeindlichen« Beschimpfungen bedacht worden sein.
Abgesehen davon, daß sich »Troll«-Attacken dieser Art leicht fabrizieren lassen, erkennt man hier die übliche linke Taktik, einer argumentativen Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen, indem der Gegner als »gefährlich« und »haßerfüllt« stigmatisiert wird.
Tatsächlich sind sämtliche von Petersons politischen Positionen bei näherer Betrachtung eher moderat und ausgewogen. Er gehört zu jenen Konservativen, die im Zeitalter flächendeckender linker Ideologisierung schon durch bloßes Aussprechen von Binsenweisheiten und »common sense« übermäßigen Anstoß erregen.
Allerdings haben sich auch im rechten Spektrum viele ehemalige Fans enttäuscht von Peterson abgewandt. Das liegt nicht nur an seinem zunehmend guruhaften Auftreten und seinen exzentrischen Zügen, wie seiner Neigung, vor laufender Kamera in Tränen auszubrechen, was nicht gerade für eine vorbildlich väterlich-männliche Haltung spricht.
Vor allem aber hat sich Peterson – der behauptet, als Mitglied in den Indigenenstamm der Kwakiutl aufgenommen worden zu sein – als »klassischer«, tendenziell apolitischer Liberaler erwiesen, der in guter angloamerikanischer Tradition die Souveränität des Individuums als höchsten Wert betrachtet.
Dabei geht er so weit, die Identifikation mit einer Gruppe und deren Interessen pauschal als »Kollektivismus« und Flucht vor dem »Erwachsensein« zu brandmarken. Damit hat er sich auf eine »zentristische« Position zurückgezogen, von der aus linke wie rechte »Identitätspolitik« als zwei Enden ein- und desselben fatalen Hufeisens erscheinen.
Seine Botschaft an junge Menschen lautet, sich nicht von »kollektivistischen« Ideologien verhexen zu lassen, sondern den Weg einer »verantwortungsvollen« Individuation und Individualisierung zu gehen. Mit anderen Worten soll also jeder »sein Ding machen«.
Trotz seiner glühenden Beschwörungen des »Wunders« der »westlichen Zivilisation« verwirft Peterson jeglichen »Stolz« auf Kultur, Volk oder Nation:
Bin ich stolz darauf? Ich habe das nicht gemacht!
Die westliche Zivilisation sei »nichts, auf das man stolz sein soll, sondern etwas, vor dem man zittert, das man als ethische Bürde begreift, nicht, um mit einer Flagge zu wedeln, weil man so wunderbar ist und zufällig die gleiche Hautfarbe hat wie diejenigen, die sich all dies ausgedacht haben. Das ist nicht die richtige Antwort.« (»Jordan Peterson on European Pride«, YouTube, 13. April 2018).
Und in einem Tweet schrieb er:
Diejenigen, die etwas als Individuen erreicht haben, fühlen kein Bedürfnis, stolz auf ihre Rasse zu sein.
(28. November 2017)
Dem liegt die kurzsichtige Vorstellung zugrunde, daß Stolz nur dann gerechtfertigt sei, wenn er sich auf persönliche, individuelle Leistungen bezieht. Genauso gut könnte Peterson behaupten, ein Vater dürfe nicht stolz auf die Leistungen seines Sohnes sein und umgekehrt; oder ein Unternehmer nicht auf seine Firma, ein Sportler nicht auf sein Team, ein Mensch nicht auf seine Heimatstadt.
Stolz ist nicht notwendigerweise dasselbe wie Hochmut, die »Superbia« der sieben Todsünden. Hier hat Peterson seine eigene Lektion der Hummer und Singvögel vergessen, die gleich zu Beginn seines Maximenkatalogs auftaucht. Diese Tierchen verteidigen ihr Revier mit einem aufwendigen Dominanz‑, Souveränitäts- und Überlegenheitsgebaren, und wenn sie es nicht tun, droht ihnen der Tod.
Die »ethische Bürde«, die eigene Zivilisation (also das große, überindividuelle Ganze) zu erhalten, zu tradieren und zu verbessern, wird dem Einzelnen eher durch stolze Identifikation mit dem Kollektiv und durch aneignende Begeisterung bewußt als durch rationale Überlegungen.
Der Stolz auf die Leistungen der Vergangenheit und der eigenen Gruppe kann ein entscheidender, sinnstiftender Ansporn sein, sich seiner Vorfahren würdig zu erweisen, ihr Erbe zu verteidigen, zu erneuern und zu bereichern. Kein Ethos ohne Pathos und Thymos.
Man hat auch eine »schreckliche Verantwortung« gegenüber seinem Volk, seiner Kultur, seiner Nation, seinem Gemeinwesen. Demgegenüber schmeckt der Appell zum Rückzug ins Individuelle und Individualistische nach Selbstverwirklichungstrips, die alles andere als quer zum Zeitgeist liegen.
Auch Petersons verdienstvolle »konservative« Fassung hat eine solche Schlagseite. Der kanadische Geschichtssoziologe Ricardo Duchesne, Autor des Buches The Uniqueness of Western Civilization (Leiden und Boston, 2011), kritisierte Peterson scharf, und verwies auf die Asymmetrie der »Identitätspolitik« im Zeitalter der Massenmigration.
Die farbigen Völker, die Richtung Europa, Nordamerika, Australien und Neuseeland drängen, denken und fühlen überwiegend tribalistisch und kollektivistisch. Die politische Korrektheit, der Kulturmarxismus, die Ideologie der »Diversity« und des Antirassismus (ein Bereich, in den sich Peterson bezeichnenderweise kaum vorgewagt hat) haben am Ende immer nur ein einziges Ziel: den »weißen Mann« (damit auch die »weiße Frau«) seiner Identität und seiner Widerstandskräfte zu berauben, um die Zivilisation der weißen Völker zu unterminieren, aufzulösen, auszutauschen und zu plündern.
»Identitätspolitik« funktioniert wie alle Kriege: Ist er einmal erklärt, kann man nicht mehr »nicht hingehen«. »Individualismus ist ein einzigartiges Attribut der europäischen Völker«, so Duchesne.
Er wurde bis zu einem gewissen Grad in andere Nationen exportiert, liegt aber meiner Ansicht nach nicht in deren Natur. Deshalb ist das Spiel ›Wir sind alle Individuen‹ aussichtslos. Wir müssen den Stolz auf unsere ethnische Identität und unser Erbe nähren, um diesen merkwürdigen Individualismus des Westens zu erhalten.
Daran führt kein Weg vorbei, und man muß leider auch Jordan Peterson zu den konservativen Torwächtern rechnen, die eine systemerhaltende Rolle erfüllen und ein wahrhaftes Umdenken blockieren.
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