Deutschland gilt als eines der wohlhabendsten Länder der Welt; seit Jahren boomt die Wirtschaft auf einem Niveau, das viele mittlerweile für selbstverständlich halten. Trotz eines in der deutschen Geschichte wohl einzigartigen Wohlstandsniveaus hat sich eine Krisenstimmung ausgebreitet, die das Land »spaltet«, um es im heutigen Medien- und Politikerjargon zu sagen.
»Spalter« sind vor allem die sogenannten Populisten, die angeblich mit Halb- oder Unwahrheiten Haß und Zwietracht unter den Deutschen säen und das gewünschte Bild einer »weltoffenen Gesellschaft« in Frage stellen. Deutschlands Ansehen in der Welt werde damit, so die Ansicht führender Vertreter von Politik, Wirtschaft und Medien, »beschädigt«.
Viele Bundesbürger, die dessen ungeachtet Anzeichen einer schwelenden Krise orten, sehen sich in einen Zustand getrieben, der mit dem Begriff der kognitiven Dissonanz umschrieben werden kann. Psychologen meinen damit einen Gefühlszustand, den Menschen verspüren, wenn sie miteinander unvereinbaren Wahrnehmungen, Gedanken oder Meinungen ausgesetzt sind.
Diese Diskrepanz wird um so stärker empfunden, je mehr Erkenntnisse gewonnen werden, die nicht mit den eigenen Einstellungen in Übereinstimmung zu bringen sind. Die menschliche Reaktion auf diese Situation besteht in der Regel darin, diese gegensätzlichen Tendenzen miteinander vereinbar zu machen.
Notfalls werden dafür auch Überzeugungen und Werte verändert, was sich politisch unter anderem in einem grundsätzlich anderen Wahlverhalten artikuliert. Die Auslöser kognitiver Dissonanz in Deutschland sind mannigfaltig. Selbst die aktuell wirtschaftlich gute Lage steht auf schwankendem Grund.
So ist Deutschland zweifelsohne einer der Hauptprofiteure der Gelddruck- und Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank. Dadurch kommt es allerdings zu Fehlentwicklungen, an denen die Deutschen noch lange knabbern werden: Gemeint sind damit unter anderem die dramatische Enteignung der Sparer und die Fehlallokationen der Geldflüsse in Immobilien- und Aktienblasen, die in einer Krise schwere Verluste verursachen könnten.
Auch der Rekordstand an Erwerbstätigen, mit dem die Politiker der etablierten Parteien hausieren gehen, erweist sich bei näherem Hinsehen als Schimäre. Der Wirtschaftswissenschaftler Gunnar Heinsohn hat hier die Gegenrechnung aufgemacht: Von den rund 40 Millionen Erwerbstätigen (Stand 2016) in Deutschland erhielten 13 Millionen mehr zurück, als sie an Steuern zahlten.
Von den verbleibenden 27 Millionen Netto-Steuerzahlern würden zwölf Millionen direkt oder indirekt aus Staatstöpfen bezahlt. Netto-Steuerzahler sind also nur diejenigen, die mehr Steuern und Abgaben zahlen, als sie an staatlichen Umlagen oder Leistungen zurückerhalten – 15 Millionen Netto-Steuerzahler in Deutschland also.
Sie nun hätten ihr Geld gegen nationale und internationale Konkurrenz zu verdienen. Acht Millionen davon, unter 44 Jahre alt und in internationaler Konkurrenz stehend, würden von den globalen Wettbewerbern umworben. Wer diese zehn Prozent Leistungsträger der Nation nur als »Dukatenesel« sehe, verspiele nach Heinsohn die Zukunft.
Der anhaltende »brain drain« von Leistungsträgern aus diesem Segment ins konkurrierende Ausland sei deshalb mehr als ein Alarmsignal. Die Einwanderungspolitik der Wettbewerber Deutschlands, seien es die anglosächsischen Staaten, aber auch zum Beispiel die Schweiz, hat diese Leistungsträger im Blick.
Sie müssen in diesen Ländern nur 25 Prozent ihres Verdienstes als Steuern abgeben, anstatt 50 Prozent hierzulande. Die Anreize für die Zuwanderung Bildungsferner wird dort erschwert, sodaß eine Einwanderung in die Sozialsysteme weitgehend unterbunden ist.
Diese Länder sind im weiteren skeptisch im Hinblick auf eine »pädagogische Verbesserung der Neuankömmlinge«. Demgegenüber hängt die deutsche Politik weiter der Illusion an, durch Integrationsmaßnahmen aller Art (»Willkommenskultur«) jeden beliebigen Zuwanderer in die deutsche Gesellschaft eingliedern zu können.
Indikatoren, an dem die krisenhafte Stimmung abgelesen werden kann, sind »populistische« Strömungen und Parteien, aber auch die sozialen Medien. Was sich dort abspiele, so Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der Zeit, erinnere ihn mittlerweile an die Mißachtung und Verächtlichmachung der demokratischen Institutionen in der Weimarer Demokratie.
Die erregten Ausbrüche in den sozialen Medien, aber auch in den Kommentarfunktionen etablierter Medien im Netz, stehen pars pro toto für die tiefgreifende Verunsicherung eines Gemeinwesens, das sich seit der Merkelschen Grenzöffnung im September 2015 seiner selbst nicht mehr gewiß ist.
Sozialwissenschaftler aller Couleur bemühen sich seit Jahren, dieses Phänomen auf den Begriff zu bringen. »Postdemokratie« ist einer dieser Begriffe, mit dem man das sich ausbreitendende Unbehagen zu erfassen versucht. Der britische Politikwissenschaftler und Soziologe Colin Crouch hat diesen Begriff bekannt gemacht.
In seinem 2008 ins Deutsche übersetzte gleichnamige Buch definiert er »Postdemokratie« als »Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden«, in dem allerdings »konkurrierende Teams von PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, daß sie zu einem reinen Spektakel verkommen«.
Es würde nur noch über die Probleme diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt hätten. Die Demokratien westlichen Zuschnitts näherten sich dem Zustand der »Postdemokratie« immer weiter an, was zur Folge habe, daß der »Einfluß privilegierter Eliten« zunehme.
Der Fokus allerdings, den Crouch gewählt hat, ist bei weitem nicht umfassend genug, um die Konturen des heutigen Krisengefühls abzubilden und zu deuten. Crouchs Perspektive ist eine sozialdemokratische, sein Feindbild der sogenannte Neoliberalismus.
Der linke Publizist Robert Misik hatte richtig erkannt, Crouch hätte vor allem der »europäischen Sozialdemokratie Selbstbewußtsein geben« und ihr »Klarheit über ihre Aufgaben verschaffen« wollen. Nicht zuletzt die aktuellen desaströsen Wahlergebnisse der SPD aber zeigen, daß Crouchs Intentionen ins Leere gelaufen sind. Seine Lageanalyse ist offenbar unzureichend.
Stattdessen erleben »populistische« Strömungen und Parteien Zulauf. Dieser Zulauf läßt die Verortung der unterschwelligen Krise in eine ganz andere Richtung angezeigt erscheinen. Ihr ist der in England lehrende ungarischstämmige Soziologe Frank Furedi auf der Spur.
Furedi diagnostiziert einen grundlegenden Konflikt, den er als europäischen Krieg der Kulturen und Werte bezeichnet und der mit den Kategorien links und rechts nicht mehr zu fassen sei. Das, was heute unter den Begriff »Populismus« subsumiert werde, sei die moralische Schuldigsprechung oppositioneller autochthoner Europäer durch ihre Eliten.
Populisten seien fremdenfeindlich, rassistisch, reaktionär, irrational und Vertreter einer Lebensweise, die von den Vertretern der »Eliten« in der Regel als »rückwärtsgewandt« denunziert wird. Diese »populistische« Klientel wiederum ist durch ihre klare Absage an die Kultur und Werte der westlichen (=transatlantischen) Eliten gekennzeichnet.
Hierzu gehören der Multikulturalismus, die Globalisierung und das, was Furedi »Identitätspolitik« nennt. Zur Genese und aktuellen Bedeutung der »Identitätspolitik« hat sich Furedi unter anderem in der Neuen Zürcher Zeitung ausführlicher geäußert; in diesem Beitrag wird deutlich, wie diese Politik zu einem Faktor des heutigen Krisenbewußtseins werden konnte.
Die Politisierung der Identitätsfrage im späten 18. Jahrhundert war, so Furedi, zunächst eine »Reaktion konservativer Kräfte auf die Aufklärung und insbesondere auf deren Bekenntnis zum Universalismus«. Die Konservativen setzten dagegen, daß die einzig bedeutsame Identität »diejenige spezifischer Völker und Gruppen« sei.
Nach und nach sickerte diese Vorstellung »distinkter kultureller Prägungen in den Diskurs des Nationalismus ein«. All dies stand, so Furedi, »dem Geist der Aufklärung diametral entgegen«. Wie konnte es nun dazu kommen, daß Identitätspolitik zum Anliegen der Linken werden konnte?
Furedi und ausführlich der Politikwissenschaftler Mathias Hildebrandt in seiner Arbeit Multikulturalismus und Political Correctness in den USA, zeichnen nach, wie sich auf Seiten der Linken der Fokus vom Klassenkampf auf die Identitätsfrage verschoben hat.
Die Unterstützung von Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, aber auch der Bürgerrechtsbewegung in den USA (insbesondere die der Afroamerikaner) wurde für die Linke in den sechziger und siebziger Jahren zur »Hauptquelle radikaler Identität«.
Damit verbunden war eine »Abkehr von gesellschaftlich breit abgestützten Interessen und die Hinwendung zu partikulären Anliegen«. Furedis zentrale These lautet nun, daß sich der »schrumpfende Erwartungshorizont der Linken«, deren neues Selbstverständnis sich mehr und mehr in der »kulturellen Wende« fokussierte, zunehmend zu einer Distanzierung von ihrem Kernanliegen, der »gesellschaftlichen Solidarität«, führte.
Die bedeutsamste Folge dieser Entwicklung war eine »Sakralisierung der Identität«. Die Ideale der »Differenz« und der »Diversität« (Vielfalt) verdrängen das der Solidarität. Diese Identitätsfokussierung lud sich in den 1970er Jahren durch die Politisierung der Opferrolle weiter auf; ganze Gruppen machten sich diesen Status zu eigen.
Die Opferrolle ist mit einer Immunisierung verbunden. Opfer sind »a priori schuldlos«; ihnen wächst »moralische Autorität« zu. Ein markanter Wesenszug heutiger Identitätspolitik ist ihre Tendenz zur Abschottung und Individualisierung.
Zu beobachten ist eine ständige Zunahme von Gruppen, die sich auf Identität berufen, von der »Mehrheitsgesellschaft« separieren und damit die Fragmentierung des Gemeinwesens befördern. Politisch wird diese Fragmentierung mit dem Begriff »Diversität« (Vielfalt) übertüncht, der sich, angestoßen von der EU, seit Ende der 1990er Jahre zur Unterscheidung und Anerkennung von Gruppen- und individuellen Merkmalen eingebürgert hat.
»Diversität« müsse, so deren Propagandisten, als gesellschaftliche und besonders als ökonomische »Ressource« betrachtet werden. Tatsächlich ist sie Ausdruck einer immer weiter voranschreitenden gesellschaftlichen Heterogenität und Fragmentierung, die das Gemeinschaftsgefühl zunehmend erodiert.
Befeuert wird diese Entwicklung durch eine unregulierte Migrationspolitik, die zum Treibsatz gesellschaftlicher Spaltung geworden ist; insofern handelt es sich hier tatsächlich um die »Mutter aller Probleme«, wie Bundesinnenminister Horst Seehofer feststellte.
Daß ein Großteil der Migranten nicht mehr aus Gründen rassischer, politischer oder religiöser Verfolgung nach Europa und insbesondere nach Deutschland drängt, sondern aus anderen Motiven, ist mittlerweile evident. Sie kämen, so resümierte der österreichische Publizist Andreas Unterberger auf seinem Blog, zum einen um Arbeit zu finden (die es für viele aufgrund mangelnder Qualifizierung nicht gebe), zum anderen, weil die Aussicht auf Sozialleistungen aller Art locke oder drittens, weil sie kriminelle Absichten hätten.
Daß der deutsche Staat diesem Zustrom kaum etwas entgegensetzt, hat maßgeblich zu einer unterschwelligen Krisenstimmung geführt, die das Aufkommen »populistischer« Strömungen begünstigt hat. Diese Stimmung wird durch die sich ausbreitende organisierte Kriminalität weiter angefacht, die das Sicherheitsgefühl vieler Bürger insbesondere in den Großstädten immer weiter beeinträchtigt.
Mindestens ebenso schwer wögen nach Unterberger die gravierenden Fehlentwicklungen auf EU-Ebene, seien es nun die Mißachtung eigener Beschlüsse oder Gesetze, die Griechenland-Rettungspolitik, Überregulierung, die expansive Geldpolitik der EZB und anderes mehr.
Diese Fehlentwicklungen stehen in direkter Korrelation zur Krise der Parteiendemokratie; die lange herrschenden Volksparteien wirken angesichts der komplexen politischen Herausforderungen überfordert. Das hängt auch mit dem politischen Personal zusammen, das bestenfalls die personalisierte Mittelmäßigkeit ihrer Parteien repräsentiert.
Der Existenzkampf der SPD ist ein signifikanter Ausdruck dieser Krise; aber auch schrumpfende Mitgliederzahlen und zunehmende Überalterung. Letztlich sind auch die aktuellen Wahlerfolge der Bündnisgrünen ein Ausdruck dieser Krise, repräsentieren sie in Deutschland doch am stärksten kosmopolitische Positionen.
Sie stehen für die Überbetonung individueller Rechte, offene Grenzen, für eine permissive Zuwanderungspolitik, kulturellen »Pluralismus« und für einen Umweltschutz ohne Maß und Verstand. Diese Positionierung ist mehr oder weniger auch das Credo der kosmopolitischen Eliten in Wirtschaft, Staat und Medien. Der »politische Diskurs der Herrschenden«, so konstatiert der Berliner Politologe Wolfgang Merkel, sei »zum herrschenden Diskurs geworden«. Daß die Kritik an diesem Diskurs häufig »moralisch delegitimiert« werde, habe den Rechtspopulisten den Kampfbegriff der »politischen Korrektheit« geliefert.
Merkel sieht die »populistische Revolte« vor allem von der männlichen Unter- und (unteren) Mittelschicht getragen, und zwar als Reaktion auf den »überschießenden Kosmopolitismus und Moralismus des Mainstreams und der Bessergestellten«.
Merkel kritisiert in diesem Zusammenhang auch das funktionalistische »Primärargument« der Kosmopoliten, die Welt sei mittlerweile »so stark vernetzt«, daß »transnationale Probleme« nur nationalstaatsübergreifend bekämpft werden könnten.
Je »größer und komplexer aber die politischen Räume« seien, um so weniger ließen »sie sich demokratisch regieren«. Die Kosmopoliten sind blind für die Ursachen der »populistischen Revolte«; sie haben kein Sensorium für den Wert des Nationalstaates, für die Angst vor dem Verlust von Heimat oder einer vertrauten Lebenswelt, die sie, so Merkel, »als moralisch insuffizient aus unseren Debatten ausgrenzen«.
Das gilt besonders im Hinblick auf die Migrationspolitik und deren gesellschafts- und kulturverändernde Folgen. Die hiermit verbundenen gravierenden Veränderungsprozesse brachte der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Yascha Mounk wie folgt auf den Punkt:
Es ist ein historisch einzigartiges Experiment, eine Demokratie zu nehmen, die diese monoethnische Vorstellung von sich selber hatte, und sie in eine multiethnische Gesellschaft umzuwandeln.
Nach Mounk gebe es »große Bevölkerungsteile, ich zähle mich da hinzu, die das willkommen heißen, die das wunderbar« fänden. Aber natürlich gebe es »auch Teile der Gesellschaft, denen das Ängste bereitet und die sich dagegen aufbäumen.«
Das müßten wir »offen anerkennen«. Ungeachtet dessen stellt Mounk in seinem Buch Der Zerfall der Demokratie einseitig den »Rechtspopulismus« ganz im Sinne der kosmopolitischen Eliten als »Gefahr für unsere Demokratie« an den Pranger.
Es gibt derzeit keine Anzeichen dafür, daß die kosmopolitisch gestimmten Eliten die von Mounk angesprochenen »Ängste« anerkennen könnten. Stattdessen wird den Protagonisten des »Populismus« vorgeworfen, Feindseligkeiten überhaupt erst zu erzeugen, »Ängste zu schüren« und »Haß« zu wecken.
Der Althistoriker Egon Flaig hat diese daraus folgende Argumentationsmechanik auf den Punkt gebracht:
Der hegemoniale Politikstil in den westlichenGesellschaften sucht nach einer doppelten Abhilfe; zum einen soll das Recht die Konflikte exemplarisch lösen oder unterdrücken; zum anderen soll eine multikulturalistische Leitidee an die Stelle der Orientierung auf Menschenrechte und Demokratie treten.
Daß daraus Konflikte erwachsen, die sich administratorisch oder ökonomisch nicht mehr befrieden lassen, hat Botho Strauß bereits vor 25 Jahren vorausgesehen, als er ankündigte:
Zwischen den Kräften des Hergebrachten und denen des ständigen Fortbringens, Abservierens und Auslöschens wird es Krieg geben.
Hier liegt der Kern einer Krise, die existentieller Natur ist. Es ist eine Krise, die die Zukunft der Deutschen nachhaltig verändern wird. Es hängt auch vom Erfolg der »populistischen Revolte« ab, ob im »europäischen Krieg der Kulturen und Werte« so etwas wie eine »nationale Identität« erhalten werden kann.
In dem Maße, in dem sich die kosmopolitischen Eliten einer grundlegenden Korrektur ihrer gesellschaftspolitischen Konzepte verweigern und jegliche Kritik als illegitim ausgrenzen, wird sich die schwelende Krise weiter vertiefen.