Der erste Eindruck, den der Schweizer Historiker und Kommentator Jakob von Salis nach dem Zusammenbruch 1945 von den Deutschen hatte, war der von verstörten Haufen. Das war nicht nur der Ausdruck der totalen Niederlage, der Eroberung jeden Quadratmeters deutschen Bodens durch die Siegermächte, sondern mehr noch der Orientierungslosigkeit, in der das Dritte Reich an seinem verantwortungslosen Ende das deutsche Volk hinterlassen hatte.
Ein anderer Schweizer, der jüdische Nationalökonom Edgar Salin, sagte mir in den 1960er Jahren in Basel, das Hauptmerkmal der Deutschen nach 1945 sei für ihn ihr vorbehaltsloser Opportunismus gewesen und geblieben. Er war die Folge jener Orientierungslosigkeit und er richtete sich am Willen und den Vorstellungen der jeweiligen Besatzungsmacht aus.
So setzten sie der methodischen Austreibung des deutschen Volksgeistes durch die Umerziehung keinen ernsthaften Widerstand entgegen. Vielleicht war es nur die noch inkarnierte deutsche Art, an der zunächst manches abprallte. Sollte es in den besatzungslizenzierten politischen Klassen eine Konzeption gegeben haben, die auf den Tag X nach dem Ende der Fremdherrschaft gerichtet war, so konnte sie nur in Ansätzen und in einigen Köpfen vorhanden gewesen sein.
Die Verantwortlichen hätten sich um eine entsprechende Nachwuchsförderung kümmern müssen. Von einer solchen Strategie konnte allerdings keine Rede sein. Ich gehöre jedenfalls zu der Generation, die in solchem Sinne subkutan hätte eingesetzt werden müssen. Ich habe am eigenen Leibe in der DDR wie in der BRD nur immer das Gegenteil erfahren.
Trotzdem erlebte ich in den 1980er Jahren verblüfft, wie nach einem Vortrag von mir vor dem Ennstaler Kreis in Bad Aussee der Vertreter der Adenauer-Stiftung in Wien aufstand und sagte:
Ich habe hier zu meinem Unbehagen wieder einmal das Wort Umerziehung hören müssen. Ich möchte hier mit allem Nachdruck unterstreichen, daß dieses Wort unsinnig ist. Die Deutschen sind nach 1945 zum ersten Mal in der Geschichte richtig erzogen worden. Ich habe auch eine solche Erziehung genossen und ich bin stolz darauf.
Ich hielt den Mann für ein Unikat, ohne mir darüber klar zu sein, daß er einen Typus verkörperte, der schon die erste Etappe der Machtübernahme hinter sich hatte. Heute bestimmt dieser Typus in unserem Land unbeschränkt, was geschieht – unbekümmert um den Willen des Volkes, unbesorgt um den Schaden, den er ihm zufügt.
Die Alliierten hatten sich viel Zeit gelassen, um das alles in Szene zu setzen. Im Besitz unantastbarer Verfügungsgewalt über die Deutschen, trieb sie nichts zur Eile. Um so gründlicher vollzog sich der nationale Niedergang.
Auch wer heute noch an eine deutsche Zukunft glaubt, muß zugeben: die Deutschen haben sich in den Jahrzehnten nach 1945 alles nehmen lassen, was sie zu ihrer Reproduktion als Volk nötig gehabt hätten: die angeborenen und erworbenen Tugenden, ihren Stolz, ihre Ehre, das eigene Rechtsempfinden, ihre Wirtschaftsart, den Willen zur nationalen Einheit und Unabhängigkeit, den Anspruch auf den geraubten deutschen Osten, das Recht auf eine eigene Sichtung ihrer Geschichte.
Man hat sie eine Weile zu beträchtlichem Wohlstand kommen lassen, damit sie sich in die Fremdbestimmung fügen. Seit es nicht mehr für nötig gehalten wird, steht auch das, was sie nach 1945 wirklich geleistet haben, zur Disposition. Als mit dem Untergang des Kommunismus die deutsche Einheit nicht mehr zu verhindern war, fügten sich die Deutschen in die anschließend auferlegte Preisgabe ihrer Identität und ihrer Währung.
Sie lassen es heute ebenso grosso modo geschehen, daß Deutschland zu einem multiethnischen Einwanderungsland umfunktioniert wird, damit es unter sich nicht mehr zu sich selbst kommen kann. So wie die Deutschen nach 1945 konstruktiv an ihrer Einbindung mitarbeiteten, betreiben sie – trotz einiger aufflackernder Widerstände – destruktiv ihre Auslöschung. Und die Politiker, die das alles bedenkenlos vollstrecken, werden auch noch mehrheitlich gewählt.
Anfang der 1990er Jahre ging ich in langen abendlichen Disputen mit Hans-Joachim Arndt in seinem Haus auf einem Hügel bei Heidelberg der Frage nach, wann, nach welcher Zäsur in der Bundesrepublik dieser Niedergang begonnen hat: als die FDP in der Mitte der 1950er Jahre ihre nationalen Eierschalen ablegte, nachdem Adenauer abgetreten war oder erst um 1968, als Heidegger sagte: »Nur noch ein Gott kann uns retten.«
Heute bin ich zu der Überzeugung gelangt: es hat keine Zäsur gegeben. Der Niedergang erscheint mir auch allein politisch nicht mehr erklärbar. Es muß elementarere Einbrüche gegeben haben. Die alliierten Rechnungen wären sonst nicht alle so restlos aufgegangen.
Ich möchte hierzu eine spezielle und eine allgemeine Prämisse vorstellen. Zunächst die spezielle: Die Deutschen haben in drei schweren Kriegen in einem Zeitraum von siebzig Jahren zu viel Volkssubstanz verloren: 1870/71, 1914–1918, 1939–1945.
Jedes Volk verfügt nur über ein begrenztes elitefähiges Potential. Da es unserem Volkscharakter nicht liegt, daß sich die führenden Kräfte hintenhalten, haben in jedem Krieg, in dem ein deutsches Land verwickelt war, die deutschen Armeen mehr Offiziere verloren als ihre Gegner.
Deswegen wirkten sich die drei letzten Kriege auch so verheerend aus, vor allem der letzte, der in einer solchen Aussichtslosigkeit endete, daß es nicht nur mehr Gefallene gab, als zu verantworten gewesen wäre. Es haben sich auch zahllose tapfere junge Männer selbst den Schlußpunkt vor die Stirn gesetzt.
Das war persönlich verständlich, wenn auch politisch verblendet. Jeder einzelne von ihnen hatte mehr Charakter als die davongekommenen Kameraden, die sich den Besatzern andienten. Sie waren unersetzlich. So hatten die Deutschen nach 1945 ganz einfach keine intakten Eliten mehr.
Eine Neubildung war ausgeschlossen: unter Besatzungsregimen wachsen nur Ochlokratien heran, die aus ureigenstem Interesse den Aufstieg von Personen abblocken, die dem hochgekommenen Schrott geistig und moralisch überlegen sind. Bei der ausgebluteten Substanz war ein Konzept, die Besatzungspolitik zu unterlaufen und im geeigneten Moment auszuhebeln, nicht durchzuhalten.
Bei ihrer schwer beschädigten Volkssubstanz konnten die Deutschen nach 1945 auch der Vermassung durch Vermehrung, die bis heute ein globales Phänomen darstellt, keine Grenzen setzen, wie man es noch auf seine Art im Dritten Reich versuchte, das ihr aber auch letztlich erlag.
Heute entziehen sich die Massen jeglicher Formbarkeit. Hier verbindet sich die besondere mit der allgemeinen Prämisse. Die Hauptmerkmale der Vermassung sind der Absturz der Bildung und die Auflösung der Gemeinschaft in die, von David Riesman so bezeichnete, »einsame Masse« vereinzelter wie nivellierter Individuen, denen jeglicher Antrieb zur Persönlichkeitsbildung abhandengekommen ist.
Lange vor dem letzten Weltkrieg hat sich Ortega y Gasset in seinem berühmten Aufstand der Massen mit diesem Phänomen fundamental befaßt, nach 1945, weniger bekannt, aber nicht weniger erschöpfend: Hendrik de Man in Vermassung und Kulturverfall (1951) und Eckart Knaul in Das biologische Massenwirkungsgesetz (1985).
Von diesem Phänomen voll erfaßt, betrachteten die meisten Deutschen nach 1945 alles, was sich um sie herum tat, unter dem Gesichtspunkt des persönlichen Nutzens. Sie wähnten dabei, in ein Zeitalter endloser Massenbedürfnisbefriedigung eingetreten zu sein.
Das Wissen, das nötig war, um warnende Vergleiche zu ziehen, war ihnen verloren gegangen. Das Erbärmliche an dieser Existenzweise empfand der »eindimensionale Mensch«, wie Herbert Marcuse ihn richtig bezeichnete, nicht mehr. Daß die schönen Tage von Aranjuez begrenzt sind, erfährt der Einsame in der Masse nur, wenn sie für ihn selbst zu Ende gehen, und zwar folgenlos zu Ende gehen.
Aber es bleibt auch ohne Folgen, wenn es massenweise zum Ende geht. Die Menschen haben keinen Begriff mehr von dem, was mit ihnen geschieht. Das wäre auch der Fall, wenn sie selbst, weil sie es nicht mehr ertrügen, alles über eine plötzlich große Empörung noch zum Einsturz brächten.
Wie es weiterginge, wüßten sie dann nicht besser als die Mitteldeutschen nach der Beseitigung der DDR. Die Wendung »verstörte Haufen« würde nicht ausreichen, die Ratlosigkeit zu beschreiben, die sich epidemieartig ausbreiten wird. Der Weg dahin ist schon von endlosen Kolonnen bestückt.
Die Höllenfahrt ist wohl nicht mehr vermeidbar. Der Schrott, der in unserem Land seit langem die Macht ergriffen hat, ist nicht einmal fähig, die Höllenfahrt abzufedern. Es geht steil und mit voller Wucht abwärts. Der Aufprall wird um so fürchterlicher, als sich die vereinigte BRDDR mit Unterstützung ihrer vier Gewalten und unter wohlwollenden Blicken der Besatzungsmächte, denen der »Kreuzzug für die Demokratie« weniger wichtig war als die dauerhafte Niederhaltung der Deutschen, aus Gründen der Machterhaltung sukzessive in eine totalitäre Diktatur verwandelt, die gleitende Übergänge in eine andere Ordnung der Verhältnisse verwehrt.
Wir können sinnvoll nur noch nach der Katastrophe ansetzen, die zahlreiche Imponderabilien entfesseln wird. Für eine deutsche Zukunft kommt alles darauf an, ob sich dann unter den Trümmern noch trächtige Kräfte regen. Ich zweifle nicht daran, daß es sie dann noch gibt.
Es ist nur ungewiß, ob sie ausreichen und ob es ihnen gelingen wird, die Regierungsruder in die Hand zu nehmen. Wie das geschehen kann, muß dem Gang der Dinge überlassen bleiben, dessen Phantasie alle Szenarien übersteigt. Eingriffe von außen sind bei einer solchen Neuordnung nicht zu befürchten.
Der Niedergang, der die Deutschen aus ihrer Bahn warf, ist global. Es gibt kein Land auf dieser Erde, das dann nicht mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hätte. Wir könnten uns dann auch ungestört einer neuen Elitebildung widmen, denn einen Krieg – auch auf dem gehegten Boden eines neuen Jus Publicum Europaeum – können wir uns für ein ganzes Jahrhundert nicht mehr leisten.
Zu befürchten sind freilich Eingriffe von innen. Lange Perioden von Fremdherrschaft und bürgerkriegsartigen Zuständen wirken sich unerhört demoralisierend aus, auch bei Frondeuren. Es könnten sich leicht mörderische Affekte wiederholen, denen auf der Schwelle vom römischen Bürgerkriegsjahrhundert zum Imperium Romanum Julius Cäsar oder nach der Zerschlagung der römischen Besatzungsstreitkräfte Hermann der Cherusker zum Opfer fielen.
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