In Zeiten des demographischen Niedergangs stellt sich die Frage, wie der Sozialstaat langfristig überleben soll. Die etablierte Politik neigt dazu, der Wirtschaft durch Masseneinwanderung neue Arbeitskräfte zu verschaffen. Die Welt titelte im April 2018: »Wir brauchen Rente mit 70 – oder 500 000 Zuwanderer im Jahr«.
Für letztere Option hat sich die Bundesregierung mit ihrem neuentworfenen Fachkräftezuwanderungsgesetz entschieden. Es sieht vor, jeden nach Deutschland einreisen zu lassen, der ein halbes Jahr auf Arbeitssuche gehen will. Voraussetzung ist, daß man zumindest eine »angehende« Fachkraft ist.
Eine Beschränkung auf Mangelberufe ist aber nicht festgeschrieben. Zudem bleibt unklar, was mit jenen Personen passiert, die keine feste Anstellung ergattern konnten. Werden sie im Zweifelsfall konsequent abgeschoben, gehen sie von selbst? Deutschland öffnet damit nach dem UN-Migrationspakt das nächste Tor.
Die federführenden Ökonomen hinter dem Fachkräftegesetz erhoffen sich 15 Millionen zusätzliche nichteuropäische Arbeitskräfte bis 2050, die den Rückgang der deutschen Bevölkerung in diesem Zeitraum ausgleichen sollen. Das Kippen der Mehrheitsverhältnisse wäre besiegelt.
Mit der IfS-Studie zur Fachkräftesicherung liegt eine Arbeitsgrundlage für die Lösung der Alterungs- und Fachkräftemangelproblematik vor: Sie soll realistische Maßnahmen für die Volkswirtschaft insgesamt und für die Ebene der Unternehmen erschließen.
Im Folgenden einige Punkte:
- In unseren Zeitungen ist gelegentlich die Schätzung zu lesen, der Fachkräftemangel koste Deutschland bis 2030 über 500 Milliarden Euro. Diese Summe wirkt allerdings nur auf den ersten Blick furchteinflößend. Pro Jahr kämen wir bei Richtigkeit der Zahl auf Verluste von 40 bis 50 Milliarden Euro.
Das Markt- und Meinungsforschungsinstitut Gallup hat dagegen ausgerechnet, daß »innere Kündigungen« einen jährlichen Schaden von 112 bis 138 Milliarden Euro für unsere Volkswirtschaft anrichten. Mit stärker motivierten und gesünderen Mitarbeitern ließe sich folglich der negative Effekt des Fachkräftemangels um mehr als das Doppelte kompensieren. - Volkswagen expandiert in afrikanischen Staaten wie Ruanda und Kenia. Als positiver Effekt ist zu verbuchen, daß fortan Arbeitsplätze für Afrikaner in Afrika entstehen. Liefe die Globalisierung in diesem Bereich zunehmend in der Form den Migrationsdruck verringernder Entwicklungen statt, müßte sich Deutschland langfristig lediglich auf wissens- und kapitalintensive Tätigkeiten konzentrieren, die angemessen bezahlt sind.
- In Frage kommt in Ergänzung dazu der japanische Weg mit großen Anstrengungen zur Automatisierung der Wirtschaft. Roboter und künstliche Intelligenz gefährden den düstersten Prognosen zufolge fast jeden zweiten Arbeitsplatz. Für überalterte Gesellschaften läßt sich diese Befürchtung jedoch positiv lesen.
Sie könnten so Arbeit durch Kapital ersetzen, ohne Massenentlassungen vornehmen zu müssen.Auch wenn weniger Stellen wegfallen sollten, da neue Tätigkeitsfelder entstehen, wäre es eine überstürzte Schlußfolgerung, Über-Vollbeschäftigung durch Arbeitsmigration anzustreben. Deutschland erfuhr mit dieser Fehleinschätzung nach dem »Wirtschaftswunder« schon einmal in den 1970er und 80er Jahren einen Rückschlag, als sich herausstellte, daß die Gastarbeiter objektiv »überflüssig« wurden und die Arbeitslosigkeit von 0,7 Prozent (1970) auf 9,3 Prozent (1985) anstieg. - Um die Wirtschaft auf gewohntem Niveau zu halten, müssen in Deutschland nach übereinstimmenden Schätzungen rund 15 Millionen gut ausgebildete Arbeitskräfte tätig sein. Diese werden auch 2050 noch verfügbar sein.
Für die Anhänger des japanischen Weges dürfte die entscheidende Frage daher lauten, ob es gelingt, das Bildungsniveau entsprechend zu steigern, um technologisch Anschluß an die Weltspitze zu halten. - Japan ist aus einem weiteren Grund ambivalent zu betrachten: Neben der Automatisierung begegnet das Land der Überalterung mit einer schleichenden Enteignung des Volkes über eine jahrzehntelange Nullzinspolitik.
Dies setzt eine große Leidensfähigkeit des Volkes voraus, so der Ökonom Daniel Stelter. Er ist deshalb skeptisch, ob eine Übertragbarkeit auf Deutschland ohne weiteres möglich, geschweige denn wünschenswert ist. - Eine grundlegende Alternative wäre, über einen Abschied vom Wachstumsparadigma nachzudenken. Gemeint ist hierbei mitnichten, weniger »leisten« zu wollen. Vielmehr bedeutet dies, nach dem Sinn der Arbeit zu fragen, sich auf das wirklich Wichtige zu konzentrieren und den informellen Sektor (Nachbarschaftsinitiativen, Vereine, Haushalt usf.) zu stärken, statt eine Ökonomisierung im Sinne einer Kommodifizierung aller Lebensbereiche zu betreiben.
- In Folge der fortgeschrittenen Automatisierung nehme das »Betreuungselement der Arbeit« ständig zu, behauptet der anarchistische Anthropologe David Graeber. Amerikanische Arbeitnehmer verbringen nur noch ca. 40 Prozent ihrer Arbeitszeit mit ihrer eigentlichen Haupttätigkeit.
Dadurch entstünden einerseits unzählige »Bullshit-Jobs«, die insbesondere auf der mittleren Verwaltungsebene zu finden seien. Ein Übermaß an Bürokratie (unnötige Besprechungen, E‑Mails, …) erdrücke bei ihnen jede produktive Beschäftigung. Andererseits sorgt die Dominanz des Dienstleistungssektors dafür, daß viele dieser Tätigkeiten in Zeiten des Fachkräftemangels sehr einfach durch unbezahlte Eigenarbeit im Haushalt substituierbar wären.
Wenn ein gastronomischer Lieferdienst aufgrund von Personalmangel schließt, heißt dies für den Konsumenten im schlimmsten Fall, den Gang in die eigene Küche antreten zu müssen. - 74,5 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland arbeiten im Dienstleistungssektor. In etwa die Hälfte davon sind ausschließlich für binnenwirtschaftliche Zwecke angestellt. Stehen hierfür weniger Arbeitskräfte zur Verfügung, wirkt sich dies unter Umständen negativ auf die Lebensqualität aus, nicht aber auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit.
Müssen Landgasthöfe, Bäckereien oder Fleischer gerade im ländlichen Raum aufgeben, weil sie keine Nachfolger finden, ist dies bedauerlich und verursacht womöglich längere Wege und höhere Kosten für die Konsumenten. Unser materieller Wohlstand ist dadurch jedoch genauso wenig gefährdet wie durch das knappe Betreuungspersonal für Kleinkinder und Senioren. All diese Engpässe könnten unterdessen zu einer Renaissance der Familie und Aufwertung lokaler Hilfsstrukturen beitragen, wenn etwa die Pflege größtenteils nur im häuslichen Rahmen möglich sein sollte. - Die Option »Wachstumsverzicht« würde also bedeuten, als Volk enger zusammenzurücken, in Unternehmen zu entrümpeln und als Begleiterscheinung des demographischen Niedergangs geringfügige Verluste an Lebensqualität zu akzeptieren.
Die Ökonomen hinter dem Fachkräftezuwanderungsgesetz schließen diese Variante kategorisch aus, da sie nicht mehrheitsfähig sei. Sie dürften damit sogar recht haben, weil das Volk jahrzehntelang von der Vergabementalität des Staates geprägt wurde. - Alfred Müller-Armack, einer der Väter der sozialen Marktwirtschaft, konstatierte 1949, daß wir einen »Abbau jener sozialen Substanz, die aus der Vergangenheit her als festigendes Element im Gesellschaftsbau herüberragte«, erlebten. Zugleich neige unsere Zeit dazu, »sich vom Sozialen her zu charakterisieren«, was er der Massenkultur zuschrieb.
Als Lösung dieses Dilemmas schlug er eine Sozialpolitik vor, die »wieder menschlicher, konkreter, gebundener, familiärer, überschaubarer, naturverbundener und vielfältiger« sein sollte. Müller-Armack war sich stets bewußt, daß nur durch ein »dialektisches Verfahren« die unterschiedlichen Ideale einer Gesellschaft (Freiheit, Gerechtigkeit, …) vereint werden können.
Die auch in der IfS-Studie skizzierten Möglichkeiten der Fachkräftesicherung sind in diesem Kontext zu betrachten. Sie sollen helfen, das Gestrüpp aus Wachstum, Geschenkepolitik und Massendemokratie verlassen zu können, um eine zukunftsgewandte Debatte zu eröffnen.