Volksverhetzung

von Manfred Kleine-Hartlage
PDF der Druckfassung aus Sezession 88/Februar 2019

Kein rech­ter Publi­zist hat die faden­schei­ni­gen, lücken- oder lügen­haf­ten Begriff­lich­kei­ten der Zivil­ge­sell­schaft genau­er und luzi­der defi­niert als der Publi­zist und Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Man­fred Klei­ne-Hart­la­ge. Nach­fol­gend zwei Ein­trä­ge aus sei­nem Stan­dard­werk “Die Spra­che der BRD”, an des­sen erwei­ter­ter Neu­auf­la­ge er der­zeit arbeitet.

VOLKSVERHETZUNG – Der Tat­be­stand der Volks­ver­het­zung (§ 130 StGB) erfaßt bestimm­te Äuße­run­gen mit poli­ti­schem Bezug. Für einen demo­kra­ti­schen Rechts­staat soll­te es sich von selbst ver­ste­hen, sich bei der Bestra­fung poli­ti­scher Äuße­run­gen Zurück­hal­tung auf­zu­er­le­gen, zum einen wegen der erheb­li­chen Abgren­zungs­pro­ble­me – wo hört die Kri­tik auf, wo beginnt die »Ver­het­zung«? –, zum ande­ren, weil jeder Mei­nungs­pa­ra­graph poten­ti­el­le Hand­ha­ben lie­fert, völ­lig legi­ti­me, der Regie­rung aber miß­li­e­bi­ge Oppo­si­ti­on mund­tot zu machen.

Das deut­sche Kai­ser­reich, das wir uns als den Inbe­griff eines unde­mo­kra­ti­schen Obrig­keits­staa­tes vor­stel­len sol­len, führ­te den § 130 1872 ein. Bestraft wur­de die Auf­rei­zung zu Gewalt­tä­tig­kei­ten (und nur dies!) gegen eine Klas­se. Die Rege­lung bestand damals aus 33 Worten.

Dabei blieb es 88 Jah­re lang. Die Ade­nau­er-Repu­blik, die uns als mie­fi­ges, reak­tio­nä­res Restau­ra­ti­ons­re­gime ver­kauft wird, unter dem man kaum atmen konn­te, änder­te den Para­gra­phen 1960, kam aber immer noch mit 60 Wor­ten aus. Bestraft wur­de nun­mehr aller­dings auch, wer »zum Haß gegen Tei­le der Bevöl­ke­rung auf­sta­chelt, zu Gewalt- oder Will­kür­maß­nah­men gegen sie auf­for­dert oder sie beschimpft, bös­wil­lig ver­ächt­lich macht oder verleumdet«.

Die­se Rege­lung hielt nur noch 34 Jah­re. Unbe­rück­sich­tigt ist dabei jene win­zi­ge Ände­rung, die die sozi­al­li­be­ra­le Koali­ti­on, jene legen­dä­re Ban­ner­trä­ge­rin einer libe­ra­len, nich­tob­rig­keits­staat­li­chen Straf­rechts­re­form, 1975 ein­führ­te: Damals wur­de die Mög­lich­keit abge­schafft, auf Geld­stra­fe zu erken­nen, Frei­heits­stra­fe mit­hin zwin­gend vorgeschrieben.

Die wie­der­ver­ei­nig­te BRD, in die sich 17 Mil­lio­nen Deut­sche mit­samt ihrer DDR geflüch­tet hat­ten in der Hoff­nung, von staat­li­cher Mei­nungs­gän­ge­lei frei zu wer­den, ver­schärf­te den Volks­ver­het­zungs­pa­ra­gra­phen erneut, und zwar 1994. Mit der Neu­re­ge­lung wur­de das Ver­bot der soge­nann­ten Holo­caust­leug­nung ein­ge­führt und zum ers­ten Mal in der Geschich­te der moder­nen Demo­kra­tie ein bestimm­tes Geschichts­bild unter Stra­fe gestellt.

Außer­dem wur­de der Straf­tat­be­stand inso­fern aus­ge­wei­tet, als jeder, der nur irgend­wie an der Ver­brei­tung ent­spre­chen­der Schrif­ten betei­ligt war, nun­mehr eben­falls belangt wer­den konn­te. Folg­lich umfaß­te die neue Rege­lung 290 Wor­te und war damit fast fünf­mal län­ger als die von 1960.

Nach nur elf Jah­ren fand man auch die­se Rege­lung nicht mehr scharf genug: Ab 2005 wur­de »bestraft, wer öffent­lich oder in einer Ver­samm­lung den öffent­li­chen Frie­den in einer die Wür­de der Opfer ver­let­zen­den Wei­se dadurch stört, daß er die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Gewalt- und Will­kür­herr­schaft bil­ligt, ver­herr­licht oder recht­fer­tigt« (§ 130 Abs. 4 StGB), und bereits auf den ers­ten Blick ist erkenn­bar, daß die mit jeder Neu­re­ge­lung zuneh­men­de Ten­denz zum Gum­mi­pa­ra­gra­phen auch hier fort­ge­setzt wur­de: Was genau ver­letzt zum Bei­spiel »die Wür­de der Opfer«? Wel­che Aspek­te des natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Regimes unter­lie­gen einer Ver­ur­tei­lungs­pflicht? Nur die mehr oder min­der dik­ta­to­ri­schen oder auch die Auto­bahn? Nur die Auto­bahn oder auch die Müll­ab­fuhr? Wo ver­läuft die Gren­ze zwi­schen his­to­ri­scher »Erklä­rung«, die not­wen­di­ger­wei­se auch die Hand­lungs­mo­ti­ve der Akteu­re beleuch­ten muß, und »Recht­fer­ti­gung«?

Die BRD war in der Zwi­schen­zeit unbe­strit­ten zum tole­ranz­phra­sen­reichs­ten Staat avan­ciert, der jemals auf deut­schem Boden exis­tiert hat, dafür war sein Oppo­si­ti­ons­tot­schlag­gum­mi­pa­ra­graph 130 mitt­ler­wei­le bei einem Umfang von 342 Wor­ten angekommen.

Dies­mal ließ die nächs­te Ver­schär­fung nur noch sechs Jah­re auf sich war­ten. 2011 trat, und zwar zum Zwe­cke der »straf­recht­li­chen Bekämp­fung bestimm­ter For­men und Aus­drucks­wei­sen von Ras­sis­mus und Frem­den­feind­lich­keit« bzw. zur »Kri­mi­na­li­sie­rung mit­tels Com­pu­ter­sys­te­men began­ge­ner Hand­lun­gen ras­sis­ti­scher und frem­den­feind­li­cher Art« eine Neu­re­ge­lung in Kraft, die bereits kei­ne natio­na­le Rege­lung mehr war, son­dern auf der Basis von EU-Beschlüs­sen und Euro­pa­rats­ab­kom­men erfolgte.

Von nun an war der Tat­be­stand der Volks­ver­het­zung nicht mehr, wie bis­her, erst dann erfüllt, wenn eine gan­ze Grup­pe »beschimpft, bös­wil­lig ver­ächt­lich gemacht oder ver­leum­det« oder zum Gegen­stand von Haß- und Gewalt­auf­ru­fen wur­de; es genüg­te bereits, wenn ein Ein­zel­ner wegen sei­ner Zuge­hö­rig­keit zu einer sol­chen Grup­pe davon betrof­fen war.

Der Rechts­schutz für den Betrof­fe­nen wur­de dadurch nicht ver­bes­sert, denn selbst­re­dend war es schon zuvor als Belei­di­gung straf­bar, jeman­den zum Bei­spiel »Scheiß­tür­ke« zu nen­nen. Volks­ver­het­zung ist aber im Unter­schied zu Belei­di­gung ein Offi­zi­al­de­likt, d. h. der kon­kret Betrof­fe­ne muß sich selbst gar nicht belei­digt füh­len, und er muß auch kein eige­nes Inter­es­se an der Straf­ver­fol­gung haben.

Es genügt, daß irgend­wer die Belei­di­gung hört und dar­auf­hin Anzei­ge erstat­tet. Die Staats­an­walt­schaft muß dann ermit­teln und gege­be­nen­falls ankla­gen. Belei­di­gung wird mit bis zu einem Jahr Haft geahn­det, Volks­ver­het­zung dage­gen mit bis zu fünf Jahren.

Es geht schlicht um Mei­nungs­zen­sur, ver­bun­den mit einer Auf­for­de­rung an Denun­zi­an­ten. Man wun­dert sich gera­de­zu, daß nicht noch Beloh­nun­gen für »sach­dien­li­che Hin­wei­se« aus­ge­setzt wer­den. Es erüb­rigt sich bei­na­he schon, dar­auf hin­zu­wei­sen, daß »Scheiß­tür­ke« als Volks­ver­het­zung straf­bar ist, »Scheiß­deut­scher« aber nur als Beleidigung.

Ganz neben­bei sei noch erwähnt, daß das Bun­des­jus­tiz­mi­nis­te­ri­um (damals unter Füh­rung einer Minis­te­rin aus der libe­rals­ten Par­tei, die je auf deut­schem Boden exis­tier­te) dem Ver­fas­ser gegen­über noch weni­ge Mona­te vor der Geset­zes­än­de­rung leug­ne­te, eine sol­che Ände­rung zu pla­nen (obwohl die Bun­des­re­gie­rung sich längst dazu ver­pflich­tet hat­te) und die Vor­la­ge ohne gro­ße öffent­li­che Auf­merk­sam­keit durch das Par­la­ment peitschte.

In sei­ner aktu­el­len Fas­sung ist der § 130 StGB nun­mehr bei der stol­zen Anzahl von 388 Wor­ten ange­kom­men. Die Text­län­ge des Volks­ver­het­zungs­pa­ra­gra­phen kor­re­liert direkt mit dem mut­wil­lig poli­tisch her­bei­ge­führ­ten Wachs­tum nicht­deut­scher Bevölkerungsgruppen.

Ange­sichts die­ses Sach­ver­halts und der folg­lich immer schnel­ler auf­ein­an­der fol­gen­den Ver­schär­fun­gen fragt man sich nur noch, wann die nächs­te fäl­lig ist.


BEVÖLKERUNG
– Dem Wort­sin­ne nach ist eine Bevöl­ke­rung kei­ne Per­so­nen­ge­samt­heit, son­dern ein Vor­gang, näm­lich der des Bevöl­kerns, und es liegt eine gewis­se sub­ti­le Logik dar­in, daß der alt­ehr­wür­di­ge Begriff »Volk« gera­de in dem Moment aus der poli­ti­schen Spra­che der BRD ver­schwin­det, in dem Deutsch­land, wie alle ande­ren Län­der des Wes­tens, von Men­schen bevöl­kert wird, die bzw. deren Vor­fah­ren aus ganz ande­ren Welt­ge­gen­den stammen.

Daß der Begriff des Vol­kes eine beson­de­re Spreng­kraft hat, muß­ten zuletzt die Macht­ha­ber der DDR erfah­ren, die unter der Paro­le »Wir sind das Volk!« gestürzt wur­den. Offen­bar haben ihre Nach­fol­ger in der BRD kein Inter­es­se dar­an, die­se Erfah­rung zu tei­len, und offen­bar haben sie ein fei­nes Gespür für das, was sie ideo­lo­gisch stets abstrei­ten, näm­lich daß ein Volk eine Soli­dar­ge­mein­schaft ist, die nur des­we­gen, weil das so ist, kol­lek­tiv han­deln und gege­be­nen­falls auch Macht­ha­ber stür­zen kann. Kein Volk – kei­ne Soli­da­ri­tät. Kei­ne Soli­da­ri­tät – kei­ne Gefahr.

Als der nord­rhein-west­fä­li­sche Land­tag 2010 in einer Reso­lu­ti­on befür­wor­te­te, Minis­tern in Zukunft kei­nen Eid auf »das Wohl des deut­schen Vol­kes« mehr abzu­neh­men, und dies aus­drück­lich damit begrün­de­te, andern­falls wür­den Migran­ten aus­ge­grenzt, gaben die Abge­ord­ne­ten damit zu, daß Migran­ten nach ihrer Auf­fas­sung per defi­ni­tio­nem nicht zum deut­schen Volk gehö­ren und daß sie, die Poli­ti­ker, das Ziel, Ein­wan­de­rer ins deut­sche Volk zu inte­grie­ren, auf­ge­ge­ben hat­ten, sofern es über­haupt je ver­folgt wor­den war.

Was die poli­ti­sche Klas­se der BRD frei­lich kei­nes­wegs dar­an hin­dert, immer mehr die­ser Ein­wan­de­rer, von denen sie zugibt, daß sie nicht inte­griert wer­den kön­nen oder sol­len, ins Land zu holen. »Inte­gra­ti­on«: Das bedeu­tet ent­we­der die Auf­nah­me der Ein­wan­de­rer in ein inte­gres Gan­zes, näm­lich das deut­sche Volk, oder es bedeu­tet über­haupt nichts.

Inte­gra­ti­on soll nicht statt­fin­den, und einem Volk will die poli­ti­sche Klas­se der BRD sich nicht mehr gegen­über­se­hen, mit ihm will sie nichts mehr zu tun haben. Da die BRD aber den Anspruch erhebt, ein demo­kra­ti­sches Staats­we­sen (von demos = Volk) zu sein, gerät besag­te poli­ti­sche Klas­se in eine gewis­se Ver­le­gen­heit: Sie kann zwar im Sin­ne eines kal­ten Staats­streichs Fak­ten schaf­fen, indem sie den Rat umsetzt, den Ber­tolt Brecht nach dem Auf­stand vom 17. Juni 1953 der SED-Regie­rung gab, näm­lich das Volk auf­zu­lö­sen und sich ein neu­es zu wählen.

Sie kann aber nicht zuge­ben, daß sie das tut. Sie ist dar­auf ange­wie­sen, die Demo­kra­tie wenigs­tens als Fik­ti­on auf­recht­zu­er­hal­ten. Sie braucht das Wort »Volk«, aber weil die­ses Wort so gefähr­lich ist wie das, wofür es steht, läßt sie es von einem Wach­kom­man­do aus einer Vor- und zwei Nach­sil­ben eskor­tie­ren: Fer­tig ist die »Bevöl­ke­rung«.

Daß sie mit einem der­art plum­pen Manö­ver aller­dings durch­kommt, wäre kaum zu erklä­ren, wenn die BRD nicht schon seit 1949 eine Art Demo­kra­tie­si­mu­la­ti­on wäre: eine »Demo­kra­tie«, deren Reprä­sen­tan­ten fin­den, das Volk habe sich ihres Ver­trau­ens als wür­dig zu erwei­sen, wel­ches Volk sich aber gleich­wohl als »Sou­ve­rän« umschmei­chelt sieht, und die sich in den gut sech­zig Jah­ren ihres Bestehens den ihr gemä­ßen Bür­ger­typ her­an­ge­zo­gen hat, näm­lich den Demokratiesimulanten.

Wer dies nicht glau­ben möch­te, stel­le sich einen Moment lang den Gal­gen vor, an dem ame­ri­ka­ni­sche Poli­ti­ker hän­gen wür­den, wenn sie es wag­ten, die ame­ri­ka­ni­sche Ver­fas­sung nicht mehr mit »We the Peo­p­le«, son­dern mit »We the Popu­la­ti­on« einzuleiten.

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Die Spra­che der BRD von Man­fred Klei­ne-Hart­la­ge kann hier bestellt werden.

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