Acht bedeutende Denker, vier allgemein gehaltene und vier spezifische Beiträge über die Zukunft der Demokratie erwarten den Leser. Die Lage ist ernst, die Stimmung kritisch, das Argumentationsniveau hoch.
Im einleitenden Beitrag zieht Friedrich Wilhelm Graf einen dreifachen, jeweils bipolaren Spannungsbogen auf, der zum einen den Begriff der Demokratie thematisiert, zum zweiten die Frage der demokratischen Partizipation von Habermas’ äußerst voraussetzungsreicher utopistischer »herrschaftsfreien Kommunikation« bis zu Brennans empirisch gestützter Einsicht, daß moderne Bürger selten demokratiefähig seien, problematisiert, und schließlich, drittens, die Differenz zwischen liberalen und Wertintegrationstheorien aufzeigt und die Wesensfragen beider Denkansätze stellt. Letzteres ist auf geringem Raum exemplarisch gelungen.
Schon die Lektüre des Eingangsbeitrages rechtfertigt das Buch. »Vom Schwinden der Demokratie« von Horst Dreier ist ein eminenter, überblicksartiger, wohlstrukturierter Text über die Zerfallserscheinungen der westlichen Demokratie. Dreier beschreibt die konstitutionellen Elemente einer verfassungsstaatlichen Demokratie und trennt dabei zwischen Objekt (Staatsverfassung), Subjekt (Volk) und Modus (Repräsentation und Responsivität).
Bereits in dieser idealtypischen Beschreibung werden die Diskrepanzen zur politischen und verfassungsrechtlichen Realität sichtbar. In der folgenden Diagnose der Erosionstendenzen läßt er es an Deutlichkeit nicht mangeln. Er beschreibt A) die intrinsischen Probleme der Abwanderungsprozesse von Staatsmachtbefugnissen in andere Bereiche, der Europäisierung und Internationalisierung, die freilich als objektive Prozesse begriffen werden, sowie der Privatisierung; B) die Folgen für das Staatsvolk in Form von »Inkongruenz von Autoren- und Adressatenvolk« (»eine Schere zwischen dem Staatsvolk, das die Staatsgewalt legitimiert, und den Betroffenen, die dieser Staatsgewalt unterworfen sind«, sprich: Ausländer), sinkender Wahlbeteiligung, der Fünfprozent-Klausel, und schließlich C) den schleichenden Prozeß der Entparlamentarisierung etwa durch »Gesetzesoutsourcing«, Mißachtung des Gesetzesvorranges durch die Politik und die Vernachlässigung der Forumsfunktion des Parlaments.
Dabei scheinen die multiplen Gesetzesbrüche der Regierung Merkel immer wieder durch, wobei die Frage der Grenzöffnung noch nicht einmal erwähnt wird. Die abschließenden Handlungsoptionen bleiben zwar recht allgemein – immerhin hält er die »Umwandlung der EU in ein parlamentarisches System« wegen mangelnder »Responsivität« und dem »Austauschprozeß zwischen Repräsentanten und Repräsentierten«, für wenig zielführend –, formen vor dem aktuell-politischen Hintergrund dennoch genügend deutliche Konturen.
Auch Herfried Münkler sieht in seinem nachdenkenswerten Beitrag die Gefahr eines neuen Dritten zwischen den klassischen Polen Elite und Masse. Die Existenz dieser Think Tanks, Experten, Gemeinwohlunternehmer und NGOs gefährde die Demokratie und sei ursächlich für das Aufkommen von linkem und rechtem Populismus.
Diese sei jedoch komplex und die populistische Annahme, »eine Rückkehr zur Omnikompetenzunterstellung der klassischen Demokratie sei ohne weiteres möglich«, sei falsch. Bei Münkler läßt sich nachvollziehen, was einige Kritiker des Populismus mit der Formel, er habe nur einfache Lösungen und Parolen, eigentlich meinen.
Der Bürger müsse demnach wieder kompetent gemacht werden und das sei ohne Reflexion statt reiner Information, ohne »kluge Arrangements von Verkleinern und Vergrößern, Beschleunigen und Entschleunigen«, nicht möglich. Andernfalls drohe die »Letztevaluierung der politischen Ordnung«, sprich deren Zerfall.
Wissenschaftlich-technischer Fortschritt unter der Ägide des Fortschritts als hegemoniale Idee verleite zu dem Irrglauben an eine lineare Parallelität mit der Demokratieentwicklung. Wir befinden uns gerade in der prekären Situation, daß diese Annahme sich nicht mit der politischen Realität deckt.
In der Problemdiagnose sind sich Münkler und Egon Flaig, dessen zentraler Essay nun folgt, noch einig, die Unterschiede in den Schlußfolgerungen könnten gravierender nicht sein, auch weil Flaig die Migration explizit ins Problembild aufnimmt.
Flaig sieht eine intrinsische und eine extrinsisch verursachte Fragmentierung der Gesellschaft. Dies führe zu einem »schrumpfenden Raum für dissentisches Entscheiden«, geltende Vereinbarungen also, die gegensätzliche Meinungen und Haltungen befrieden unter dem apriorischen Vorbehalt des gemeinsamen Gemeinwohlgedankens.
Diese beruhten auf dem historischen Ausnahmefall der Mehrheitsentscheidung, die für die Demokratie konstitutiv sei. Dabei will er zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft unterschieden wissen: »Gesellschaften beruhen auf dem Tausch, Gemeinschaften auf dem Opfer«.
Frankfurter Schule und Systemtheorie haben »das Opfer aus dem politischen Denken exorziert«. Entscheidend sei zudem das ausgewogene Spiel zwischen Heterogenität und Homogenität, wobei diese Begriffe in modernen Diskursen z. T. spiegelbildlich verkehrt genutzt werden.
Pluralität ist entscheidend für eine funktionierende Demokratie, allerdings nur die Pluralität der Meinungen und nicht die der Interessen. Homogenität müsse es dagegen in einem »nichtkontroversen Sektor der politischen Kultur geben« und dieser bestehe aus »gemeinsamer Sprache, Kulturbewußtsein, Tradition, Abstammung, Verfassungsvorstellungen, Übereinstimmung im ökonomischen Verhalten, eingeschliffene Verhaltensweisen im politischen Alltag.«
Zudem bedarf es eines »reflektierten consensus«, der »Verfahrens- und Verhaltensregeln, ein Set von politischen und sozialen Prinzipien« umfasse, wie etwa: »Volkssouveränität, soziale Gerechtigkeit, Gleichheit vor dem Gesetz, traditionelle Freiheitsrechte, Überparteilichkeit der Justiz«.
Flaig faßt den Zwischengewinn zusammen:
Es kann keine Zusammengehörigkeit geben ohne ein Wir-Bewußtsein, das von starken Kohäsionsfaktoren gestützt wird. Nur ein ausreichender Wertekonsens zwischen den Bürgern garantiert, daß die Zusammengehörigkeit auch dann belastbar ist, wenn sie über längere Zeit allen Opfern abverlangt. … Es gibt keine Demokratie ohne kontinuierlichen und regulierten Gebrauch des Mehrheitsprinzips in den verfassungsgemäßen Organen. Es gibt keine zuverlässige Geltung des Mehrheitsprinzips ohne den Begriff des Gemeinwohls. Es gibt kein Gemeinwohl ohne Gemeinschaft, für welche die Bürger bereit sind, Opfer zu bringen; es gibt keine solche Opferbereitschaft ohne Kohäsion der Bürger.
Wer diese tragenden Teile des politischen Lebens eliminiert, wie das der »grenzenlose Globalismus« mache, der verzichte auf den Demos und ersetze ihn mit einer »amorphen globalisierten Masse«. Diese kontrollieren zu können, erfordere einen »gewaltigen Zwangsapparat« – so führt die totale Befreiung in ihr Gegenteil.
Einen wesentlichen Faktor des Kohäsionsverlustes der westlichen Demokratien sieht Flaig in der Zuwanderung insbesondere von Muslimen. Nicht der Islam sei das eigentliche Problem, sondern die Scharia. »Politische Kohäsion verträgt sich mit sozialer Ungleichheit unter den Staatsbürgern, sogar mit großer; aber sie verträgt sich nicht mit deutlicher Divergenz in Wertefragen«.
Flaig macht zwei Notwendigkeiten aus: die »Idee des weltanschaulich neutralen Staates« sei zu verabschieden und die Bürger Europas brauchten ein gemeinsames Geschichtsbild. Die Notwendigkeit des ersten Punktes, der an den Grundfesten rüttelt, ergebe sich aus der zunehmenden Dominanz der »Theonomie«, die die westliche »Anthroponomie« zu ersetzen drohe.
Dies sei möglich, da »religiöse Neutralität […] keine Konstitutionsbedingung« der Demokratie sei, die Anthroponomie allerdings ganz entschieden. Sie könne damit auch wesentlich mehr gewinnen, als sie verlöre, denn »jede Kultur basiert vor allem auf der Kommunikation und der Interaktion zwischen den Generationen, und jede verdankt den vorangegangenen Generationen unendlich viel mehr als dem interkulturellen Austausch mit den Nachbarn«.
Flaig mahnt in aller Dringlichkeit: »An dieser Stelle droht der westlichen Kultur eine existentielle Gefahr, nämlich der geistige Abbruch.« Dieser Text hat nahezu einen Manifestcharakter.
Peter Sloterdijk greift in seiner Analyse, die sich dem seltsamen Paradox, daß »ein solid etabliertes Staatswesen ohne nennenswerte äußere Bedrohung« in existenzgefährdende Krisen fallen könne, widmet, auf früher erarbeitetes Vokabular zurück.
Er sieht die Demokratie durch eine Pseudologie / Pseudonymie gefährdet, einer wesenhaften Differenz zwischen Wörtern und Tatsachen. Dabei haften der Demokratie von Beginn an pseudonyme Elemente an, aber in gegenwärtigen Zeiten treten sie besonders zu Tage.
Der Begriff der »Demokratie« kaschiere nämlich vier realpolitische Figuren der Machtausübung, die er Oligokratie, Fiskokratie, Mobokratie und Phobokratie nennt. Sie alle sind konstitutiver Bestandteil moderner Demokratie, arbeiten zugleich aber an deren Zersetzung.
Zwar trage die Demokratie das Volk im Namen, tatsächlich aber besteht sie von Beginn an »aus den Wenigen (hoi oligoi) und den Vielen (hoi polloi)« und selbstverständlich herrschen die ersten mit einer »Art Mystik der Repräsentation« über die zweiten.
Das meint das Abgeordnetensystem, daß den Willen vieler in wenige Personen zu kondensieren vorgibt, damit jedoch überfordert ist. Einerseits profitieren die Wenigen durch Entlastung von diesem System, andererseits wird der Vorsprung der oligoi vor den polloi immer größer.
Nicht wer über den Ausnahmezustand herrsche, sei der Souverän, sondern wer in der Lage ist, »die Renitenz der Staatsangehörigen gegen die Zumutung der Steuern zu domestizieren«, also über den Fiskus herrscht. Wird das fiskalische System zu undurchsichtig oder ungerecht, kann es die Demokratie bedrohen.
Allerdings sieht Sloterdijk diese Bedrohung eher im Zwang gegenüber einer »einkommens- und konsumintensiven Minderheit«. Das mobokratische Element basiert auf der Tatsache, »daß das Volk, das die Demokratie legitimiert, seit jeher ein trübes Element mit sich führt.«
Ermächtigungsverfahren werden von Gruppen getragen, die nur durch »ihre emotionale Mobilisierbarkeit« qualifiziert sind. Es entstehe eine »maligne Form von Positivismus, dem zufolge die förmliche Gleichheit vor dem Wahlrecht zugleich die substantielle Gleichheit vor dem Urteilsvermögen bedeute«.
Es gibt auch eine despotische Form der Mobokratie, die den Despoten dazu zwingt, formal demokratische Institutionen, »Parodien der Demokratie durch plebiszitäre Diktaturen«, vorzuschalten, und diese sind in der heutigen Welt numerisch in der Überzahl.
Das phobokratische Element tritt seit 9 / 11 besonders deutlich hervor. Terror, der die Politik der westlichen Welt bestimmt, sei jedoch nichts anderes als eine vor allem mediale Verstärkung eines unendlich unterlegenen Feindes. Sloterdijks Text ist wie ein Palimpsest angelegt.
An der Oberfläche bedient er durch verschiedene Distanzierungsübungen zu »Populismen« konforme, politisch korrekte Positionen, doch weisen die Zeilen auf eine tiefere Schicht hin. Dort werden die totalitären Gründe des real-demokratischen Liberalismus, vor allem in der aktuell-politischen Ausformung, subtil benannt, kritisiert und analysiert.
Nach diesen vier grundlegenden Beiträgen folgen vier spezifische. Der amerikanische Politologe Thomas L. Pangle stellt in bemerkenswert konziser Form die auch partiell demokratiegefährdenden Idiosynkrasien und Paradoxien der US-amerikanischen »liberal-demokratischen staatsbürgerlichen Kultur«, sprich des demokratischen Systems dar und legt dabei den Schwerpunkt auf die Alleinstellungsmerkmale der besonderen Rolle der Religion, der spezifischen Formen der Einwanderung, der ganz speziellen Verfassung der Gründerväter, dem »antagonistischen Zweiparteiensystem« und dem amerikanischen Exzeptionalismus.
Das hochkomplexe politische System wird sichtbar, die fragwürdigen Ereignisse der letzten Dekaden erklärbar und eine Prognose wagt Pangle auch. »Raum kennt Gedächtnis«, eine longue durée letaler Tiefenschichten des Vergangenen«, meint Dan Diner und versucht diese These sowohl geopolitisch als auch aktuellpolitisch an den Beispielen Syrien und Ägypten darzulegen.
Das Spannungsverhältnis zwischen »Bedeutung, Geltung und Wirkung der Volkssouveränität und die Frage nach der Legitimität der Herrschaft« steht dabei im besonderen Fokus. Wie schnell der »Grundsatz der Volkssouveränität« implodieren kann, haben beide Staaten auf unterschiedliche Art und Weise bewiesen. Am Beispiel Syrien wird geltend gemacht:
Die Abstraktion des Volkes, der Demos, zerfällt in empirisch-konkrete, dort: in seine ethno-religiösen, in seine konfessionellen Bestandteile
und:
So gilt es anzuerkennen, daß in ethnisch und religiös zerklüfteten Gemeinwesen ein dem Prinzip des Mehrheitsentscheids zugrundeliegendes demokratisches Procedere dazu neigt, im Extremfall eine zerstörerische, eine das Staatsgefüge zersprengende Wirkung zu entfalten.
Ägypten wiederum steht unter der Spannung von Gottesrecht (Scharia) versus Menschenrechte – »wieviel an Souveränität des Volkes war zu erwirken, wieviel an Souveränität Gottes war zu ertragen«. Dabei spiele einerseits das Militär, andererseits die »religionspolitisch subversive« digitale Kommunikationstechnik eine entscheidende Rolle auch für die nahe Zukunft.
Globalisierung verlangt internationale Zusammenarbeit, das ist offensichtlich. Sabino Cassese denkt weiter und entwirft in einer großen Utopie die Notwendigkeit und Probleme einer globalen Demokratie. Dies ist ein ob seiner utopistischen Verve und Gigantomanie negativ instruktiver Beitrag, der die Stellungen der politischen Konkurrenz bis zur Kenntlichkeit entstellt.
Ein Kontrastprogramm zum EU-Utopismus und eine erneute Hebung auf das exzellente Durchschnittsniveau dieser Sammlung stellt Dietrich Murswieks abschließender Beitrag dar, der sich mit den vielfältigen Legitimationsproblemen der »Mehrebenendemokratie in Europa« befaßt.
Das Resultat ist ernüchternd: »Die EU entzieht ihren Mitgliedsstaaten demokratische Substanz, während sie selbst nur unvollkommen demokratisch legitimiert ist«, und das auf allen institutionellen Ebenen: Kommission, Rat, Parlament, EZB und Gerichtshof.
Zudem mangelt es ihr an einem klar umrissenen Legitimationssubjekt, zumindest ist man sich nicht einig darüber, ob die Staatsvölker oder das Unionsvolk als solches dienen könne. Auf allen Ebenen wird mangelnde Responsivität und Transparenz beklagt.
Murswiek schlägt Lösungsansätze vor, die freilich nur dann sinnvoll sein können, wenn »ein Wechsel der Politik durch Wahlen und eine Korrektur der einmal eingeschlagenen Richtung aufgrund der Wahlergebnisse möglich« ist, denn »Prinzipielle Reversibilität politischer Beschlüsse gehört zum Wesen der Demokratie«.
Allerdings verbreiten die »Enthusiasten der europäischen Integration« gerade die Haltung der »Unumkehrbarkeit«, die nicht nur eklatant undemokratisch ist, sondern auch für den Bestand der EU gefährlich werden kann.
»Die Zukunft der Demokratie« – sie scheint, wenn man die Analysen dieser eminenten Köpfe liest, eher düster zu sein; ihre inneren Widersprüche befinden sich in Akzeleration, sie werden durch die gleichzeitige Zunahme an inneren, äußeren, strukturellen und psychologischen Problemkomplexen kaum besser als in der Vergangenheit zu lösen sein. Es drängt die Zeit, doch Zeit haben wir keine mehr.
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