Die Herrschaft des Volkes – ein Sammelband

von Jörg Seidel
PDF der Druckfassung aus Sezession 88/Februar 2019

Acht bedeu­ten­de Den­ker, vier all­ge­mein gehal­te­ne und vier spe­zi­fi­sche Bei­trä­ge über die Zukunft der Demo­kra­tie erwar­ten den Leser. Die Lage ist ernst, die Stim­mung kri­tisch, das Argu­men­ta­ti­ons­ni­veau hoch.

Im ein­lei­ten­den Bei­trag zieht Fried­rich Wil­helm Graf einen drei­fa­chen, jeweils bipo­la­ren Span­nungs­bo­gen auf, der zum einen den Begriff der Demo­kra­tie the­ma­ti­siert, zum zwei­ten die Fra­ge der demo­kra­ti­schen Par­ti­zi­pa­ti­on von Haber­mas’ äußerst vor­aus­set­zungs­rei­cher uto­pis­ti­scher »herr­schafts­frei­en Kom­mu­ni­ka­ti­on« bis zu Brenn­ans empi­risch gestütz­ter Ein­sicht, daß moder­ne Bür­ger sel­ten demo­kra­tie­fä­hig sei­en, pro­ble­ma­ti­siert, und schließ­lich, drit­tens, die Dif­fe­renz zwi­schen libe­ra­len und Wert­in­te­gra­ti­ons­theo­rien auf­zeigt und die Wesens­fra­gen bei­der Denk­an­sät­ze stellt. Letz­te­res ist auf gerin­gem Raum exem­pla­risch gelungen.

Schon die Lek­tü­re des Ein­gangs­bei­tra­ges recht­fer­tigt das Buch. »Vom Schwin­den der Demo­kra­tie« von Horst Drei­er ist ein emi­nen­ter, über­blicks­ar­ti­ger, wohl­struk­tu­rier­ter Text über die Zer­falls­er­schei­nun­gen der west­li­chen Demo­kra­tie. Drei­er beschreibt die kon­sti­tu­tio­nel­len Ele­men­te einer ver­fas­sungs­staat­li­chen Demo­kra­tie und trennt dabei zwi­schen Objekt (Staats­ver­fas­sung), Sub­jekt (Volk) und Modus (Reprä­sen­ta­ti­on und Responsivität).

Bereits in die­ser ide­al­ty­pi­schen Beschrei­bung wer­den die Dis­kre­pan­zen zur poli­ti­schen und ver­fas­sungs­recht­li­chen Rea­li­tät sicht­bar. In der fol­gen­den Dia­gno­se der Ero­si­ons­ten­den­zen läßt er es an Deut­lich­keit nicht man­geln. Er beschreibt A) die intrin­si­schen Pro­ble­me der Abwan­de­rungs­pro­zes­se von Staats­macht­be­fug­nis­sen in ande­re Berei­che, der Euro­päi­sie­rung und Inter­na­tio­na­li­sie­rung, die frei­lich als objek­ti­ve Pro­zes­se begrif­fen wer­den, sowie der Pri­va­ti­sie­rung; B) die Fol­gen für das Staats­volk in Form von »Inkon­gru­enz von Autoren- und Adres­sa­ten­volk« (»eine Sche­re zwi­schen dem Staats­volk, das die Staats­ge­walt legi­ti­miert, und den Betrof­fe­nen, die die­ser Staats­ge­walt unter­wor­fen sind«, sprich: Aus­län­der), sin­ken­der Wahl­be­tei­li­gung, der Fünf­pro­zent-Klau­sel, und schließ­lich C) den schlei­chen­den Pro­zeß der Ent­par­la­men­ta­ri­sie­rung etwa durch »Geset­zes­out­sour­cing«, Miß­ach­tung des Geset­zes­vor­ran­ges durch die Poli­tik und die Ver­nach­läs­si­gung der Forums­funk­ti­on des Parlaments.

Dabei schei­nen die mul­ti­plen Geset­zes­brü­che der Regie­rung Mer­kel immer wie­der durch, wobei die Fra­ge der Grenz­öff­nung noch nicht ein­mal erwähnt wird. Die abschlie­ßen­den Hand­lungs­op­tio­nen blei­ben zwar recht all­ge­mein – immer­hin hält er die »Umwand­lung der EU in ein par­la­men­ta­ri­sches Sys­tem« wegen man­geln­der »Respon­si­vi­tät« und dem »Aus­tausch­pro­zeß zwi­schen Reprä­sen­tan­ten und Reprä­sen­tier­ten«, für wenig ziel­füh­rend –, for­men vor dem aktu­ell-poli­ti­schen Hin­ter­grund den­noch genü­gend deut­li­che Konturen.

Auch Her­fried Mün­k­ler sieht in sei­nem nach­den­kens­wer­ten Bei­trag die Gefahr eines neu­en Drit­ten zwi­schen den klas­si­schen Polen Eli­te und Mas­se. Die Exis­tenz die­ser Think Tanks, Exper­ten, Gemein­wohl­un­ter­neh­mer und NGOs gefähr­de die Demo­kra­tie und sei ursäch­lich für das Auf­kom­men von lin­kem und rech­tem Populismus.

Die­se sei jedoch kom­plex und die popu­lis­ti­sche Annah­me, »eine Rück­kehr zur Omni­kom­pe­tenz­un­ter­stel­lung der klas­si­schen Demo­kra­tie sei ohne wei­te­res mög­lich«, sei falsch. Bei Mün­k­ler läßt sich nach­voll­zie­hen, was eini­ge Kri­ti­ker des Popu­lis­mus mit der For­mel, er habe nur ein­fa­che Lösun­gen und Paro­len, eigent­lich meinen.

Der Bür­ger müs­se dem­nach wie­der kom­pe­tent gemacht wer­den und das sei ohne Refle­xi­on statt rei­ner Infor­ma­ti­on, ohne »klu­ge Arran­ge­ments von Ver­klei­nern und Ver­grö­ßern, Beschleu­ni­gen und Ent­schleu­ni­gen«, nicht mög­lich. Andern­falls dro­he die »Letz­teva­lu­ie­rung der poli­ti­schen Ord­nung«, sprich deren Zerfall.

Wis­sen­schaft­lich-tech­ni­scher Fort­schritt unter der Ägi­de des Fort­schritts als hege­mo­nia­le Idee ver­lei­te zu dem Irr­glau­ben an eine linea­re Par­al­le­li­tät mit der Demo­kra­tie­ent­wick­lung. Wir befin­den uns gera­de in der pre­kä­ren Situa­ti­on, daß die­se Annah­me sich nicht mit der poli­ti­schen Rea­li­tät deckt.

In der Pro­blem­dia­gno­se sind sich Mün­k­ler und Egon Flaig, des­sen zen­tra­ler Essay nun folgt, noch einig, die Unter­schie­de in den Schluß­fol­ge­run­gen könn­ten gra­vie­ren­der nicht sein, auch weil Flaig die Migra­ti­on expli­zit ins Pro­blem­bild aufnimmt.

Flaig sieht eine intrin­si­sche und eine extrin­sisch ver­ur­sach­te Frag­men­tie­rung der Gesell­schaft. Dies füh­re zu einem »schrump­fen­den Raum für dis­sen­ti­sches Ent­schei­den«, gel­ten­de Ver­ein­ba­run­gen also, die gegen­sätz­li­che Mei­nun­gen und Hal­tun­gen befrie­den unter dem aprio­ri­schen Vor­be­halt des gemein­sa­men Gemeinwohlgedankens.

Die­se beruh­ten auf dem his­to­ri­schen Aus­nah­me­fall der Mehr­heits­ent­schei­dung, die für die Demo­kra­tie kon­sti­tu­tiv sei. Dabei will er zwi­schen Gesell­schaft und Gemein­schaft unter­schie­den wis­sen: »Gesell­schaf­ten beru­hen auf dem Tausch, Gemein­schaf­ten auf dem Opfer«.

Frank­fur­ter Schu­le und Sys­tem­theo­rie haben »das Opfer aus dem poli­ti­schen Den­ken exor­ziert«. Ent­schei­dend sei zudem das aus­ge­wo­ge­ne Spiel zwi­schen Hete­ro­ge­ni­tät und Homo­ge­ni­tät, wobei die­se Begrif­fe in moder­nen Dis­kur­sen z. T. spie­gel­bild­lich ver­kehrt genutzt werden.

Plu­ra­li­tät ist ent­schei­dend für eine funk­tio­nie­ren­de Demo­kra­tie, aller­dings nur die Plu­ra­li­tät der Mei­nun­gen und nicht die der Inter­es­sen. Homo­ge­ni­tät müs­se es dage­gen in einem »nicht­kon­tro­ver­sen Sek­tor der poli­ti­schen Kul­tur geben« und die­ser bestehe aus »gemein­sa­mer Spra­che, Kul­tur­be­wußt­sein, Tra­di­ti­on, Abstam­mung, Ver­fas­sungs­vor­stel­lun­gen, Über­ein­stim­mung im öko­no­mi­schen Ver­hal­ten, ein­ge­schlif­fe­ne Ver­hal­tens­wei­sen im poli­ti­schen Alltag.«

Zudem bedarf es eines »reflek­tier­ten con­sen­sus«, der »Ver­fah­rens- und Ver­hal­tens­re­geln, ein Set von poli­ti­schen und sozia­len Prin­zi­pi­en« umfas­se, wie etwa: »Volks­sou­ve­rä­ni­tät, sozia­le Gerech­tig­keit, Gleich­heit vor dem Gesetz, tra­di­tio­nel­le Frei­heits­rech­te, Über­par­tei­lich­keit der Justiz«.

Flaig faßt den Zwi­schen­ge­winn zusammen:

Es kann kei­ne Zusam­men­ge­hö­rig­keit geben ohne ein Wir-Bewußt­sein, das von star­ken Kohä­si­ons­fak­to­ren gestützt wird. Nur ein aus­rei­chen­der Wer­te­kon­sens zwi­schen den Bür­gern garan­tiert, daß die Zusam­men­ge­hö­rig­keit auch dann belast­bar ist, wenn sie über län­ge­re Zeit allen Opfern abver­langt. … Es gibt kei­ne Demo­kra­tie ohne kon­ti­nu­ier­li­chen und regu­lier­ten Gebrauch des Mehr­heits­prin­zips in den ver­fas­sungs­ge­mä­ßen Orga­nen. Es gibt kei­ne zuver­läs­si­ge Gel­tung des Mehr­heits­prin­zips ohne den Begriff des Gemein­wohls. Es gibt kein Gemein­wohl ohne Gemein­schaft, für wel­che die Bür­ger bereit sind, Opfer zu brin­gen; es gibt kei­ne sol­che Opfer­be­reit­schaft ohne Kohä­si­on der Bürger.

Wer die­se tra­gen­den Tei­le des poli­ti­schen Lebens eli­mi­niert, wie das der »gren­zen­lo­se Glo­ba­lis­mus« mache, der ver­zich­te auf den Demos und erset­ze ihn mit einer »amor­phen glo­ba­li­sier­ten Mas­se«. Die­se kon­trol­lie­ren zu kön­nen, erfor­de­re einen »gewal­ti­gen Zwangs­ap­pa­rat« – so führt die tota­le Befrei­ung in ihr Gegenteil.

Einen wesent­li­chen Fak­tor des Kohä­si­ons­ver­lus­tes der west­li­chen Demo­kra­tien sieht Flaig in der Zuwan­de­rung ins­be­son­de­re von Mus­li­men. Nicht der Islam sei das eigent­li­che Pro­blem, son­dern die Scha­ria. »Poli­ti­sche Kohä­si­on ver­trägt sich mit sozia­ler Ungleich­heit unter den Staats­bür­gern, sogar mit gro­ßer; aber sie ver­trägt sich nicht mit deut­li­cher Diver­genz in Wertefragen«.

Flaig macht zwei Not­wen­dig­kei­ten aus: die »Idee des welt­an­schau­lich neu­tra­len Staa­tes« sei zu ver­ab­schie­den und die Bür­ger Euro­pas brauch­ten ein gemein­sa­mes Geschichts­bild. Die Not­wen­dig­keit des ers­ten Punk­tes, der an den Grund­fes­ten rüt­telt, erge­be sich aus der zuneh­men­den Domi­nanz der »The­o­no­mie«, die die west­li­che »Anthro­po­no­mie« zu erset­zen drohe.

Dies sei mög­lich, da »reli­giö­se Neu­tra­li­tät […] kei­ne Kon­sti­tu­ti­ons­be­din­gung« der Demo­kra­tie sei, die Anthro­po­no­mie aller­dings ganz ent­schie­den. Sie kön­ne damit auch wesent­lich mehr gewin­nen, als sie ver­lö­re, denn »jede Kul­tur basiert vor allem auf der Kom­mu­ni­ka­ti­on und der Inter­ak­ti­on zwi­schen den Gene­ra­tio­nen, und jede ver­dankt den vor­an­ge­gan­ge­nen Gene­ra­tio­nen unend­lich viel mehr als dem inter­kul­tu­rel­len Aus­tausch mit den Nachbarn«.

Flaig mahnt in aller Dring­lich­keit: »An die­ser Stel­le droht der west­li­chen Kul­tur eine exis­ten­ti­el­le Gefahr, näm­lich der geis­ti­ge Abbruch.« Die­ser Text hat nahe­zu einen Manifestcharakter.

Peter Slo­ter­di­jk greift in sei­ner Ana­ly­se, die sich dem selt­sa­men Para­dox, daß »ein solid eta­blier­tes Staats­we­sen ohne nen­nens­wer­te äuße­re Bedro­hung« in exis­tenz­ge­fähr­den­de Kri­sen fal­len kön­ne, wid­met, auf frü­her erar­bei­te­tes Voka­bu­lar zurück.

Er sieht die Demo­kra­tie durch eine Pseu­do­lo­gie / Pseud­ony­mie gefähr­det, einer wesen­haf­ten Dif­fe­renz zwi­schen Wör­tern und Tat­sa­chen. Dabei haf­ten der Demo­kra­tie von Beginn an pseud­ony­me Ele­men­te an, aber in gegen­wär­ti­gen Zei­ten tre­ten sie beson­ders zu Tage.

Der Begriff der »Demo­kra­tie« kaschie­re näm­lich vier real­po­li­ti­sche Figu­ren der Macht­aus­übung, die er Oli­go­kra­tie, Fis­ko­kra­tie, Mobo­kra­tie und Pho­bo­kra­tie nennt. Sie alle sind kon­sti­tu­ti­ver Bestand­teil moder­ner Demo­kra­tie, arbei­ten zugleich aber an deren Zersetzung.

Zwar tra­ge die Demo­kra­tie das Volk im Namen, tat­säch­lich aber besteht sie von Beginn an »aus den Weni­gen (hoi oli­goi) und den Vie­len (hoi pol­loi)« und selbst­ver­ständ­lich herr­schen die ers­ten mit einer »Art Mys­tik der Reprä­sen­ta­ti­on« über die zweiten.

Das meint das Abge­ord­ne­ten­sys­tem, daß den Wil­len vie­ler in weni­ge Per­so­nen zu kon­den­sie­ren vor­gibt, damit jedoch über­for­dert ist. Einer­seits pro­fi­tie­ren die Weni­gen durch Ent­las­tung von die­sem Sys­tem, ande­rer­seits wird der Vor­sprung der oli­goi vor den pol­loi immer größer.

Nicht wer über den Aus­nah­me­zu­stand herr­sche, sei der Sou­ve­rän, son­dern wer in der Lage ist, »die Reni­tenz der Staats­an­ge­hö­ri­gen gegen die Zumu­tung der Steu­ern zu domes­ti­zie­ren«, also über den Fis­kus herrscht. Wird das fis­ka­li­sche Sys­tem zu undurch­sich­tig oder unge­recht, kann es die Demo­kra­tie bedrohen.

Aller­dings sieht Slo­ter­di­jk die­se Bedro­hung eher im Zwang gegen­über einer »ein­kom­mens- und kon­sum­in­ten­si­ven Min­der­heit«. Das mobo­kra­ti­sche Ele­ment basiert auf der Tat­sa­che, »daß das Volk, das die Demo­kra­tie legi­ti­miert, seit jeher ein trü­bes Ele­ment mit sich führt.«

Ermäch­ti­gungs­ver­fah­ren wer­den von Grup­pen getra­gen, die nur durch »ihre emo­tio­na­le Mobi­li­sier­bar­keit« qua­li­fi­ziert sind. Es ent­ste­he eine »mali­gne Form von Posi­ti­vis­mus, dem zufol­ge die förm­li­che Gleich­heit vor dem Wahl­recht zugleich die sub­stan­ti­el­le Gleich­heit vor dem Urteils­ver­mö­gen bedeute«.

Es gibt auch eine des­po­ti­sche Form der Mobo­kra­tie, die den Des­po­ten dazu zwingt, for­mal demo­kra­ti­sche Insti­tu­tio­nen, »Par­odien der Demo­kra­tie durch ple­bis­zi­tä­re Dik­ta­tu­ren«, vor­zu­schal­ten, und die­se sind in der heu­ti­gen Welt nume­risch in der Überzahl.

Das pho­bo­kra­ti­sche Ele­ment tritt seit 9 / 11 beson­ders deut­lich her­vor. Ter­ror, der die Poli­tik der west­li­chen Welt bestimmt, sei jedoch nichts ande­res als eine vor allem media­le Ver­stär­kung eines unend­lich unter­le­ge­nen Fein­des. Slo­ter­di­jks Text ist wie ein Palim­psest angelegt.

An der Ober­flä­che bedient er durch ver­schie­de­ne Distan­zie­rungs­übun­gen zu »Popu­lis­men« kon­for­me, poli­tisch kor­rek­te Posi­tio­nen, doch wei­sen die Zei­len auf eine tie­fe­re Schicht hin. Dort wer­den die tota­li­tä­ren Grün­de des real-demo­kra­ti­schen Libe­ra­lis­mus, vor allem in der aktu­ell-poli­ti­schen Aus­for­mung, sub­til benannt, kri­ti­siert und analysiert.

Nach die­sen vier grund­le­gen­den Bei­trä­gen fol­gen vier spe­zi­fi­sche. Der ame­ri­ka­ni­sche Poli­to­lo­ge Tho­mas L. Pang­le stellt in bemer­kens­wert kon­zi­ser Form die auch par­ti­ell demo­kra­tie­ge­fähr­den­den Idio­syn­kra­si­en und Para­do­xien der US-ame­ri­ka­ni­schen »libe­ral-demo­kra­ti­schen staats­bür­ger­li­chen Kul­tur«, sprich des demo­kra­ti­schen Sys­tems dar und legt dabei den Schwer­punkt auf die Allein­stel­lungs­merk­ma­le der beson­de­ren Rol­le der Reli­gi­on, der spe­zi­fi­schen For­men der Ein­wan­de­rung, der ganz spe­zi­el­len Ver­fas­sung der Grün­der­vä­ter, dem »ant­ago­nis­ti­schen Zwei­par­tei­en­sys­tem« und dem ame­ri­ka­ni­schen Exzeptionalismus.

Das hoch­kom­ple­xe poli­ti­sche Sys­tem wird sicht­bar, die frag­wür­di­gen Ereig­nis­se der letz­ten Deka­den erklär­bar und eine Pro­gno­se wagt Pang­le auch. »Raum kennt Gedächt­nis«, eine longue durée leta­ler Tie­fen­schich­ten des Ver­gan­ge­nen«, meint Dan Diner und ver­sucht die­se The­se sowohl geo­po­li­tisch als auch aktu­ell­po­li­tisch an den Bei­spie­len Syri­en und Ägyp­ten darzulegen.

Das Span­nungs­ver­hält­nis zwi­schen »Bedeu­tung, Gel­tung und Wir­kung der Volks­sou­ve­rä­ni­tät und die Fra­ge nach der Legi­ti­mi­tät der Herr­schaft« steht dabei im beson­de­ren Fokus. Wie schnell der »Grund­satz der Volks­sou­ve­rä­ni­tät« implo­die­ren kann, haben bei­de Staa­ten auf unter­schied­li­che Art und Wei­se bewie­sen. Am Bei­spiel Syri­en wird gel­tend gemacht:

Die Abs­trak­ti­on des Vol­kes, der Demos, zer­fällt in empi­risch-kon­kre­te, dort: in sei­ne eth­no-reli­giö­sen, in sei­ne kon­fes­sio­nel­len Bestandteile

und:

So gilt es anzu­er­ken­nen, daß in eth­nisch und reli­gi­ös zer­klüf­te­ten Gemein­we­sen ein dem Prin­zip des Mehr­heits­ent­scheids zugrun­de­lie­gen­des demo­kra­ti­sches Pro­ce­de­re dazu neigt, im Extrem­fall eine zer­stö­re­ri­sche, eine das Staats­ge­fü­ge zer­spren­gen­de Wir­kung zu entfalten.

Ägyp­ten wie­der­um steht unter der Span­nung von Got­tes­recht (Scha­ria) ver­sus Men­schen­rech­te – »wie­viel an Sou­ve­rä­ni­tät des Vol­kes war zu erwir­ken, wie­viel an Sou­ve­rä­ni­tät Got­tes war zu ertra­gen«. Dabei spie­le einer­seits das Mili­tär, ande­rer­seits die »reli­gi­ons­po­li­tisch sub­ver­si­ve« digi­ta­le Kom­mu­ni­ka­ti­ons­tech­nik eine ent­schei­den­de Rol­le auch für die nahe Zukunft.

Glo­ba­li­sie­rung ver­langt inter­na­tio­na­le Zusam­men­ar­beit, das ist offen­sicht­lich. Sabi­no Cas­se­se denkt wei­ter und ent­wirft in einer gro­ßen Uto­pie die Not­wen­dig­keit und Pro­ble­me einer glo­ba­len Demo­kra­tie. Dies ist ein ob sei­ner uto­pis­ti­schen Ver­ve und Gigan­to­ma­nie nega­tiv instruk­ti­ver Bei­trag, der die Stel­lun­gen der poli­ti­schen Kon­kur­renz bis zur Kennt­lich­keit entstellt.

Ein Kon­trast­pro­gramm zum EU-Uto­pis­mus und eine erneu­te Hebung auf das exzel­len­te Durch­schnitts­ni­veau die­ser Samm­lung stellt Diet­rich Murs­wieks abschlie­ßen­der Bei­trag dar, der sich mit den viel­fäl­ti­gen Legi­ti­ma­ti­ons­pro­ble­men der »Meh­re­ben­en­de­mo­kra­tie in Euro­pa« befaßt.

Das Resul­tat ist ernüch­ternd: »Die EU ent­zieht ihren Mit­glieds­staa­ten demo­kra­ti­sche Sub­stanz, wäh­rend sie selbst nur unvoll­kom­men demo­kra­tisch legi­ti­miert ist«, und das auf allen insti­tu­tio­nel­len Ebe­nen: Kom­mis­si­on, Rat, Par­la­ment, EZB und Gerichtshof.

Zudem man­gelt es ihr an einem klar umris­se­nen Legi­ti­ma­ti­ons­sub­jekt, zumin­dest ist man sich nicht einig dar­über, ob die Staats­völ­ker oder das Uni­ons­volk als sol­ches die­nen kön­ne. Auf allen Ebe­nen wird man­geln­de Respon­si­vi­tät und Trans­pa­renz beklagt.

Murs­wiek schlägt Lösungs­an­sät­ze vor, die frei­lich nur dann sinn­voll sein kön­nen, wenn »ein Wech­sel der Poli­tik durch Wah­len und eine Kor­rek­tur der ein­mal ein­ge­schla­ge­nen Rich­tung auf­grund der Wahl­er­geb­nis­se mög­lich« ist, denn »Prin­zi­pi­el­le Rever­si­bi­li­tät poli­ti­scher Beschlüs­se gehört zum Wesen der Demokratie«.

Aller­dings ver­brei­ten die »Enthu­si­as­ten der euro­päi­schen Inte­gra­ti­on« gera­de die Hal­tung der »Unum­kehr­bar­keit«, die nicht nur ekla­tant unde­mo­kra­tisch ist, son­dern auch für den Bestand der EU gefähr­lich wer­den kann.

»Die Zukunft der Demo­kra­tie« – sie scheint, wenn man die Ana­ly­sen die­ser emi­nen­ten Köp­fe liest, eher düs­ter zu sein; ihre inne­ren Wider­sprü­che befin­den sich in Akze­le­ra­ti­on, sie wer­den durch die gleich­zei­ti­ge Zunah­me an inne­ren, äuße­ren, struk­tu­rel­len und psy­cho­lo­gi­schen Pro­blem­kom­ple­xen kaum bes­ser als in der Ver­gan­gen­heit zu lösen sein. Es drängt die Zeit, doch Zeit haben wir kei­ne mehr.

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