Das Verwaltungsgericht Köln hat am 26. Februar 2019 einem Eilantrag der AfD entsprochen und ihre öffentliche Einstufung als »Prüffall« für rechtswidrig und unverhältnismäßig erklärt. Das Damoklesschwert der Beobachtung scheint damit wieder an einem etwas stärkeren Faden zu hängen.
Wenn man AfD-Parteichef Jörg Meuthen folgt, ist dieses Schwert gar nicht mehr vorhanden: Er sieht den Versuch der »politisch motivierten Instrumentalisierung« des Verfassungsschutzes gegen die AfD aufgrund des Urteils als vorerst gescheitert an.
Eine solche Aussage ist zweischneidig. Natürlich ist sie für das Wahlvolk gedacht, das jetzt unbesorgt die AfD wählen kann. Sie ist aber auch Ausdruck des Gefühls, jetzt sei alles wieder in bester Ordnung – als ob die politisch motivierte Instrumentalisierung nur in dem Fauxpas der Veröffentlichung des Prüffalls bestünde.
Indirekt sind damit sämtliche sonstigen Absonderlichkeiten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) legitimiert, zumal Meuthen sich vorsichtig zuversichtlich zeigt:
Er wird sich zukünftig hoffentlich nicht mehr politisch instrumentalisieren lassen.
Der Präsident des Bundesamtes, Thomas Haldenwang, schätzt die Sache professionell ein:
Das BfV konzentriert sich auf die vorrangige Aufgabe, die ich darin sehe, die Aktivitäten der unter Extremismusverdacht stehenden Teilorganisationen ›Der Flügel‹ und ›Junge Alternative‹ zu beobachten.
Schon bei der Pressekonferenz im Januar waren er und seine Mitarbeiter nicht in der Lage, der Presse zu erklären, worin sich ein öffentlicher von einem nichtöffentlichen Prüffall unterscheide, da das BfV sowieso nichts anderes tun sollte als zu prüfen, ob Verdachtsmomente für Extremismus vorliegen.
Das Ergebnis einer ersten Prüfung war eben das fast fünfhundertseitige Gutachten vom vergangenen Dezember. Dieses Schriftstück hat in bester Antifa-Manier Aussagen von Partei, Gliederungen und einzelnen Mitgliedern versammelt und nach verwertbaren Zitaten abgeklopft.
Es war zwar als »VS-NfD« (Verschlußsache – Nur für den Dienstgebrauch) eingestuft und wurde den Betroffenen zur Einsichtnahme nicht vorgelegt; aber noch am Tag der Präsentation wurde es einigen Zeitungsredaktionen zugespielt, und nach einer Woche war es bereits vollständig im Netz veröffentlicht.
Die Bundesregierung hat bislang davon abgesehen, eine Strafanzeige wegen Verletzung des Dienstgeheimnisses zu stellen. Wer allerdings die Behörden für einfältig und all diese Ungereimtheiten für Zufälle oder Ungeschicklichkeiten hält, dürfte den Machtwillen des politischen Gegners unterschätzen.
Durch die jetzt hergestellte Situation haben alle Beteiligten eine komfortable Ausgangsposition bezogen: Haldenwang hat bewiesen, daß er in der Lage ist, »die einschlägigen Prioritäten der politischen Klasse richtig zu deuten« (junge Welt vom 22. Januar 2019), obwohl ihm als Juristen klar gewesen sein dürfte, daß er sich mit der Veröffentlichung des Prüffalls auf dünnem Eis bewegt.
Die Behörden haben den Anschein der Rechtsstaatlichkeit gewahrt, die Bundesregierung den Anschein der Gewaltenteilung, und auch die Botschaft an die Wähler ist eindeutig: Unser Staat ist so liberal, daß er maximale Opposition zuläßt, und obwohl die Verdachtsmomente auf der Hand liegen, beugt er sich den Gerichten, ist aber gleichzeitig in der Lage, uns vor den wirklichen Extremisten zu beschützen, weil der Verfassungsschutz sie im Auge behält.
Eindeutig ist auch das Signal an die AfD: Wir sind konziliant bis zu einem gewissen Punkt, um den ihr euch rasch kümmern solltet. Kurzzeitig stand innerhalb der Alternative ja die Frage im Raum, ob nicht der Verfassungsschutz als politisches Instrument der Machthaber abgeschafft werden sollte.
Aus dieser berechtigten Forderung ist nun auf einen Schlag wieder eine staatsgefährdende Sondermeinung geworden. Die Gefahr für die AfD, den spalterischen Winken nachzugeben, ist mit dem Kölner Urteil größer geworden, da völlig aus dem Blick gerät, welche Verrenkungen das BfV machen muß, um überhaupt Verdachtsmomente zu konstruieren.
Von den gesetzlich recht umfangreich definierten Aufgaben des Verfassungsschutzes kommen in dem »Gutachten zu tatsächlichen Anhaltspunkten für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung in der ›Alternative für Deutschland‹ (AfD) und ihren Teilorganisationen« im Grunde nur drei vor: Verstöße gegen die Menschenwürde, das Rechtsstaatsprinzip sowie das Demokratieprinzip, mithin gegen die wesentlichen Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.
Hinzu kommt noch, was die Autoren als Revisionismus oder »Verbindungen zur Ideologie des Nationalsozialismus« bezeichnen – Kategorien, die allerdings nicht im Verfassungsschutzgesetz vorkommen. Liest man sich allerdings entlang dieser Punkte durch das Gutachten, so fällt der Hauptteil aller gesammelten Informationen in den Bereich der Menschenwürde und damit auf ein Schutzgut, das nicht klar definiert werden kann und über das auch das Grundgesetz kaum inhaltliche Aussagen trifft.
Die damit erreichte Eskalationsstufe wird deutlich, wenn man die VS-Berichte der letzten Jahre auf die Menschenwürde hin abklopft. Im aktuellen VS-Bericht kommt diese Kategorie lediglich am Rande vor, etwa wenn es um Scientology oder den Ku-Klux-Klan geht, um Organisationen also, die entweder ihre Mitglieder entmündigen oder ihre Gegner nicht als gleichwertige Menschen betrachten.
Im AfD-Gutachten ist das ganz anders. Dort heißt es zu Äußerungen von Björn Höcke, sie stellten die Garantie der Menschenwürde in Frage, »weil sie dem Menschen seine Würde nicht um seiner selbst willen zuschreiben, sondern sie von seiner Zugehörigkeit zum ›Volk‹ abhängig machen«.
Prägnantes Beispiel dafür sei eine Rede Höckes aus dem Jahr 2018.
In dieser Rede fordert Höcke zwar zunächst nur ›eine Zukunft für uns und unsere Kinder‹. Dann stellt er aber klar, dass dies nicht irgendeine Zukunft sein dürfe, sondern ›eine selbstverständlich deutsche Zukunft‹ sein müsse. Deutsche sind für Höcke vor allen Dingen als ›Träger‹ der deutschen Kultur von Bedeutung.
Weiter heißt es in Bezug auf ein im »Flügel« weit verbreitete Verständnis deutscher Identität, daß es »den einzelnen Deutschen auf sein Deutschtum« reduziere:
Allein das Überleben des als historisch gewachsene, organische Einheit gedachten Volkes wird hier für wichtig gehalten. Dahinter hat das Wohlergehen des einzelnen Menschen zurückzutreten. Die Würde des Menschen wird ihm nicht um seiner selbst willen, sondern aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Volk zugeschrieben. Denen, die nicht zu diesem Volk gehören, wird im Umkehrschluss die Würde abgesprochen.
Daß die Verletzung der Menschenwürde in dieser Form einen Extremismusverdacht begründen soll, ist eine neue Erscheinung. Der Jurist Thor v. Waldstein hat früh und mehrfach darauf hingewiesen, daß sich durch das NPD-Nichtverbotsurteil des BVerfG vom Januar 2017 die Situation grundsätzlich geändert hat, weil darin ein Gegensatz zwischen der Menschenwürde und dem Existenzrecht der Völker konstruiert werde.
Die Menschenwürde des Individuums bleibe nämlich fortan nur dann unangetastet, »wenn der einzelne als grundsätzlich frei, wenngleich stets sozial gebunden, und nicht umgekehrt als grundsätzlich unfrei und einer übergeordneten Instanz unterworfen behandelt wird.
Die unbedingte Unterordnung einer Person unter ein Kollektiv, eine Ideologie oder eine Religion stellt eine Mißachtung des Wertes dar, der jedem Menschen um seiner selbst willen, kraft seines Personseins (BVerfGE, 115, 118, 153) zukommt«. In dieser Situation gibt es für die AfD nun zwei mögliche Reaktionen:
- 1. Man akzeptiert die Herangehensweise des BfV, legt mindestens Höcke, wenn nicht allen, die vom Volk als politischer Größe mit Anspruch an den Einzelnen nicht lassen wollen, den Parteiaustritt nahe und fordert gleichzeitig Staat und Gegner auf, die politische Schlagseite zu beenden.
- 2. Man läßt sich nicht erschrecken und greift die Konstruktion dort an, wo sie am brüchigsten ist: am mißbräuchlichen Gebrauch des Begriffs der Menschenwürde selbst. Denn die Konsequenz aus der Herangehensweise des VS sind Sprechverbote, die im Zweifel jede Kollektivzuschreibung unter Strafe stellen oder zumindest als verfassungsfeindlich markieren – und dadurch mit anderen Menschenrechten, etwa dem auf freie Meinungsäußerung, kollidieren.
Voraussetzung für diese Überlegung ist die Anerkenntnis der Tatsache, daß auch die Rechtsprechung von Karlsruhe und die Auslegung des Grundgesetzes Konjunkturen unterworfen ist. Denn auch die durch die sogenannte Ewigkeitsklausel bewehrten Schutzgüter sind interpretationsbedürftig, was insbesondere im Fall der Menschenwürde zu einer Debatte geführt hat, die so alt ist wie das Grundgesetz selbst.
Die letzte Karlsruher Äußerung dazu steht recht einsam da und läßt die Verletzung der Menschenwürde als einen Ausgangspunkt für Verleumdungen jeder Art erscheinen. Diese Beliebigkeit erinnert an eine Formulierung aus dem Jahr 1935, nach der eine Tat nicht nur dann zu betrafen ist, wenn sie gegen ein Gesetz verstößt, sondern auch dann, wenn sie »nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient«.
In beiden Fällen liegt das Primat auf der Politik, nicht auf dem Recht. Der Würdebegriff ist denkbar unklar. Seine Quelle ist eine philosophische, die seit der Etablierung des Christentums von einer religiösen Annahme überdeckt wird. Schon seit der Antike wird der Begriff der Menschenwürde in zweierlei Sinn gebraucht.
Zum einen bezeichnet er den besonderen Rang einer Person in der Gesellschaft, wonach jemand eine Würde hat. Zum anderen bezeichnet er das besondere Merkmal des Menschen, das ihn vor anderen Lebewesen auszeichnet. Der zweite Strang reicht über das christliche Mittelalter bis in die Gegenwart: Danach machen die Gottesebenbildlichkeit und die Unsterblichkeit der Seele die besondere Würde des Menschen aus.
Erst die Renaissance bestimmte die Freiheit als die Voraussetzung der Würde, allerdings mit der auf die Gottesebenbildlichkeit bezugnehmenden Begründung, daß beide, Mensch und Gott, einen Mikrokosmos darstellten, in dem alle Möglichkeiten angelegt seien.
Zur Freiheit traten im Laufe der Zeit das Denken, die Vernunft, die Einsicht in das Wahre, die Autonomie des Gewissens und die Möglichkeit moralisch zu handeln. Politisch und damit konkret wurden diese Überzeugungen in der Erklärung der Menschenrechte im Anschluß an den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg.
Mit dem Aufkommen des Sozialismus wurde die Menschenwürde ein politischer Begriff, der sich vor allem gegen die sozialen Mißstände richtete und die Forderung nach einem menschenwürdigen Dasein erhob. In einer Verfassung taucht die Menschenwürde zum ersten Mal 1937 in Irland auf.
Angesichts der Diktaturen des 20. Jahrhunderts und deren Unmenschlichkeiten erhielt die Würde des Menschen eine ganz neue Bedeutung und fand ihren Eingang in das Grundgesetz (1949) und die Verfassung der DDR (1968). Seither stellt sich die Frage, warum man ein so unklares Prinzip zu einem Grundrecht erhoben hat, zumal die Auslegung je nach Bedarf angepaßt werden kann.
Als man beispielsweise 1970 Abhörmaßnahmen rechtfertigen wollte, sah sich das BVerfG zu einer sehr zurückhaltenden Definition der Menschenwürde veranlaßt, die in einem klaren Spannungsverhältnis zur Entscheidung von 2017 steht:
Allgemeine Formeln wie die, der Mensch dürfe nicht zum bloßen Objekt der Staatsgewalt herabgewürdigt werden, können lediglich die Richtung andeuten, in der Fälle der Verletzung der Menschenwürde gefunden werden können. Der Mensch ist nicht selten bloßes Objekt nicht nur der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch des Rechts, insofern er ohne Rücksicht auf seine Interessen sich fügen muss.
Hasso Hofmann, der als Verfassungsjurist mit starker philosophischer Ader in den 90er Jahren in Berlin lehrte, hat eben dieses Dilemma, vor das uns die Menschenwürdegarantie stellt, in seiner Antrittsvorlesung behandelt. Er zeigt auf mehreren Feldern die Paradoxien auf, in die uns die Menschenwürde führt.
Zunächst sei Menschenwürde im Rechtssinne »kein Substanz‑, Qualitäts- oder Leistungs‑, sondern ein Relations- oder Kommunikationsbegriff«, der »nicht losgelöst von einer konkreten Anerkennungsgemeinschaft gedacht werden« könne. Hofmann nennt diesen Sachverhalt die »Dialektik der rechtlichen Festlegung eines universalen Prinzips durch einen bestimmten Staat«.
Solange es keinen Weltstaat gebe, bleibe auch ein universales Prinzip darauf angewiesen, daß sich ein Staat, der klassischerweise aus Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsmacht besteht, seiner annimmt und es auf seinem Boden verwirklicht.
Wir sind also nicht dazu verpflichtet, das Menschenwürdeprinzip so auszulegen, daß unsere eigene Staatlichkeit in Frage gestellt wird. Ganz ähnlich wie beim Sozialstaat, der nur auf einem abgegrenzten Territorium für die dort lebenden Menschen funktionieren kann, ist die Unantastbarkeit der Menschenwürde nur in eben diesem Rahmen möglich.
Hinzu kommt bei den gegen die AfD erhobenen Vorwürfen die ähnlich grundsätzliche Frage, wer überhaupt in der Lage ist, die Menschenwürde zu verletzen. Nicht jede Beleidigung oder Mißachtung wird als Verletzung der Menschenwürde gewertet, weil es zur Entwertung des Prinzips führt, wenn darunter Folter und schlechte Umgangsformen gleichermaßen fallen.
Laut Niklas Luhmann, auf den sich auch Hasso Hofmann in dieser Frage bezieht, ist Würde »das Ergebnis schwieriger, auf generelle Systeminteressen der Persönlichkeit bezogener, teils bewußter, teils unbewußter Darstellungsleistungen und in gleichem Maße Ergebnis ständiger sozialer Kooperation«.
Mit anderen Worten: Es geht bei der Menschenwürde um Anerkennungsverhältnisse und nicht um Seinstatsachen, weshalb die Würde überhaupt so verletzlich sei. Würdeverlust bedeute – so Luhmann – Rückzug aus der Öffentlichkeit und hänge vom eigenen Verhalten ab: »Seine Würde hat der Mensch also in erster Linie selbst zu verantworten.«
Als Resultat dieser Verantwortung versteht Luhmann die Würde als etwas, das durch direkte Angriffe gar nicht zu verletzen sei. Eine Verletzung »liegt nur vor, wenn der respektlos Behandelte dadurch in Korrespondenzrollen gezwungen wird, die er mit einer achtungswürdigen Selbstdarstellung nicht vereinbaren kann; ferner natürlich bei allen Eingriffen in die private Regie der Selbstdarstellung«.
Ganz ähnlich wie Gehlen in Bezug auf den Humanitarismus formuliert Luhmann scharf:
Freiheit unter Fremdregie ist das Ende der Würde, jedenfalls der öffentlichen Würde des Menschen, weil sie ihn zu persönlichen Darstellungen veranlaßt, die ihn in die Alternative zwingen, entweder inkonsistent zu sein und in ein öffentliches und ein privates Selbst zu zerfallen oder seine Eigenheit ganz zugunsten der geforderten Linie aufzugeben.
Diese Betrachtungen stammen aus dem Jahr 1965 und finden heute insofern eine andere Wirklichkeit vor, als daß durch die Zivilgesellschaft ein Faktor entstanden ist, der auch ohne staatliche Hilfe in der Lage ist, die Würde zu verletzten. Sie hat Eigenschaften entwickelt, die zu Luhmanns Zeiten nur mit Diktaturen in Verbindung gebracht wurden.
Der Zivilgesellschaft gelingt es mittlerweile »hinterlistig in die Regie der Würde« einzudringen, indem sie »freiwilliges Handeln« veranstaltet und denjenigen, der sich dem nicht beugt, in den sozialen Tod führen kann – ein Merkmal, das bislang totalitären Staaten vorbehalten war, und das sich durch die von jedermann einsetzbaren sozialen Medien auf eine verhängnisvolle Weise verstärkt hat.
In der Zivilgesellschaft tobt seit Auftreten der AfD ein spürbarer Kampf um die Deutungshoheit, in dem der Gegner den eindeutigen Vorteil hat, daß er sich den Staat insbesondere an den politisch relevanten Stellen zur Beute gemacht hat. Die Instrumentalisierung der Menschenwürde zum Kampfbegriff ist ein Mittel, mit dem der ungleiche Kampf um die Zukunft Deutschlands geführt wird.
Der Partikularismus soll als Ideologie der Menschenwürdeverletzung aus dem Kanon der vertretbaren Meinungen gestrichen werden. Neben dieser Aussicht nimmt sich jede Debatte um öffentliche und geheime Prüffälle als Ablenkungsmanöver aus, mit der die eigentliche Stoßrichtung verschleiert werden soll.