Die Aversionen, die das Gros der Konservativen und ein obligater Anteil der Rechten gegenüber all dem offenbaren, was »links« markiert ist, sind traditionell groß. Die instinktive Ablehnung wird oftmals mit wohlfeiler Empörung (über linke Machenschaften, Akteure usf.) garniert, die an spiegelverkehrte Verhaltensmuster des Antifaschismus erinnert.
Armin Mohler mokierte sich in seinem richtungsgebenden Essay Gegen die Liberalen ob dieser falschen Tradition. Der Urvater einer Neuen Rechten verwies darauf, daß Rechte, die sich primär als Kommunistenfresser vertun, letztlich apolitische, harmlose Menschen seien.
Bei demjenigen jedoch, der seinen Blick dem Liberalismus und seinen Erscheinungsformen zuwende, werde die Sache ernsthafter:
Denn dieser Rechte hat einen Feind, der bereits innerhalb der Burg agiert und unsere Abwehr so weich macht, daß der äußere Feind eindringen kann.
Dieser Rechte, so kann man ergänzen, »hat« diesen »Feind« nicht nur. Er weiß auch, daß gerade der Liberalismus jenen Boden bestellt, den linke Strömungen chronisch benötigen, um zu gedeihen. Deshalb (darauf verweist ein enger Freund Mohlers, Alain de Benoist) bleibt der Liberalismus wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch der primäre Gegner; linke Gesinnungen verkörpern die unvermeidliche Kehrseite liberaler Dekonstruktion.
Daß dieser zeitlose Befund als kein Spezifikum der Bundesrepublik zu gelten hat, wird aufgrund globaler liberaler Omnipräsenz gemeinverständlich. Wird nun der Blick auf den aktuellen internationalen Krisen-Hotspot Venezuela gerichtet, könnte die Mohlersche Grundregel manchen Beobachtern anachronistisch erscheinen.
Schließlich haben, so Vertreter der harmlosen Rechten, »die Linken« ein prosperierendes Idyll erdölbasierter liberaler Demokratie in finstere sozialistische Tyrannei gestürzt, wovon das venezolanische Volk nur durch Rettung des stets präsenten Außen – Donald Trump ante portas? – befreit werden könne.
Doch zeigt das Exempel Venezuela, daß liberales Treiben erst jene »linken« Zustände hervorruft, die man sodann ausgerechnet mit liberaler Medizin kurieren möchte: ein Teufelskreis, der wiederkehrend, und zwar auf lateinamerikanischer wie globaler Ebene, zu diagnostizieren ist.
Lateinamerika ist seit Mitte des 20. Jahrhunderts – ob in Mittelamerika, in der Karibik oder in Südamerika – gekennzeichnet vom dualistischen Ringen zwischen liberalen und linken Kräften. Es ist kein Großraum, in dem die politische Rechte glänzen kann: De facto stehen sich liberale und linke Regimes und Parteien gegenüber.
Selbst volksnahe und »identitäre« Standpunkte finden sich in diversen »linken« Fraktionen wieder, während die Rechte als devote Klientelpartei kleinerer Gesellschaftsschichten und bestimmter, in Richtung Washingtons orientierter Kapitalfraktionen fungiert.
Dieses vereinfachte Schema – kapital- und US-hörige liberale Fraktion samt rechten Rudimenten versus indigene, identitäre oder kommunistische Linke – bestimmt seit Jahrzehnten die ideologische Frontstellung im lateinamerikanischen Raum.
Dort sahen sich linke Kräfte Ende der 1980er Jahre mit der Zwangslage konfrontiert, über keine realistische Machtoption mehr zu verfügen. Der parlamentarische Weg, das zeigten CIA-gestützte Putsche gegen siegreiche linke Bewegungen wie in Chile, war verbaut: Im Falle eines Wahlsiegs im »Hinterhof« intervenieren die Vereinigten Staaten.
Eine bewaffnete Erhebung? Seit Kubas Revolution gelang sie nirgends mehr, kostete bei den gleichwohl gestarteten Versuchen zahlreiche Menschenleben. Dann, nach etlichen Jahren politischer Dürre, richtete sich aller Elan auf das geographische Herz Lateinamerikas, am Nordrand Südamerikas, am Südrand der Karibik: Das Venezuela, das Chávez ab 1998 zu bauen versuchte, wurde Ideal- und Leitbild, und auch heute, 20 Jahre nach der Geburt dieses materialisierten Mythos, tun sich insbesondere Europas Linke schwer mit einer Distanzierung vom idealisierten chavistischen Projekt, das (temporär) reüssieren konnte, weil liberale Regierungen jahrzehntelang die Voraussetzungen schufen.
Dabei ist der venezolanische Fall spannend und zeigt, was passiert, wenn ein Staat an seinem apodiktischen Extraktivismus in Form einer »monokulturellen Erdölwirtschaft« (Stefan Peters) scheitert. Das Land verfügt über die größten Erdölreserven weltweit; selbst die Staaten des Arabischen Golfs können nicht aufschließen (allerdings ist venezolanisches Rohöl extrem schwer zu verarbeiten; Öl ist nicht gleich Öl).
Seit über 100 Jahren gilt Venezuela als Rohstoffausbeutungsland: 1914 investierte Royal Dutch (heute: Shell) in Ölgewinnung, drei Jahre später folgten die ersten Lieferungen nach Europa. Die daraufhin einsetzende und bis heute bestehende Ausrichtung der gesamten Volkswirtschaft auf den totalen Rohstoffexport wurde in den 1920er und 1930er Jahren zementiert.
Unter Diktator Juan Vicente Gómez (1857 – 1935), der ab 1908 bis zu seinem Tod regierte, boomte das Ölgeschäft; es verschaffte der am Export beteiligten Schicht exorbitante Gewinne, stellte aber auch ärmere Schichten durch Entlastungen zufrieden.
Gómez legte die Grundsteine für Probleme, die auch 2019 noch dominieren: Mehr Fokussierung auf Rohstoffe bedeutet weniger Entwicklung anderer Bereiche, weil sich die Vorstellung festsetzt, daß das eine schwarze Gold alle Probleme dauerhaft lösen könnte.
In jener Phase setzte im Zuge des neuen Reichtums die kulturelle Angleichung an die USA ein. Es galt fortan schick in der Hauptstadt Caracas, der um 1929 teuersten Stadt der Welt, in die Vereinigten Staaten zu reisen, Baseball zu verfolgen (bis heute der beliebteste Sport Venezuelas) und exzessiv zu konsumieren.
Die Kontinuität des Konsumismus und der USA-Orientierung besitzender Schichten wurde eingeleitet und setzt sich fort – bis heute. Die auf Gómez folgenden Herrscher hielten grosso modo an dessen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell fest; erst Diktator Marcos Pérez Jiménez (1914–2001) versuchte in den 1950er Jahren, den Begünstigtenkreis des Ölexport-Wohlstands zu verbreitern und hat deshalb trotz autoritärer Maßnahmen noch heute Anhänger im Land.
1958 wurde er ins Exil getrieben. Im Abkommen von Punto Fijo wurde der Grundstein für die perennierende proporzähnliche Ausbeutung des Ölreichtums gelegt: Sozial- und Christdemokraten teilten den Kuchen unter sich auf.
Die kulturelle Amerikanisierung der urbanen Bevölkerung wurde auf diese Weise verstetigt, der Wohlstand wurde »fair« verteilt auf die unterschiedlichen Klientels der führenden großstädtischen Schicht. Der Nebeneffekt war eine Rentenmentalität samt entsprechender, nationaler Wirtschaftskultur, beide sind bis heute verankert.
Als verheerend erwies sich, daß Venezuela es verpaßte, dem Extraktivismus eine »europäische« Note beizugesellen. Während in Norwegen etwa ein Investmentfonds gegründet wurde, der heute eine Billion Dollar umfaßt und den Reichtum der skandinavischen Öl-Nation und ihrer Bürger sichert, wurde ein entsprechender Fonds in Caracas zwar eingerichtet, aber nie gefüllt: Die liberalen Eliten verpraßten das durch den Rohölexport gewonnene Kapital ohne Bildung von Rücklagen und investierten in Privatbesitz in südlichen US-Bundesstaaten.
Nicht zuletzt weil die Nahost-Ölkrise von 1973 Venezuela einen weiteren Reichtumsschub verschaffte, war es möglich, ohne Massenproteste durchzukommen: »Saudi-Venezuela« prosperierte, und die unteren wie mittleren Schichten wurden durch öffentliche Maßnahmen wie Benzin- und Lebensmittelsubventionen sowie kostenlosen Nahverkehr daran beteiligt.
Dieser »Fahrstuhleffekt« – alle Klassen streben nach oben, wenngleich in unterschiedlicher Intensität – wurde verstärkt, als Carlos Andrés Pérez (1922–2010) von 1974 bis 1979 das Ölgeschäft verstaatlichte, den staatseigenen Erdölkonzern PDVSA installierte und die Sehnsucht nach Gran Venezuela kundtat.
Diese Erwartung wurde nicht erfüllt. Das lag zum einen am Ölpreis – die Lage in Nah- und Mittelost stabilisierte sich – und zum anderen daran, daß das Grundproblem seit 1917 die Verteilung der Gewinne, der mühelosen Rente, ist. Die Konfliktlinie im liberalen venezolanischen Rentenkapitalismus hieß nicht (wie im industriellen Europa) Arbeit gegen Kapital, sondern Verteilung der Erträge.
Auf diese Weise sind Wirtschafts- und Finanzpolitik mittel- oder gar längerfristig kaum planbar. Es war dies der liberale Sündenfall des Rentierstaates Venezuela: Jede Interessensgruppe bediente und versorgte ihre eigene Klientel – und bis 1978 gedieh dieses Modell überwiegend störungsfrei.
Dann stürzte das Land von Krise zu Krise und erlebte bis 1998 eine Rezession. Der Reichtum, der durch den Extraktivismus erzielt wurde, schwand; begünstigt werden konnten nur noch kleine Kreise der Caracas-Eliten. Verschiedene Negativschübe (z. B. »Schwarzer Freitag« vom 18. Februar 1983 oder die manifeste Bankenkrise im Jahr 1994) sorgten für eine Verschlechterung der Lebensverhältnisse breiter Schichten.
Auch die Rückkehr an die Macht des einstigen Herrschers Carlos Andrés Pérez änderte daran nichts. Pérez startete 1989 ein neoliberales Reformprojekt, dessen Folgen darin bestanden, daß die Sozialausgaben im Vergleich zu 1981 um 40 Prozent gesenkt wurden.
Von der Verdopplung der Benzinpreise und der Aufhebung der Subventionen für Lebensmittel wie auch von der Preissteigerung für Strom, Wasser und Gas wurde die absolute Bevölkerungsmehrheit getroffen. Im Februar kam es zu Massenausschreitungen, dem sogenannten Caracazo.
Bis zu 3000 Tote waren das Resultat von Massenprotesten und ihrer gewaltsamen Niederschlagung. Das Land kam fortan nicht mehr zur Ruhe, Kriminalität und Armut nahmen zu. 1992 kulminierte eine neuerliche Protestwelle in einem (dilettantischen) Putschversuch. Einer der Militärs war der damalige Oberstleutnant Hugo Chávez.
Während seine Mitstreiter flüchteten, stellte sich Chávez: Als einer, der Verantwortung übernahm und sich nicht davon stahl, wurde er landesweit populär; zahllose Menschen pilgerten zu seinem Gefängnis. Unter ihnen befand sich Norberto Ceresole (1943–2003).
Der argentinische Publizist baute ein Vertrauensverhältnis zu Chávez auf und wurde nach seiner vorzeitigen Haftentlassung dessen engster Berater und Redenschreiber (von 1994 bis 1999). Er war ideologisch in den Zwischenräumen zwischen Linksfaschismus und Nationalbolschewismus zu verorten – als ehemaliges Mitglied der sowjetischen Akademie der Wissenschaften war Ceresole ebenso aktiv wie als zeitweiliges Sprachrohr der libanesisch-schiitischen Hisbollah-Bewegung in Spanien; die Ansprachen von Chávez verzierte er mit Vorliebe mit Zitaten von Carl Schmitt oder Karl Haushofer.
Chávez’ Selbstverständnis als charismatischer Führer wurde durch Ceresoles zur Schau gestellte Bewunderung wie auch ideologische Setzungen – »Caudillo, Armee, Volk« – gestärkt. Das Caudillo-Bild entwickelten Ceresole und Chávez anhand des venezolanischen und lateinamerikanischen Libertador Simón Bolívar (1783–1830).
Bolívar war ein unerschrockener Militärführer, der im Zuge seiner Waffengänge gegen europäische Kolonisatoren und regionale Konkurrenten mehr Kilometer zurückgelegt hatte als Hannibal, Alexander der Große und Cäsar zusammen. Ceresole entwickelte die Leitidee, daß ein militärischer Anführer von Bolívars Schlage dem genuin lateinamerikanischen Herrschertypus entspräche.
Da Chávez kein klassischer Linker war, sondern ein Militär mit popularen Neigungen, fremdelte die große, aber zersplitterte Linke Venezuelas mit ihm. 1998 kandidierte er mit seiner Bewegung Fünfte Republik zur Wahl. Seine Ziele waren das Ende der elitistischen Proporzaufteilung des Reichtums sowie der Untergang der verhaßten Vierten Republik samt der von dieser begünstigten US-Hinterhofpolitik.
Die Rede war von einer Politik für eine Bevölkerungsmehrheit, nicht für die Reichen, weshalb man das Chávez-Konzept als Links populismus avant la lettre bezeichnen könnte: Dafür sprechen auch die (nach Regierungsantritt beibehaltene) direkte Ansprache des Volkes und die Feindschaft zu den »Altparteien«.
Das System sei der Fehler, unterstrich Chávez, also müsse etwas Neues her – gestützt von der wichtigsten Säule, dem Militär. Mit seinem »Plan Bolívar 2000« legte der Wahlsieger Chávez seine politischen Ziele offen: Er strebte den Umbau von Staat und Gesellschaft durch plebiszitäre Akte an, und als er den Eid als Präsident ablegte, schwor er wörtlich auf die »todgeweihte Verfassung«.
1999 ließ er zunächst über eine verfassungsgebende Versammlung abstimmen, in der auch »Bürgerkomitees« ihre Ideen einbringen konnten. 92 Prozent der Bürger (bei einer Wahlbeteiligung von nur 37 Prozent) stimmten im April für die Einberufung.
Im Dezember erzielte Chávez dann bei der entsprechenden Volksabstimmung über die von der Konstituante erarbeitete neue Verfassung der nun ausgerufenen Bolivarischen Republik – boykottiert durch relevante Oppositionsstrukturen – 72 Prozent (Wahlbeteiligung: 44 Prozent).
Das direktdemokratische Element des landesweiten Plebiszits räumte man auch der Opposition ein: Diese scheiterte aber im August 2004 mit einem Mißtrauensvotum über die weitere Präsidentschaft Chávez’ – der Präsident erhielt 59 Prozent und konnte seine Macht als Wahlsieger, der den Urnengang bei offenem Ausgang ermöglichte, festigen (er verlor 2007 gleichwohl eine Abstimmung über eine neuerliche Verfassungsreform denkbar knapp).
Die zumindest teilweise in Wahlsiegen manifestierte Popularität lag an Erfolgen, die Chávez zunächst verbuchen konnte. Zwischen Amtsübernahme und 2006 sank die Armut (gemäß Angaben der Vereinten Nationen) von 50 auf 30 und die Arbeitslosigkeit von 17 auf zwölf Prozent, die Lebenserwartung stieg, Analphabetismus wurde erfolgreich bekämpft, die Gesundheitsversorgung wurde Stück für Stück modernisiert und allen Bürgern zugänglich.
Dies gelang, obwohl der Caudillo einen aufgrund neoliberaler Maßnahmen und Selbstbedienungsmentalität ausgebluteten Staat ohne effektive Sozialstruktur übernommen hatte und der Ölpreis auf niedrigem Niveau stagnierte. 2002 überlebte Chávez einen Putsch unzufriedener Militärs, die via CNN ihre Ziele verkündeten.
Der Umsturz, von der Regierung George W. Bushs unterstützt, mißlang, verhärtete aber den Charakter der Führungsclique – Bolívars »Wir oder die« wurde zum Mantra. Als 2003 der Ölpreis anstieg und neue Erfolge möglich wurden, versandete das Kapital in schwarzen Löchern der chavistischen Elite: Man war selbst zum korrupten Klientelismus übergegangen.
Dies wurde durch Chávez’ mangelnde Entschlossenheit zu einer Umkehr in der ausschließlich auf Erdöl fixierten Volkswirtschaft begünstigt; strukturelle Eingriffe blieben ebenso aus wie Investitionen. Statt dessen fokussierte sich die Regierung Chávez auf antiimperialistische Rhetorik und Zurückdrängung US-amerikanischer Einflüsse in Lateinamerika.
2005 gründete man die TV-Station TeleSur als Gegenpart zur übergriffigen US-Senderwelt; 2006 verkündete man den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« – einen Terminus, den man sich vom deutschen Soziologen Heinz Dieterich lieh, der nach Ceresoles (auch von kubanischen Mentoren) erzwungenem Abgang der bedeutsamste Ratgeber Chávez’ wurde.
Dieterich, der seit 1976 in Mexiko-Stadt lehrte und der meistübersetzte lebende politische Autor in Mexiko ist, verwob lateinamerikanisch-autochthone Ideen mit marxistischen Ideologiefragmenten. Heute hat er sich vom venezolanischen Regime abgewandt: Er spricht verdrießlich von einem »charismatisch-bonapartistischen Herrschaftsmodell«.
2007 ließ Chávez den venezolanischen Besitz einiger US-Konzerne enteignen. Der erzielte Ertrag wurde jedoch nicht für Investitionen oder Rücklagen verwendet, und ebensowenig wurden neue Zweige der Produktion erschlossen: 95 Prozent der Exporterlöse wurden weiter aus Erdöl erzielt, während fast alle anderen Güter importiert werden mußten.
Als der Ölpreis wieder fiel, war das konsumistische Modell nicht mehr durchzuhalten; die Krise gewann an Fahrt. 2013 starb Chávez an Krebs und wurde durch den Nicht-Militär Nicolás Maduro ersetzt. Unter Maduro eskalierte die bereits unter Chávez angelegte Korruption; die vereinigte Linke war längst zur Selbstbereicherung übergegangen, die für die vereinigten liberalen Parteien einst so kennzeichnend war.
Maduros »Vaterlandsplan« – mit dem Ziel der wirtschaftlichen Umsteuerung auf mehrere Zweige der Produktion – schlug fehl. Das lag auch daran, daß die Einnahmen aus dem Ölexport, die man hierfür benötigt hätte, in die Schuldentilgung gesteckt werden mußten – bis zu 45 Prozent Zinsen wurden von Goldman Sachs und anderen abgerufen.
Die stetige Verschlechterung der Lebensverhältnisse führte zu einer Rückkehr der Gewalt- und Alltagskriminalität: Caracas ist heute eine der gefährlichsten Städte der Welt, woran die Maduro-treue Miliz und »Friedenskollektive« als mobile Eingriffstruppen nicht viel ändern – und oftmals nicht viel ändern wollen, verspricht selektives »Sicherheitsmanagement« doch Einfluß und Gelder von jenen, die es sich leisten können.
Die aktuelle Krisensituation von 2019 liegt ganz wesentlich im Mai 2017 begründet. Eine »Verfassungsgebende Versammlung« wurde von Maduro einberufen, die Opposition boykottierte. Harte Gesetze wurden erlassen, die auch den deutschen neokonservativen Journalisten Billy Six trafen, der trotz seines labilen Gesundheitszustandes für über hundert Tage in einer Haftanstalt interniert war.
Im Mai 2018 wurde Maduro gleichwohl für weitere sechs Jahre im Amt bestätigt, auch hier boykottierten die relevanten Oppositionsstrukturen den Urnengang. Parallel überschlugen sich die Ereignisse: Hatte bereits Donald Trumps Vorgänger Barack Obama Venezuela zu einer »außerordentlichen Bedrohung für die nationale Sicherheit« der USA erklärt, verschärfte Trump den Ton, was den italienischen Philosophen Diego Fusaro dazu animiert, im Falle der heutigen Putschstimmung gegen Maduro von einem langfristigen »Ergebnis einer imperialistischen Strategie« zu sprechen.
In der Tat haben die USA wie keine zweite Nation auf einen Staatsstreich in Venezuela hingearbeitet. Maduro sei ein »kranker Tyrann«, seine »Tage seien gezählt«, urteilte US-Außenminister Mike Pompeo, der offensive Maßnahmen ankündigte.
Dieses Ansinnen wurde von weiteren Akteuren der liberalen Weltordnung flankiert: Ende 2018 verweigerte die Bank of England die Rückgabe des venezolanischen Goldes. 14 Tonnen gingen der Staatskasse in Caracas so verloren, was um so folgenschwerer wirkt, da das eigene Gold die letzte große Devisenoption für den Einkauf von Nahrung und Medikamenten ist; alles andere ist durch weitreichende Sanktionen gegen Venezuela längst irreal geworden.
Wer einmal mehr das US-Narrativ der Besorgnis um eingehaltene Menschenrechte bezweifelt und materielle Interessen hinter der folgenschweren Wühlarbeit vermutet, liegt nicht falsch. Am 1. Januar 2019 übernahm Venezuela planmäßig den Vorsitz der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC).
Maduro kündigte an, bei Rechnungslegungen vom US-Dollar auf andere Währungen umzusteigen. Nachdem Rußland bereits 2018 begonnen hatte, eine Billion Dollar Reserven in Yuan, Yen und Euro umzutauschen, verhieß dieser Schritt für die USA weitere Probleme.
Drei Wochen später erklärte sich der 35jährige liberale Politiker Juan Guaidó – seine Parteifarbe ist das obligatorische Regime-Change-Orange – zum Interimspräsidenten Venezuelas (Guaidó vertritt seinen unter Hausarrest stehenden Parteichef Leopoldo López).
Guaidós Clique berief sich auf die Verfassung; man sei »den Artikeln 233 und 333 verpflichtet«. Letzterer ermöglicht de iure allen Venezolanern Widerstand im Falle eines Verfassungsnotstands. Ersterer nennt »Hinderungsgründe« für den Fall, daß ein Präsident sein Amt nicht ausüben kann (Tod, Krankheit oder eine durch den Obersten Gerichtshof angeordnete Absetzung).
Tatsächlich erklärte ein Oberster Gerichtshof Maduro auf Basis ebenjenes Artikels 233 für abgesetzt – allerdings gibt es in Venezuela zwei Oberste Gerichtshöfe: Jeder Präsident hat derzeit einen eigenen. Realistischen Schätzungen zufolge stehen hinter Maduro weiterhin 30 Prozent der Bevölkerung, das Militär sowie die äußeren Potenzen China und Rußland.
China hat 62 Milliarden Dollar insbesondere in den Rohstoffsektor investiert. Die Hälfte der Kredite, die mit Erdöl getilgt werden, sind noch nicht beglichen, weshalb Peking zugunsten Maduros optiert, aber sicherlich flexibel auf einen Machtwechsel reagieren würde.
Auch Rußland ist in Venezuela umtriebig; Moskau ist der traditionelle Handelspartner für Caracas im Bereich Waffenkäufe (Panzer, Kampfjets, schweres Gerät). Rußland hat etwa 17 Milliarden Dollar investiert, ebenfalls in den Rohstoffsektor.
Trotz militärischer Partnerschaft und offensiver Verurteilung der US-Interventionspolitik dürfte Rußland kein hohes Risiko eingehen. Guaidó kann ebenfalls bis zu 30 Prozent Unterstützung verbuchen (der Rest ist unentschlossen oder hat resigniert), hinzu kommt eine illustre Allianz, die aus den USA, Brasiliens Jair Bolsonaro, Merkel-Deutschland und Frankreich besteht.
Die Selbstkür Guaidós respektive der »von der US-Regierung unterstützte Putschversuch« (Tobias Lambert) fand dann auch Lob durch die vereinte bundesdeutsche Politik (einschließlich weiter Teile der AfD, trotz Mohler-Diktum). Einzig die Linkspartei äußerte Solidarität mit der Souveränität Venezuelas, verfing sich aber freilich in altbackenem Jargon gestriger Ideologien.
Was indessen Angela Merkel und Beatrix von Storch nicht wahrhaben wollen: Die hauptsächlich aus liberalen Kräften (aber auch aus sozialdemokratischen und ex-chavistischen Akteuren) bestehende Opposition ist nicht nur zerstritten, sondern sie wird ausschließlich durch den Willen vereint, (wieder) zu den Futtertrögen der Macht zu gelangen.
Dieses gegenständliche Interesse und die offenkundige Lenkung Guaidós aus dem Ausland dürfte die Ursache dafür sein, daß trotz der in jeder (sozialen, ökonomischen, politischen usf.) Hinsicht eklatanten Mängel des Maduro-Regimes ein Regierungswechsel nicht in Sicht ist: Guaidós Aufrufe an Militär und Polizei, zu desertieren, verhallen.
Seit Januar setzten sich nach übereinstimmenden Schätzungen 600 Sicherheitskräfte ab – das reicht nicht für den gewünschten Bürgerkrieg. Guaidó kehrte Anfang März unbehelligt zurück nach Caracas (am Flughafen bejubelt von Botschaftsmitarbeitern aus EU-Ländern) und kündigte – wie immer über Twitter – an, noch im März und April eine Entscheidung zu erzwingen, denn die Zeit für »falsche Dialoge« sei vorbei.
Eine Lösung der Krise ist damit nicht in Sicht. Aus Perspektive der Staatssouveränität ist der Eingriff des Westens in die inneren Angelegenheiten Venezuelas zu verurteilen, doch darf dies nicht mit einem Blankoscheck für die Maduro-Regierung verwechselt werden: Die Armut in Venezuela liegt heute bei 87 Prozent.
Nach Angaben der Universität UCAB in der Hauptstadt gilt dabei jeder als »arm«, dessen Haushaltseinkommen nicht ausreicht, um die Lebenshaltungskosten zu decken. Die Gesamtschuld Venezuelas liegt bei 181 Milliarden US-Dollar (80 Prozent des BIP), Korruption und Klientelismus sind allgegenwärtig, eine Million Venezolaner leben im Ausland.
Im Zustand der verewigten Krise mit Währungsverfall und Preisexplosion auf den Schwarzmärkten neigen nun viele Venezolaner, so der Publizist und Soziologe Edgardo Lander, zu »individualistischen und kompetitiven Reaktionen«. Angesichts der nachhaltigen Fokussierung der Opposition auf die neoliberale Oppositionspartei Voluntad Popular ist zu befürchten, daß jener liberale Ungeist von linker Stümperei profitiert, der ebendiese Verfallsgeschichte erst ermöglichte.
Fällt Maduro, kommt Guaidó – und das impliziert: Jahrzehnte liberaler Mißwirtschaft in Venezuela scheinen nach dem Scheitern des (Post-)Chavismus vergessen; die liberalen Klientelpolitiker bekämen ihre nächste Chance, und es ist anzunehmen, daß nach entsprechenden Schocktherapien wiederum linke Strömungen an Bedeutung gewönnen.
Der Teufelskreis ist ein Kreis. Venezuela als Exempel verweist damit auf die Notwendigkeit nichtlinker und nichtliberaler Wege: In diesem Fall ist tatsächlich jede Seite die falsche, und das Mohlersche Assortiment »Mafia oder Gulag« bewahrheitet sich einmal mehr.
Doch eine politische Rechte, die damit Schluß zu machen trachtet und Politik im Sinne des übergeordneten Staats und des gesamten Volkes betreiben könnte – sie existiert in Venezuela nicht. So taumeln 30 Millionen Menschen in den Abgrund.