Mehr als vier Jahrzehnte hatte es gedauert, bis Walter Lippmanns 1922 erschienenes Buch Public Opinion erstmals ins Deutsche übersetzt wurde. Das Buch des New Yorker Journalisten und Beraters von US-Präsident Woodrow Wilson zählt nicht nur zu den Klassikern der Politischen Soziologie, sondern auch zum fixen Waffendepotinventar der psychologischen Zwischen- und Nachkriegsführung.
Weitere 54 Jahre gingen ins Land, bis das sicherlich wesentlich häufiger zitierte als tatsächlich systematisch studierte Langzeitdesiderat nun wieder in deutscher Sprache verfügbar ist und somit prinzipiell auch lesbar wäre. Doch wie das Gehirn beim Anhören überkomprimierter Audiodateien subtrahierte Frequenzen wieder rekonstruieren muß und dadurch schneller ermüdet, ermüdet es erst recht beim Lesen eines Textes, der so fehlerhaft ist, daß sich der Verdacht einstellt, die meisten Fehler überlesen zu haben.
Ein solches Druckwerk auf den Markt zu bringen, ist dem Westend-Verlag und den Herausgebern Walter Ötsch und Silja Graupe mit Lippmanns Werk gelungen (Die öffentliche Meinung. Wie sie entsteht und manipuliert wird, Frankfurt a. M. 2018. 376 S., 26 €). Gravierende Übersetzungsfehler, anakoluthe Satzkonstruktionen sowie unzählige Orthographie- und Grammatikfehler machen das Buch stellenweise unleserlich.
Die beiden Übersetzer, welche den Text aus dem Amerikanischen übertragen haben wollen, dürften hauptsächlich die Urübersetzung von 1964 übernommen haben, die damals bereits anläßlich ihres Erscheinens ob ihrer Fehlerhaftigkeit getadelt wurde.
Obwohl einzelne Sätze von der Urfassung abweichen, wurden unzählige Fehler ungeprüft übernommen. Auch zusätzliche Errata haben Eingang in den Text gefunden. Handelt es sich an manchen Stellen um nicht sofort ersichtliche Schlampigkeiten (wenn etwa aus He is a regular fellow »Er ist Berufssoldat« wird oder predicament sogar unterschiedlich fehlübersetzt wird, einmal mit »Vorschrift« und ein andermal mit »Voraussage«), so wurden manche Wörter oder ganze Sätze derart sinnentstellend übertragen, daß sie für den Leser unverständlich bleiben müssen.
Das Antonympaar nature and nurture (»Anlage und Umwelt«) etwa wird mit »Natur und Nahrung« (S. 180), labor (»Arbeiterschaft«) mit »Gewerkschaft« (S. 200) und die Wendung rare enough to be clearly remarkable widersinnig mit »zu selten, um bemerkenswert zu sein« anstatt korrekt mit »selten genug, um deutlich feststellbar zu sein« übersetzt.
Bei den hier angeführten Beispielen handelt es sich wohlgemerkt um eine kleine Auswahl zufälliger Stichproben. Eine bis heute strittige Frage, die auf Grundlage einer mangelhaften Übersetzung natürlich noch schwieriger zu beantworten ist, ist jene, wie Lippmanns Buch grundsätzlich gedeutet werden kann.
In Hinblick auf die Neuausgabe schließt sich hier die Frage an, zu welcher Interpretation die Herausgeber tendieren und welche Lesart sie dem Leser nahelegen. Im Rückentext wird Lippmann zu Recht als »einer der einflußreichsten Propagandisten des Neoliberalismus und einer gelenkten Demokratie«, im vorderen Klappentext hingegen als »früher Warner« vor »politischem Spin«, »Fake News« und der »Beeinflussung sozialer Veränderungsprozesse« bezeichnet.
Hier stellt sich die Frage: Mit welcher Begründung kann ein professioneller Propagandist und Manipulator der öffentlichen Meinung gleichzeitig als Warner genau davor bezeichnet werden – und dies beides auf dem Schutzumschlag des gleichen Buches?
Die Einführung, in der Lippmann als »früher Warner« vor »politischem Framing« bezeichnet wird, kann freilich selbst als ein Frame interpretiert werden, innerhalb dessen die Herausgeber Lippmanns Buch gerne gedeutet wissen möchten. Sie notieren weder widerspruchsfrei noch überzeugend:
Die öffentliche Meinung betrachten wir […] nicht als Werk der Propaganda, der Manipulation oder der Beeinflussung, gleichwohl es sich über weite Strecken als ein Handbuch für diese Praktiken lesen lassen mag. Lippmann, so scheint es uns, möchte mit Die öffentliche Meinung aufklären, zum Denken anregen und Debatten anstoßen.
(S. 19)
Auf S. 176 führt Lippmann aus, daß der Charakter, den die Leute einer Geschichte verleihen, je nach Stellung des einzelnen Menschen »auf dem Schachbrett der Lebensspiele, an denen er sich beteiligt«, variiere. Die Welt ist demnach ein Schachbrett und der Mensch eine Spielfigur auf demselben.
Seine Beteiligung an den »Lebensspielen« kann – damit die Schachbrett-Metapher einigermaßen funktioniert – eigentlich nur passiv erfolgen. Und dennoch: Der Mensch spielt und ist in Lippmanns Menschenbild zugleich eine Spielfigur.
In diesem Bild kommt die Ambiguität besonders gut zum Ausdruck, die das ganze Buch durchwirkt. Die Lesart oszilliert zwischen zwei Realitätsaktualisierungsoptionen, die sich aus dem sogenannten Thomas-Theorem ableiten lassen: der self-fulfilling und der self-destroying prophecy.
Entweder ist das Buch eine Anleitung zur Manipulation oder eine Warnung davor, wobei die Lesart der Warnung, welche die Manipulation vereiteln würde, gerade jener Lesart, die die Manipulation ermöglicht, als Alibi dient, so daß der self-fulfilling prophecy schließlich – voilà! – kein Aktualisierungswiderstand mehr im Wege steht.
Dieses Prinzip scheinen die Herausgeber zu übersehen, wenn sie zu dem Schluß kommen,daß Lippmann »als ideale gesellschaftliche Entwicklung der Aufstieg eines unabhängigen Expertentums« vorschwebt, »das eben gerade keine eigene politische Agenda« verfolgt, auch wenn sie einräumen, daß Lippmanns »Vagheit der Ideen bezüglich der Etablierung der für diese Gruppe von Menschen notwendigen institutionellen Kontexte tatsächlich problematisch« ist. (S. 30)
Das gleiche gilt für das Unterkapitel »Die Rolle der Bildung« (S. 33–35), wo Lippmann fast zu einem idealistischen Apologeten einer ästhetischen Erziehung des Menschen stilisiert wird, obwohl die Herausgeber einräumen müssen, daß die heutige Bildungssituation von Lippmanns Idealen weit entfernt ist.
Insofern sie Lippmanns Buch also eine realgesellschaftliche Wirkungsgeschichte zugestehen wollen, müßten sie in Anbetracht der heutigen Lage zu dem Schluß kommen, daß Lippmanns idealistischer Labialkonfessionalismus keinerlei Anzeichen einer Verwirklichung erkennen läßt, sein Handbuch des Manipulationsrealismus hingegen wörtlich genommen worden sein dürfte.
Die Herausgeber scheinen zwar zu erkennen, daß Lippmann im Bereich hehrer Idealvorstellungen wesentlich weniger zufriedenstellend argumentiert als hinsichtlich aller anderen thematisierten Bereiche, aber auszublenden, mit welcher methodischen Konsequenz Lippmann durchgehend auf zwei Ebenen operiert: einerseits auf jener des Realismus und andererseits auf der von Idealen oder »vagen Ideen« bzw. undurchführbaren Utopien, wobei letztere Ebene der ersteren als Alibi dient.
Lippmann entlarvt in genialer Weise die Irrationalität des Rationalismus, indem er zeigt, wie indoktrinierbar und steuerbar jener in demokratischen Illusionen schwelgende Bürger ist, der sich so gerne als mündig, vernünftig und aufgeklärt titulieren läßt.
Auf der Ebene des Realismus expliziert er eine realistische Anthropologie, indem er psychologische Mechanismen beschreibt, deren Faktizität nicht weggeleugnet werden kann. Auf dieser Ebene ist seine Darstellung äußerst exakt – und genau hier liefert er auch eine unfehlbare Anleitung zur erfolgreichen Manipulation.
Sobald es jedoch darum geht, jene unabhängigen Experten zu beschreiben, die völlig selbstlos und unkorrumpierbar ihren hehren Dienst zum Wohle der gesamten Menschheit verrichten sollen, schwenkt er auf die idealistische Ebene und bricht seine Ausführung ab, bevor ersichtlich wird, daß eine Idealkonkretisierung nie angedacht war. Lippmann sagt selbst, wie das funktioniert:
Denn der geschickte Propagandist weiß, daß man zwar mit einer einleuchtenden Analyse beginnen muß, dann aber nicht weiter analysieren darf, da die Eintönigkeit realer politischer Verrichtung das Interesse bald absterben lassen würde. So erschöpft der Propagandist das Interesse an der Realität durch einen einigermaßen plausiblen Anfang und entfesselt sodann Energie für eine lange Reise, indem er eine Eintrittskarte für den Himmel hin und her schwenkt.
(S. 175, hier jedoch in eigener Übersetzung)
Vielleicht wäre der 100. Jahrestag der Erstveröffentlichung im Jahr 2022 ein geeigneter Stichtag, um eine fehlerfreie Neuübersetzung dieses Propagandaklassikers herauszugeben. Gerade in Hinblick auf die von Lippmann beschriebenen Mechanismen der Idealisierung und Dämonisierung als politisches Instrument wäre hier Lehrreiches zu finden.
Wenn Sie sich die deutsche Erstübersetzung trotz ihrer offenkundigen Mängel zu Gemüte führen wollen, können Sie Die öffentliche Meinung bei Antaios, bestellen.