Warum Sachsen? Warum der Osten?

von Jörg Seidel
PDF der Druckfassung aus Sezession 90/Juni 2019

Das ist eine Fra­ge jener Art, von der Her­mann Lüb­be nach­wies, daß »sie sich nur his­to­risch erklä­ren« las­se. Weil sich in ihr ein Relikt ver­birgt, ein schein­bar funk­ti­ons­lo­ses Über­bleib­sel, ein Rest aus einer ver­gan­ge­nen Zeit, den das Wort »Wider­stand« recht gut trifft. Denn ernst­haf­ter poli­ti­scher Wider­stand ist eine Sel­ten­heit und eine Sün­de in Deutsch­land geworden.

Die Lis­te ist lang, es genügt, ein paar Namen der jün­ge­ren Geschich­te zu nen­nen, um die kor­rek­ten Asso­zia­tio­nen her­vor­zu­ru­fen: Plau­en und Leip­zig, spä­ter Claus­nitz, Dres­den, Ein­sie­del, Chem­nitz. Das Erstar­ken der AfD, PEGIDA und auch die NPD im Land­tag … all das sind Anzei­chen, daß die Uhren in Sach­sen etwas anders ticken.

Den­noch ist Sach­sen zuerst ein ost­deut­sches Phä­no­men: die Dif­fe­renz zwi­schen Ost und West ist grö­ßer als die zwi­schen Sach­sen und sei­nen ost­deut­schen Schick­sals­ge­nos­sen. Poli­tik und Pres­se ste­hen ihm noch immer rat­los gegen­über. Ihre Erklä­rungs­ver­su­che sind repe­ti­tiv und voraussehbar.

Man bringt – alles O‑Ton – das »auto­ri­tä­re Staats­ver­ständ­nis aus der DDR«, die »man­geln­de Auf­ar­bei­tung des Natio­nal­so­zia­lis­mus«, eine »feh­len­de inter­kul­tu­rel­le Kom­pe­tenz«, »Defi­zi­te im Erler­nen eines rich­ti­gen Demo­kra­tie­ver­ständ­nis­ses« oder die »Ent­täu­schung nach der Wen­de«, den sozia­len Abstieg, das »Feh­len posi­ti­ver Erfah­run­gen mit Zuwan­de­rern« – mög­li­che nega­ti­ve Erfah­run­gen wer­den bereit­wil­lig aus­ge­blen­det –, »ras­sis­ti­sche Res­sen­ti­ments«, eine »sub­stan­ti­el­le Demo­kra­tie­feind­lich­keit«, gar einen »Haß auf das Estab­lish­ment« und der­glei­chen immer wie­der ins Spiel, und lin­ke Par­tei­en schla­gen auch gern poli­ti­sches Kapi­tal dar­aus, indem man die CDU als Regie­rungs­par­tei, den Abbau von Poli­zei und Jus­tiz, »unge­nü­gen­de Inte­gra­ti­on der Asyl­su­chen­den« oder gar »man­geln­de poli­ti­sche Bil­dung« ver­ant­wort­lich macht.

Nir­gend­wo wird die Legi­ti­mi­tät des Pro­tes­tes mit­ge­dacht. Und auch wenn all die­se Argu­men­te einen Wahr­heits­kern ent­hal­ten, so zeu­gen sie doch von einer ideo­lo­gie­in­du­zier­ten selbst­auf­er­leg­ten Unmün­dig­keit und Denk­faul­heit. Der viel­leicht mar­kan­tes­te Zug des Lebens in der DDR – mit men­ta­len Fol­gen – war sei­ne Nivellierungstendenz.

Die sozia­le Ungleich­heit war auf ein heu­te kaum noch vor­stell­ba­res Maß geschrumpft. Das Lohn­ni­veau war nied­rig, aber gut und schlecht Ver­die­nen­de blie­ben in Sicht­wei­te. Lohn­be­schei­ni­gun­gen waren kei­ne Geheimnisse.

Auch teil­te man sich aus einem beschränk­ten Fun­dus die glei­chen Kon­sum­gü­ter. Die meis­ten Werk­tä­ti­gen rech­ne­ten sich selbst – rela­tiv unab­hän­gig von ihrer Funk­ti­on – der Arbei­ter­klas­se zu, »zuletzt war alles Arbeit – Wis­sen­schaft, Phi­lo­so­phie, Lite­ra­tur, Kunst« (Wolf­gang Engler).

Das »Du« der Genos­sen war ver­brei­tet, Arbei­ter, Bau­ern, Hand­wer­ker duz­ten sich ohne­hin. Ob Par­tei­se­kre­tär, Betriebs­lei­ter, ob Poli­zist oder Hilfs­ar­bei­ter, man wohn­te oft im sel­ben Block. Die Innen­ein­rich­tun­gen gli­chen sich, Indi­vi­dua­li­tät wur­de beschei­den aus­ge­drückt. Über zwei Mil­lio­nen Men­schen waren Mit­glied der SED, mehr als 95 Pro­zent des FDGB und drei von vie­ren in der DSF. Nie­mand litt exis­ten­ti­el­le Not, kaum jemand schwelg­te im Reichtum.

Die­je­ni­gen, die deut­lich über dem Durch­schnitt ver­dien­ten, taten gut dar­an, ihr Ver­mö­gen im Stil­len zu genie­ßen. Es herrsch­te auch in der DDR eine Art Ver­hal­tens­ko­dex, des­sen ers­tes Gesetz lau­te­te: »Du sollst nicht glau­ben, daß du etwas Beson­de­res bist.« Die Gleich­heit schärf­te das Sen­so­ri­um für Unter­schie­de. Mit Neid muß­ten die Pri­vi­le­gier­ten, mit Miß­gunst die Unab­hän­gi­gen rechnen.

Unver­schul­de­te Dif­fe­renz nach unten wur­de oft hel­fend aus­ge­gli­chen. Kon­trol­le funk­tio­nier­te in bei­de Rich­tun­gen: Nicht nur wur­den die Men­schen vom Staats­ap­pa­rat kon­trol­liert, son­dern die­se kon­trol­lier­ten auch jene, die sich öffent­li­che Exzes­se nicht leis­ten durf­ten. Grund­le­gen­de Lebens­be­din­gun­gen waren garan­tiert und meist staat­lich sub­ven­tio­niert: Mie­ten und Grund­nah­rungs­mit­tel waren güns­tig, Arbeits­plät­ze sicher, die ärzt­li­che Ver­sor­gung über eine zen­tra­le Kran­ken­kas­se abge­si­chert, öffent­li­che Ver­kehrs­mit­tel lächer­lich bil­lig. Es bedurf­te eini­ger Anstren­gung, in der DDR sozi­al zu scheitern.

Das nor­ma­le Leben ver­lief risi­ko­arm und gleich­för­mig. Die Kon­se­quenz war der weit­flä­chi­ge Rück­zug ins Pri­va­te. Das erzwang zudem die Man­gel­wirt­schaft. Da häus­li­che Arbeit kaum an Dienst­leis­tun­gen dele­giert wer­den konn­te, man immer auf der Suche nach Ersatz­tei­len war, muß­te die Arbeit selbst geleis­tet oder mit Bezie­hun­gen orga­ni­siert werden.

Man­gel führt zu Koope­ra­ti­on, Koope­ra­ti­on führt zu einem Zusam­men­ge­hö­rig­keits­ge­fühl, zur Erfah­rung von Selb­stän­dig­keit und Unab­hän­gig­keit. Vor allem die Män­ner zogen ihre Daseins­be­rech­ti­gung aus Auto, Haus und Gar­ten. An den Wochen­en­den stan­den sie auf der Stra­ße und pfleg­ten den Tra­bi, arbei­te­ten im Schre­ber­gar­ten – eine säch­si­sche Inno­va­ti­on – oder bau­ten mit der Schub­kar­re ihr Ein­fa­mi­li­en­haus. Sie waren Allrounder.

Das Erle­ben von Man­gel führt aber auch zu Sor­ge und vor­aus­schau­en­dem Den­ken, Über­fluß hin­ge­gen ani­miert die Sorg­lo­sig­keit. Das äußert sich in einer stär­ker aus­ge­bil­de­ten Ten­denz, aktu­el­le Vor­gän­ge in die Zukunft zu pro­ji­zie­ren und deren meist nega­ti­ve Fol­gen zu anti­zi­pie­ren. Die weit­ge­hen­de Frei­heit von öko­no­mi­schen Zwän­gen ließ die Öff­nung auf den Mit­men­schen zu.

Ehen wur­den aus Lie­be geschlos­sen und schei­ter­ten daher oft. Man schau­te auf »den Cha­rak­ter«, nicht auf den Geld­beu­tel oder Kar­rie­ren. Sozia­le Bezie­hun­gen wur­den weit weni­ger funk­tio­na­li­siert und auf Nutz­fak­to­ren aus­ge­rich­tet. Man begeg­ne­te sich auf Augen­hö­he, von Mensch zu Mensch, nicht als Reprä­sen­tant eines Besit­zes oder einer Funk­ti­on und ohne Konkurrenzängste.

Die Bezie­hun­gen im Pri­va­ten waren echt, wäh­rend in der Öffent­lich­keit der Schein regier­te. Eine schi­zo­phre­ne Situa­ti­on: Authen­ti­zi­tät im Eige­nen, Fas­sa­de im Öffent­li­chen. Der gesam­te öffent­li­che Dis­kurs wur­de in Sprech­bla­sen absol­viert. Auf der Rück­sei­te des Miß­trau­ens durch die staat­li­che Über­wa­chung und Kon­trol­le hat­te sich eine Ver­trau­ens­ge­sell­schaft im Klei­nen ent­wi­ckelt, zumin­dest für all jene, die sich poli­tisch nicht expo­niert hatten.

Die DDR hat­te die Men­schen ent­ge­gen ihrer Indok­tri­na­ti­ons­ab­sicht zu eigen­stän­dig den­ken­den – frei­lich mit ver­bor­ge­nem Denk­ho­ri­zont und dop­pel­ten Voka­bu­lar – und han­deln­den Men­schen erzo­gen. Für die­se Men­schen kam »die Wen­de«, die sie selbst ein­ge­lei­tet hat­ten, als Ver­spre­chen und als Angst. Neue Wel­ten öff­ne­ten sich, aber schein­bar fest­ste­hen­de Lebens­läu­fe ver­flüs­sig­ten sich im glei­chen Augenblick.

Für fast alle DDR-Bür­ger war sie ein gra­vie­ren­der bio­gra­phi­scher Schnitt, für die meis­ten West­deut­schen änder­te sich lebens­welt­lich hin­ge­gen nichts. Das neue Deutsch­land war zuerst eine Tren­nungs- und Schrump­fungs­er­fah­rung. Man schied von Stel­len, Kol­le­gen, Kol­lek­ti­ven, Gewohn­hei­ten, Abläu­fen, Bezie­hun­gen, und auch die Arbeit ging als Legi­ti­ma­ti­ons­ba­sis verloren.

Nicht zu arbei­ten galt bis­her als aso­zi­al, plötz­lich war das arbeits­freie Ein­kom­men – Kapi­tal, Bör­se, Besitz, Stüt­ze –, das »Geld für sich arbei­ten las­sen«, zum Ide­al erko­ren und Arbeits­lo­sig­keit immer­hin eine Mög­lich­keit. Betrie­be, Genos­sen­schaf­ten, gigan­ti­sche Kom­bi­na­te schrumpf­ten in rasan­tem Tem­po oder ver­schwan­den kom­plett. Mit ihnen waren Mil­lio­nen Lebens­leis­tun­gen pul­ve­ri­siert worden.

Die Do-ity­ours­elf-Gesell­schaft wur­de vom Dienst­leis­tungs- und Fer­tig­teil­den­ken abge­löst, was vor allem für vie­le Män­ner bis in die Fami­li­en hin­ein einen enor­men Sta­tus­ver­lust bedeu­te­te. Die Ost­deut­schen, denen die pro­gres­si­ve Kon­stanz­er­fah­rung, das Gefühl, es wür­de auf ewig immer nur noch bes­ser wer­den kön­nen, fehlt, wur­den weni­ger von ihrem poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Sys­tem als von dem sich dar­aus erge­ben­den sozia­len Sys­tem geprägt.

Nur so kann man die Ost­al­gie und den Kult um DDR-Erzeug­nis­se ver­ste­hen: Den Pro­duk­ten wer­den ideel­le Wer­te über­ge­stülpt, sie erzeu­gen eine Atmo­sphä­re. Ost­deut­sche Iden­ti­tät darf nicht mit Sys­tem­iden­ti­fi­ka­ti­on ver­wech­selt wer­den; auch ihre inne­ren poli­ti­schen Geg­ner emp­fan­den sie.

Die Men­schen waren schnell bereit, »den Sozia­lis­mus und sei­ne Errun­gen­schaf­ten« hin­ter sich zu las­sen, aber sie wuß­ten, was sie an der inne­ren Wär­me hat­ten, die sich in die­sem Brut­kas­ten an intrin­si­schen Wider­sprü­chen ent­wi­ckelt hatte.

Die DDR-Iden­ti­tät war nur für einen klei­ne­ren Teil eine poli­ti­sche, für die Mehr­heit jedoch eine kul­tu­rel­le und die beinhal­te­te auch das natio­na­le Ele­ment. Ost­deut­sche wur­den sie erst durch die nun prä­sen­ten West­deut­schen – bis dato hat­ten sie sich als Bür­ger der DDR und als Deut­sche begrif­fen. Die ers­ten Kon­tak­te mit den neu­en alten Lands­leu­ten lie­fen nicht immer erfreulich.

Mit tief ver­in­ner­lich­ter Ver­trau­ens­se­lig­keit gin­gen sie in die deut­sche Ein­heit und wur­den plötz­lich mit gewinn­ori­en­tier­ten Men­schen kon­fron­tiert. Oft nah­men die­se Lei­tungs­po­si­tio­nen ein, ohne das Wesen der Men­schen begrif­fen zu haben, fäll­ten Ent­schei­dun­gen und schlu­gen Töne an, die man im Osten nicht verstand.

Gewin­ner der Geschich­te stan­den als leben­der Vor­wurf vor den Ver­lie­rern. Selbst­ver­ständ­lich litt das Selbst­wert­ge­fühl vie­ler Men­schen dar­un­ter, die nun ein ein­ge­schränk­tes Selbst­wirk­sam­keits­er­leb­nis zu ver­ar­bei­ten hat­ten. Als der ers­te Bana­nen- und Rei­se­hun­ger gestillt war, wur­den die sys­te­mi­schen Miß­tö­ne hörbar.

So wur­den etwa 40 Jah­re lang Mei­nungs­viel­falt, Pres­se­frei­heit, Rede­frei­heit als For­de­rung von West gen Ost geschleu­dert – sich selbst dabei als Vor­bild ent­wer­fend –, aber die Erfah­rung war dann eine ande­re. Sie erleb­ten zuneh­mend neue Rede­hin­der­nis­se in Form von Distan­zie­rungs- und ande­ren Bekennt­nis­zwän­gen, einer weni­ger mei­nungs­plu­ra­len Pres­se als ver­mu­tet, spä­ter in Form von Dif­fa­mie­run­gen, Beleh­run­gen und zuletzt als nahe­zu ersti­cken­de Poli­ti­sche Kor­rekt­heit und einer Erin­ne­rungs­kul­tur, die die anti­fa­schis­ti­sche DDR noch überbot.

Das gro­ße Frei­heits­ver­spre­chen wur­de für vie­le ent­täuscht. Die Erin­ne­rungs­kul­tur wech­sel­te dabei die Sei­ten. Der Kom­mu­nist konn­te sich all die Jah­re als Opfer des Natio­nal­so­zia­lis­mus begrei­fen, der ost­deut­sche Anti­fa­schis­mus hat­te ent­las­tet, und nun wur­de man als Gesamt­deut­scher wie­der zum Täter­volk gezählt.

Über­haupt waren die jün­ge­ren Gene­ra­tio­nen im Osten von der Geschich­te weit­ge­hend abge­schnit­ten wor­den. Die DDR-Geschichts­schrei­bung hat­te die gesam­te Real­ge­schich­te nach einem »gemein­sa­men Erbe« durch­fors­tet und sich alles Brauch­ba­re als »huma­nis­ti­sches Erbe« einverleibt.

Das »Reak­tio­nä­re« wur­de aus­ge­siebt. Zurück blieb ein mage­res his­to­ri­sches Gerüst – aber auch auf die­sem kam man nur schwer über die zwölf Jah­re hin­weg. Alles davor hat­te den Test der »Zer­stö­rung der Ver­nunft« abzu­leis­ten. Die Fül­le der Geschich­te, ihre eigent­li­che Dia­lek­tik war der Geschichts­klit­te­rung geop­fert worden.

Doch neue Geschichts­bü­cher aus dem Wes­ten ent­täusch­ten, denn auch sie blie­ben – wenn auch anders – am Schar­nier 33 ste­hen und ver­stell­ten den frei­en Blick auf his­to­ri­sche Leis­tun­gen. Die Ost­deut­schen waren einer hoh­len, wenn auch idea­lis­ti­schen Geis­tes­welt ent­kom­men. Statt die­sen Frei­raum zu fül­len, beka­men sie – und erstreb­ten es auch – mate­ri­el­le Sät­ti­gung, die sich geis­tig eben­falls als hohl erwies.

Immer­hin hat­ten die Ost­deut­schen durch ihre Erfah­rung sich ein fei­nes Gehör für Miß­tö­ne erhal­ten, die sie auch aus jeder Grund­me­lo­die her­aus­hö­ren, und sie hat­ten über­rascht erfah­ren, daß man ein poli­ti­sches Sys­tem durch Pro­tes­te ändern und ver­än­dern kann. Unter ihnen bil­den die Sach­sen eine beson­de­re Kategorie.

Auf eine eigent­li­che Stam­mes­ge­schich­te – wie die Bai­ern, Schwa­ben oder Frie­sen – kön­nen sie nicht ver­wei­sen; den­noch las­sen sich ver­schie­de­ne Besied­lungs­spu­ren noch heu­te bele­gen. Wäh­rend der süd­west­li­che Teil ab dem 10. Jahr­hun­dert von Fran­ken besie­delt wur­de, spielt im öst­li­chen bis heu­te das wen­di­sche Ele­ment eine Rol­le. Schon dort beginnt die Viel­falt. Die Sach­sen sind bis heu­te durch­aus kein homo­ge­nes Volk.

Vogt­län­der und Erz­ge­bir­ger spre­chen einen ans Ost­frän­ki­sche ange­lehn­ten Dia­lekt, wäh­rend in Nord- und West­sach­sen ost­mit­tel­deut­sche Zun­ge gespro­chen wird. Vie­le im heu­ti­gen Sach­sen Leben­de defi­nie­ren sich eher regio­nal, und erst in zwei­ter Linie säch­sisch. Die Regio­nen iden­ti­fi­zie­ren sich his­to­risch auch recht unter­schied­lich: das Vogt­land ist ter­ri­to­ri­al­po­li­tisch defi­niert, das Erz­ge­bir­ge geo­gra­phisch-öko­no­misch, die Lau­sitz ethnisch.

Allen gemein­sam sind leid­vol­le Erfah­run­gen. Der Schmal­kal­di­sche, der Drei­ßig­jäh­ri­ge, der Sie­ben­jäh­ri­ge, die Napo­leo­ni­schen Krie­ge haben Spu­ren in Legen­den, Namens­ge­bun­gen und im his­to­ri­schen Bewußt­sein hin­ter­las­sen, das säch­si­sche König­tum schuf hin­ge­gen schon in Zei­ten hoff­nungs­lo­ser Klein­staa­te­rei ein bemer­kens­wert sta­bi­les und einen­des Staatsgebilde.

Mit der Indus­tria­li­sie­rung Mit­te des 19. Jahr­hun­dert ent­wi­ckel­te sich eine star­ke Sozi­al­de­mo­kra­tie, die fes­te Struk­tu­ren auf­bau­en konn­te. Wei­te Tei­le der Indus­trie waren jedoch nicht von urba­nen Struk­tu­ren abhän­gig, son­dern sie­del­ten sich in klein­städ­ti­schen und dörf­li­chen Gegen­den an.

Länd­li­che Struk­tu­ren mit ihren par­ti­ku­la­ren Inter­es­sen gin­gen mit Indus­trie und einer zer­split­ter­ten Arbei­ter­klas­se zusam­men, kon­ser­va­ti­ve und pro­gres­si­ve Ele­men­te ver­schmol­zen, das Pro­le­ta­ri­at war nicht per se links, es fand nicht zum Inter­na­tio­na­lis­mus, es blieb tra­di­tio­nal und regio­nal geprägt.

Die­ser Zug wur­de für die kom­men­den 150 Jah­re prä­gend. Man kann das ver­all­ge­mei­nern: Es gibt in Sach­sen ein deut­li­ches kon­ser­va­ti­ves Kon­ti­nu­um. Weih­nach­ten etwa wird hier tief emp­fun­den, die Hand­ar­beit – Klöp­peln, Schnit­zen – eben­so eif­rig gepflegt wie die Küche oder die Lieder.

Der Sach­sen Reli­gi­on ist die Regi­on. Und die wird in ihrer Eigen­art eben­so ver­tei­digt, wie das Ide­al des eige­nen Lan­des. Auch zur Zeit des Natio­nal­so­zia­lis­mus spiel­te Sach­sen eine Son­der­rol­le. Schon Mit­te der 20er Jah­re konn­te die NSDAP gro­ßen Zulauf verzeichnen.

Vor allem West­sach­sen wur­de ihre Hoch­burg. In den Wah­len von 1932 bekam Hit­ler hier nahe­zu 60 Pro­zent der Stim­men. Man kann die Affi­ni­tät der Sach­sen, deren Fabri­ken stark vom Export abhin­gen, mit der Welt­wirt­schafts­kri­se erklä­ren, aber auch mit ihrer »Auf­müp­fig­keit«, ihrem Eifer, ihrem Tem­pe­ra­ment und man wird nicht umhin kön­nen, zu ver­mu­ten, daß sie an eine »inne­re Wahr­heit und Grö­ße der Bewe­gung« – in der sie die Bewah­rung ihrer Eigen­heit such­ten – glaubten.

Von Plau­en, der eins­ti­gen Nazi-Hoch­burg, soll­te spä­ter die »fried­li­che Revo­lu­ti­on« aus­ge­hen, in Leip­zig wur­de sie voll­endet. In all die­sen Ereig­nis­sen brach sich die säch­si­sche Lei­den­schaft Bahn. Ihr sichers­ter Indi­ka­tor ist die viel ver­lach­te Sprache.

Die Sach­sen erfah­ren am häu­figs­ten ras­sis­ti­sche Belei­di­gun­gen: kein Deut­scher wird so oft nach sei­nem Her­kom­men gefragt. Der Dia­lekt – der ein­zi­ge ost­deut­sche, der kei­ne Über­lap­pung über die inner­deut­sche Gren­ze kennt –, des­sen Spu­ren nie ganz zu til­gen sind, der die Distanz zwi­schen Reden­dem und Rede­ge­gen­stand auf­hebt, gilt als dumm, man macht sich dar­über lus­tig – das kränkt.

Dabei zeigt sich gera­de hier ein wei­te­rer typi­scher Zug: der Witz, der oft mit dem jüdi­schen ver­gli­chen wird, weil er sich selbst und das Idi­om zum Gegen­stand nimmt. Die Spra­che ist derb und direkt. Man sagt, was man denkt, poli­ti­sche Pro­pa­gan­da und Kor­rekt­heit wider­spre­chen dem Wesen der Sach­sen, das sich in ihrer Spra­che ausdrückt.

Wer die Mon­tags­de­mons­tra­ti­on in Leip­zig 89 bejaht, kann die Dresd­ner Mon­tags­spa­zier­gän­ge nicht ver­teu­feln, ohne das Ursäch­si­sche dar­an zu ver­ge­wal­ti­gen. Zur säch­si­schen Gesel­lig­keit gehört als Gegen­stück das Ver­bies­ter­te, zur Offen­heit das Wehr­haf­te, zur Eigen­heit die Anpassungsverweigerung.

Wer das eine bewun­dert, das ande­re nur ver­ach­tet, ver­steht das Kom­ple­xe nicht. Sach­sen hat­te nach der Wen­de und seit­her tat­säch­lich ein Pro­blem mit Rechts­ra­di­ka­lis­mus, vor allem dort, wo Wie­der­ver­ei­ni­gung und EU Pro­blem­fel­der hin­ter­las­sen hat­ten. Das stark aus­ge­präg­te Hei­mat­ge­fühl, der alles bestim­men­de Regio­na­lis­mus muß­te sich vom Kos­mo­po­li­tis­mus bedroht fühlen.

Offen­heit über­setz­te sich in Abwan­de­rung jun­ger Men­schen, in über­mäch­ti­ge Kon­kur­renz zu orts­ty­pi­scher, oft hand­werk­li­cher Pro­duk­ti­on und Dis­tri­bu­ti­on, in Ver­lust des Sicher­heits­ge­fühls vor allem an den Ost­gren­zen, in Nivel­lie­rung des Spezifischen.

Ein­heit bedeu­te­te für fast alle Städ­te Ein­heit­lich­keit, bald konn­te man sie von west­deut­schen Innen­städ­ten kaum noch unter­schei­den. Das Land ist vom Pro­tes­tan­tis­mus durch­säu­ert, bis heu­te, wo ihm nur noch 18 Pro­zent anhan­gen. Luthers Werk­ge­rech­tig­keit setz­te sich durch, sei­ne Bibel­über­set­zung schrieb er in Kanzleisächsisch.

Les­sing und Gott­sched – der eine Geburts- der ande­re Wahl­sach­se – revo­lu­tio­nier­ten das Thea­ter zum Ort der »sitt­li­chen Läu­te­rung«. Die pro­tes­tan­ti­sche Ethik ent­fal­te­te sich hier in bei­der­lei Gestalt. Sie führ­te zu einem gewis­sen fru­ga­len Mora­lis­mus, der nicht davor zurück­schreckt, in Selbst­er­mäch­ti­gung ande­ren Vor­schrif­ten zu machen. Aber er schlägt sich auch im sprich­wört­li­chen säch­si­schen Fleiß nieder.

Die Sach­sen sind Macher, Anpa­cker, sie spu­cken in die Hän­de, sie war­ten nicht auf herr­schaft­li­che Direk­ti­ven, wenn sie Miß­stän­de aus­ma­chen. Sie sind auch spar­sam und machen Unter­stüt­zung von Vor­leis­tun­gen abhän­gig. Im Grun­de genom­men ver­kör­pern sie das Ide­al der west­li­chen Demo­kra­tie: sie sind freie, mün­di­ge, selbst­stän­di­ge und kri­ti­sche Men­schen, die teil­neh­men wol­len und die­se Teil­nah­me auch erzwin­gen, wenn sie ihnen ver­wei­gert wird.

Schon zu DDR-Zei­ten gal­ten die Bezir­ke Dres­den, Leip­zig und Karl-Marx-Stadt als reni­tent und als schwe­res Pflas­ter für Par­tei­ka­der. Schon damals galt Ber­lin als frem­de Welt. Sie waren und sind Seis­mo­gra­phen poli­ti­scher und sozia­ler Miß­stän­de.  Heu­te die­nen die Sach­sen immer öfter als Sün­den­bock, dabei sind oft­mals nicht die Sach­sen ande­ren gegen­über into­le­rant, son­dern das Ande­re der Sach­sen führt zur Into­le­ranz ihnen gegenüber.

Immer wie­der hört man etwa Ver­wun­de­rung, daß gera­de dort, wo es kaum Aus­län­der gebe, die Ableh­nung am größ­ten sei. Man begreift das Para­dox der klei­nen Dif­fe­renz nicht; die­se ist dort groß, wo sie zum ers­ten Mal auf­tritt, wo sie noch klein ist, ver­schwin­det jedoch dort, wo Dif­fe­ren­zen sich auflösen.

Statt Ermu­ti­gung, Dank und Aner­ken­nung ern­ten sie Befrem­dung und Abnei­gung, die zudem medi­al ver­stärkt wird. Wenn unlie­be Sach­sen »Pack«, »Mob«, »Nazis in Nadel­strei­fen«, als Men­schen »mit Haß im Her­zen«, wenn das Land »Dun­kel­deutsch­land« genannt wird, dann trifft das auch vie­le Sach­sen, die ande­re poli­ti­sche Mei­nun­gen vertreten.

Sie spü­ren eine viel­fäl­ti­ge gesamt­deut­sche Ver­ach­tung, im Klei­nen wie im Gro­ßen, sie emp­fin­den dies als eige­ne Apart­heit. Vie­le der­je­ni­gen, die das Land auf Arbeits­su­che ver­lie­ßen, muß­ten die Erfah­rung machen, daß ihnen die Schlüs­sel feh­len, die Sprach- und Ver­hal­tens­codes der West­deut­schen zu kna­cken, und fast alle regis­trie­ren sen­si­bel, wenn Spra­che, Men­ta­li­tät und Anlie­gen in Pres­se und Kunst ridi­küli­siert werden.

Intern jedoch wärmt die Mund­art und läßt die Sach­sen zuein­an­der fin­den. Die­se Abnei­gung wird umso schmerz­haf­ter erspürt, da man eigent­lich gast­freund­lich und welt­of­fen ist. Selbst weni­ger attrak­ti­ve Regio­nen haben den Tou­ris­mus zur Chef­sa­che gemacht.

Man will den Gast, will den Frem­den, will ihn von der Schön­heit der Gegend, den Vor­zü­gen der Art, der Kul­tur, der Küche über­zeu­gen, damit er – wie­der zu Hau­se – vom schö­nen Sach­sen schwär­men kann. Sie sel­ber sind wohl eher boden­stän­dig, zumin­dest die älte­ren Jahrgänge.

Sie akzep­tie­ren inne­re Evo­lu­tio­nen, die natur­ge­mäß lang­sam und orga­nisch ver­lau­fen, aber sie reagie­ren sehr sen­si­bel auf zu schnel­le und von außen her­an­ge­tra­ge­ne Ent­wick­lun­gen. Die heu­te am meis­ten Wider­stän­di­gen sind mut­maß­lich jene DDRSo­zia­li­sier­ten mit typisch säch­si­schem Wesens­kern. Ob die­se Eigen­ar­ten über die Gene­ra­tio­nen hin­weg erhal­ten blei­ben, wird man erst his­to­risch erklä­ren können.

Eine Pro­gno­se wag­te in der Zeit der Poli­to­lo­ge Alex­an­der Clark­son (»Das Pro­blem der Ost­deut­schen waren ihre Illu­sio­nen«, 2. Mai 2019, zeit.de):

Wir erle­ben gera­de, dass vor allem jun­ge Men­schen in Ost­deutsch­land ihre ost­deut­sche Iden­ti­tät ent­de­cken und hoch­hal­ten. Sie sind im wie­der­ver­ein­ten Deutsch­land gebo­ren und haben die DDR gar nicht mehr erlebt. Den­noch füh­len sie sich als Ost­deut­sche. Die ost­deut­sche Iden­ti­tät ist nicht ver­schwun­den. Sie wur­de über Gene­ra­tio­nen ver­erbt und ist oft noch stär­ker gewor­den. Für die west­deut­schen Eli­ten in Stutt­gart, Han­no­ver oder Ham­burg, die immer gehofft haben, Ost­deutsch­land wer­de sich schon anpas­sen, ist das ein Schock. Die­se Leu­te müs­sen jetzt ler­nen, damit umzugehen.

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