Das ist eine Frage jener Art, von der Hermann Lübbe nachwies, daß »sie sich nur historisch erklären« lasse. Weil sich in ihr ein Relikt verbirgt, ein scheinbar funktionsloses Überbleibsel, ein Rest aus einer vergangenen Zeit, den das Wort »Widerstand« recht gut trifft. Denn ernsthafter politischer Widerstand ist eine Seltenheit und eine Sünde in Deutschland geworden.
Die Liste ist lang, es genügt, ein paar Namen der jüngeren Geschichte zu nennen, um die korrekten Assoziationen hervorzurufen: Plauen und Leipzig, später Clausnitz, Dresden, Einsiedel, Chemnitz. Das Erstarken der AfD, PEGIDA und auch die NPD im Landtag … all das sind Anzeichen, daß die Uhren in Sachsen etwas anders ticken.
Dennoch ist Sachsen zuerst ein ostdeutsches Phänomen: die Differenz zwischen Ost und West ist größer als die zwischen Sachsen und seinen ostdeutschen Schicksalsgenossen. Politik und Presse stehen ihm noch immer ratlos gegenüber. Ihre Erklärungsversuche sind repetitiv und voraussehbar.
Man bringt – alles O‑Ton – das »autoritäre Staatsverständnis aus der DDR«, die »mangelnde Aufarbeitung des Nationalsozialismus«, eine »fehlende interkulturelle Kompetenz«, »Defizite im Erlernen eines richtigen Demokratieverständnisses« oder die »Enttäuschung nach der Wende«, den sozialen Abstieg, das »Fehlen positiver Erfahrungen mit Zuwanderern« – mögliche negative Erfahrungen werden bereitwillig ausgeblendet –, »rassistische Ressentiments«, eine »substantielle Demokratiefeindlichkeit«, gar einen »Haß auf das Establishment« und dergleichen immer wieder ins Spiel, und linke Parteien schlagen auch gern politisches Kapital daraus, indem man die CDU als Regierungspartei, den Abbau von Polizei und Justiz, »ungenügende Integration der Asylsuchenden« oder gar »mangelnde politische Bildung« verantwortlich macht.
Nirgendwo wird die Legitimität des Protestes mitgedacht. Und auch wenn all diese Argumente einen Wahrheitskern enthalten, so zeugen sie doch von einer ideologieinduzierten selbstauferlegten Unmündigkeit und Denkfaulheit. Der vielleicht markanteste Zug des Lebens in der DDR – mit mentalen Folgen – war seine Nivellierungstendenz.
Die soziale Ungleichheit war auf ein heute kaum noch vorstellbares Maß geschrumpft. Das Lohnniveau war niedrig, aber gut und schlecht Verdienende blieben in Sichtweite. Lohnbescheinigungen waren keine Geheimnisse.
Auch teilte man sich aus einem beschränkten Fundus die gleichen Konsumgüter. Die meisten Werktätigen rechneten sich selbst – relativ unabhängig von ihrer Funktion – der Arbeiterklasse zu, »zuletzt war alles Arbeit – Wissenschaft, Philosophie, Literatur, Kunst« (Wolfgang Engler).
Das »Du« der Genossen war verbreitet, Arbeiter, Bauern, Handwerker duzten sich ohnehin. Ob Parteisekretär, Betriebsleiter, ob Polizist oder Hilfsarbeiter, man wohnte oft im selben Block. Die Inneneinrichtungen glichen sich, Individualität wurde bescheiden ausgedrückt. Über zwei Millionen Menschen waren Mitglied der SED, mehr als 95 Prozent des FDGB und drei von vieren in der DSF. Niemand litt existentielle Not, kaum jemand schwelgte im Reichtum.
Diejenigen, die deutlich über dem Durchschnitt verdienten, taten gut daran, ihr Vermögen im Stillen zu genießen. Es herrschte auch in der DDR eine Art Verhaltenskodex, dessen erstes Gesetz lautete: »Du sollst nicht glauben, daß du etwas Besonderes bist.« Die Gleichheit schärfte das Sensorium für Unterschiede. Mit Neid mußten die Privilegierten, mit Mißgunst die Unabhängigen rechnen.
Unverschuldete Differenz nach unten wurde oft helfend ausgeglichen. Kontrolle funktionierte in beide Richtungen: Nicht nur wurden die Menschen vom Staatsapparat kontrolliert, sondern diese kontrollierten auch jene, die sich öffentliche Exzesse nicht leisten durften. Grundlegende Lebensbedingungen waren garantiert und meist staatlich subventioniert: Mieten und Grundnahrungsmittel waren günstig, Arbeitsplätze sicher, die ärztliche Versorgung über eine zentrale Krankenkasse abgesichert, öffentliche Verkehrsmittel lächerlich billig. Es bedurfte einiger Anstrengung, in der DDR sozial zu scheitern.
Das normale Leben verlief risikoarm und gleichförmig. Die Konsequenz war der weitflächige Rückzug ins Private. Das erzwang zudem die Mangelwirtschaft. Da häusliche Arbeit kaum an Dienstleistungen delegiert werden konnte, man immer auf der Suche nach Ersatzteilen war, mußte die Arbeit selbst geleistet oder mit Beziehungen organisiert werden.
Mangel führt zu Kooperation, Kooperation führt zu einem Zusammengehörigkeitsgefühl, zur Erfahrung von Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Vor allem die Männer zogen ihre Daseinsberechtigung aus Auto, Haus und Garten. An den Wochenenden standen sie auf der Straße und pflegten den Trabi, arbeiteten im Schrebergarten – eine sächsische Innovation – oder bauten mit der Schubkarre ihr Einfamilienhaus. Sie waren Allrounder.
Das Erleben von Mangel führt aber auch zu Sorge und vorausschauendem Denken, Überfluß hingegen animiert die Sorglosigkeit. Das äußert sich in einer stärker ausgebildeten Tendenz, aktuelle Vorgänge in die Zukunft zu projizieren und deren meist negative Folgen zu antizipieren. Die weitgehende Freiheit von ökonomischen Zwängen ließ die Öffnung auf den Mitmenschen zu.
Ehen wurden aus Liebe geschlossen und scheiterten daher oft. Man schaute auf »den Charakter«, nicht auf den Geldbeutel oder Karrieren. Soziale Beziehungen wurden weit weniger funktionalisiert und auf Nutzfaktoren ausgerichtet. Man begegnete sich auf Augenhöhe, von Mensch zu Mensch, nicht als Repräsentant eines Besitzes oder einer Funktion und ohne Konkurrenzängste.
Die Beziehungen im Privaten waren echt, während in der Öffentlichkeit der Schein regierte. Eine schizophrene Situation: Authentizität im Eigenen, Fassade im Öffentlichen. Der gesamte öffentliche Diskurs wurde in Sprechblasen absolviert. Auf der Rückseite des Mißtrauens durch die staatliche Überwachung und Kontrolle hatte sich eine Vertrauensgesellschaft im Kleinen entwickelt, zumindest für all jene, die sich politisch nicht exponiert hatten.
Die DDR hatte die Menschen entgegen ihrer Indoktrinationsabsicht zu eigenständig denkenden – freilich mit verborgenem Denkhorizont und doppelten Vokabular – und handelnden Menschen erzogen. Für diese Menschen kam »die Wende«, die sie selbst eingeleitet hatten, als Versprechen und als Angst. Neue Welten öffneten sich, aber scheinbar feststehende Lebensläufe verflüssigten sich im gleichen Augenblick.
Für fast alle DDR-Bürger war sie ein gravierender biographischer Schnitt, für die meisten Westdeutschen änderte sich lebensweltlich hingegen nichts. Das neue Deutschland war zuerst eine Trennungs- und Schrumpfungserfahrung. Man schied von Stellen, Kollegen, Kollektiven, Gewohnheiten, Abläufen, Beziehungen, und auch die Arbeit ging als Legitimationsbasis verloren.
Nicht zu arbeiten galt bisher als asozial, plötzlich war das arbeitsfreie Einkommen – Kapital, Börse, Besitz, Stütze –, das »Geld für sich arbeiten lassen«, zum Ideal erkoren und Arbeitslosigkeit immerhin eine Möglichkeit. Betriebe, Genossenschaften, gigantische Kombinate schrumpften in rasantem Tempo oder verschwanden komplett. Mit ihnen waren Millionen Lebensleistungen pulverisiert worden.
Die Do-ityourself-Gesellschaft wurde vom Dienstleistungs- und Fertigteildenken abgelöst, was vor allem für viele Männer bis in die Familien hinein einen enormen Statusverlust bedeutete. Die Ostdeutschen, denen die progressive Konstanzerfahrung, das Gefühl, es würde auf ewig immer nur noch besser werden können, fehlt, wurden weniger von ihrem politischen und wirtschaftlichen System als von dem sich daraus ergebenden sozialen System geprägt.
Nur so kann man die Ostalgie und den Kult um DDR-Erzeugnisse verstehen: Den Produkten werden ideelle Werte übergestülpt, sie erzeugen eine Atmosphäre. Ostdeutsche Identität darf nicht mit Systemidentifikation verwechselt werden; auch ihre inneren politischen Gegner empfanden sie.
Die Menschen waren schnell bereit, »den Sozialismus und seine Errungenschaften« hinter sich zu lassen, aber sie wußten, was sie an der inneren Wärme hatten, die sich in diesem Brutkasten an intrinsischen Widersprüchen entwickelt hatte.
Die DDR-Identität war nur für einen kleineren Teil eine politische, für die Mehrheit jedoch eine kulturelle und die beinhaltete auch das nationale Element. Ostdeutsche wurden sie erst durch die nun präsenten Westdeutschen – bis dato hatten sie sich als Bürger der DDR und als Deutsche begriffen. Die ersten Kontakte mit den neuen alten Landsleuten liefen nicht immer erfreulich.
Mit tief verinnerlichter Vertrauensseligkeit gingen sie in die deutsche Einheit und wurden plötzlich mit gewinnorientierten Menschen konfrontiert. Oft nahmen diese Leitungspositionen ein, ohne das Wesen der Menschen begriffen zu haben, fällten Entscheidungen und schlugen Töne an, die man im Osten nicht verstand.
Gewinner der Geschichte standen als lebender Vorwurf vor den Verlierern. Selbstverständlich litt das Selbstwertgefühl vieler Menschen darunter, die nun ein eingeschränktes Selbstwirksamkeitserlebnis zu verarbeiten hatten. Als der erste Bananen- und Reisehunger gestillt war, wurden die systemischen Mißtöne hörbar.
So wurden etwa 40 Jahre lang Meinungsvielfalt, Pressefreiheit, Redefreiheit als Forderung von West gen Ost geschleudert – sich selbst dabei als Vorbild entwerfend –, aber die Erfahrung war dann eine andere. Sie erlebten zunehmend neue Redehindernisse in Form von Distanzierungs- und anderen Bekenntniszwängen, einer weniger meinungspluralen Presse als vermutet, später in Form von Diffamierungen, Belehrungen und zuletzt als nahezu erstickende Politische Korrektheit und einer Erinnerungskultur, die die antifaschistische DDR noch überbot.
Das große Freiheitsversprechen wurde für viele enttäuscht. Die Erinnerungskultur wechselte dabei die Seiten. Der Kommunist konnte sich all die Jahre als Opfer des Nationalsozialismus begreifen, der ostdeutsche Antifaschismus hatte entlastet, und nun wurde man als Gesamtdeutscher wieder zum Tätervolk gezählt.
Überhaupt waren die jüngeren Generationen im Osten von der Geschichte weitgehend abgeschnitten worden. Die DDR-Geschichtsschreibung hatte die gesamte Realgeschichte nach einem »gemeinsamen Erbe« durchforstet und sich alles Brauchbare als »humanistisches Erbe« einverleibt.
Das »Reaktionäre« wurde ausgesiebt. Zurück blieb ein mageres historisches Gerüst – aber auch auf diesem kam man nur schwer über die zwölf Jahre hinweg. Alles davor hatte den Test der »Zerstörung der Vernunft« abzuleisten. Die Fülle der Geschichte, ihre eigentliche Dialektik war der Geschichtsklitterung geopfert worden.
Doch neue Geschichtsbücher aus dem Westen enttäuschten, denn auch sie blieben – wenn auch anders – am Scharnier 33 stehen und verstellten den freien Blick auf historische Leistungen. Die Ostdeutschen waren einer hohlen, wenn auch idealistischen Geisteswelt entkommen. Statt diesen Freiraum zu füllen, bekamen sie – und erstrebten es auch – materielle Sättigung, die sich geistig ebenfalls als hohl erwies.
Immerhin hatten die Ostdeutschen durch ihre Erfahrung sich ein feines Gehör für Mißtöne erhalten, die sie auch aus jeder Grundmelodie heraushören, und sie hatten überrascht erfahren, daß man ein politisches System durch Proteste ändern und verändern kann. Unter ihnen bilden die Sachsen eine besondere Kategorie.
Auf eine eigentliche Stammesgeschichte – wie die Baiern, Schwaben oder Friesen – können sie nicht verweisen; dennoch lassen sich verschiedene Besiedlungsspuren noch heute belegen. Während der südwestliche Teil ab dem 10. Jahrhundert von Franken besiedelt wurde, spielt im östlichen bis heute das wendische Element eine Rolle. Schon dort beginnt die Vielfalt. Die Sachsen sind bis heute durchaus kein homogenes Volk.
Vogtländer und Erzgebirger sprechen einen ans Ostfränkische angelehnten Dialekt, während in Nord- und Westsachsen ostmitteldeutsche Zunge gesprochen wird. Viele im heutigen Sachsen Lebende definieren sich eher regional, und erst in zweiter Linie sächsisch. Die Regionen identifizieren sich historisch auch recht unterschiedlich: das Vogtland ist territorialpolitisch definiert, das Erzgebirge geographisch-ökonomisch, die Lausitz ethnisch.
Allen gemeinsam sind leidvolle Erfahrungen. Der Schmalkaldische, der Dreißigjährige, der Siebenjährige, die Napoleonischen Kriege haben Spuren in Legenden, Namensgebungen und im historischen Bewußtsein hinterlassen, das sächsische Königtum schuf hingegen schon in Zeiten hoffnungsloser Kleinstaaterei ein bemerkenswert stabiles und einendes Staatsgebilde.
Mit der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhundert entwickelte sich eine starke Sozialdemokratie, die feste Strukturen aufbauen konnte. Weite Teile der Industrie waren jedoch nicht von urbanen Strukturen abhängig, sondern siedelten sich in kleinstädtischen und dörflichen Gegenden an.
Ländliche Strukturen mit ihren partikularen Interessen gingen mit Industrie und einer zersplitterten Arbeiterklasse zusammen, konservative und progressive Elemente verschmolzen, das Proletariat war nicht per se links, es fand nicht zum Internationalismus, es blieb traditional und regional geprägt.
Dieser Zug wurde für die kommenden 150 Jahre prägend. Man kann das verallgemeinern: Es gibt in Sachsen ein deutliches konservatives Kontinuum. Weihnachten etwa wird hier tief empfunden, die Handarbeit – Klöppeln, Schnitzen – ebenso eifrig gepflegt wie die Küche oder die Lieder.
Der Sachsen Religion ist die Region. Und die wird in ihrer Eigenart ebenso verteidigt, wie das Ideal des eigenen Landes. Auch zur Zeit des Nationalsozialismus spielte Sachsen eine Sonderrolle. Schon Mitte der 20er Jahre konnte die NSDAP großen Zulauf verzeichnen.
Vor allem Westsachsen wurde ihre Hochburg. In den Wahlen von 1932 bekam Hitler hier nahezu 60 Prozent der Stimmen. Man kann die Affinität der Sachsen, deren Fabriken stark vom Export abhingen, mit der Weltwirtschaftskrise erklären, aber auch mit ihrer »Aufmüpfigkeit«, ihrem Eifer, ihrem Temperament und man wird nicht umhin können, zu vermuten, daß sie an eine »innere Wahrheit und Größe der Bewegung« – in der sie die Bewahrung ihrer Eigenheit suchten – glaubten.
Von Plauen, der einstigen Nazi-Hochburg, sollte später die »friedliche Revolution« ausgehen, in Leipzig wurde sie vollendet. In all diesen Ereignissen brach sich die sächsische Leidenschaft Bahn. Ihr sicherster Indikator ist die viel verlachte Sprache.
Die Sachsen erfahren am häufigsten rassistische Beleidigungen: kein Deutscher wird so oft nach seinem Herkommen gefragt. Der Dialekt – der einzige ostdeutsche, der keine Überlappung über die innerdeutsche Grenze kennt –, dessen Spuren nie ganz zu tilgen sind, der die Distanz zwischen Redendem und Redegegenstand aufhebt, gilt als dumm, man macht sich darüber lustig – das kränkt.
Dabei zeigt sich gerade hier ein weiterer typischer Zug: der Witz, der oft mit dem jüdischen verglichen wird, weil er sich selbst und das Idiom zum Gegenstand nimmt. Die Sprache ist derb und direkt. Man sagt, was man denkt, politische Propaganda und Korrektheit widersprechen dem Wesen der Sachsen, das sich in ihrer Sprache ausdrückt.
Wer die Montagsdemonstration in Leipzig 89 bejaht, kann die Dresdner Montagsspaziergänge nicht verteufeln, ohne das Ursächsische daran zu vergewaltigen. Zur sächsischen Geselligkeit gehört als Gegenstück das Verbiesterte, zur Offenheit das Wehrhafte, zur Eigenheit die Anpassungsverweigerung.
Wer das eine bewundert, das andere nur verachtet, versteht das Komplexe nicht. Sachsen hatte nach der Wende und seither tatsächlich ein Problem mit Rechtsradikalismus, vor allem dort, wo Wiedervereinigung und EU Problemfelder hinterlassen hatten. Das stark ausgeprägte Heimatgefühl, der alles bestimmende Regionalismus mußte sich vom Kosmopolitismus bedroht fühlen.
Offenheit übersetzte sich in Abwanderung junger Menschen, in übermächtige Konkurrenz zu ortstypischer, oft handwerklicher Produktion und Distribution, in Verlust des Sicherheitsgefühls vor allem an den Ostgrenzen, in Nivellierung des Spezifischen.
Einheit bedeutete für fast alle Städte Einheitlichkeit, bald konnte man sie von westdeutschen Innenstädten kaum noch unterscheiden. Das Land ist vom Protestantismus durchsäuert, bis heute, wo ihm nur noch 18 Prozent anhangen. Luthers Werkgerechtigkeit setzte sich durch, seine Bibelübersetzung schrieb er in Kanzleisächsisch.
Lessing und Gottsched – der eine Geburts- der andere Wahlsachse – revolutionierten das Theater zum Ort der »sittlichen Läuterung«. Die protestantische Ethik entfaltete sich hier in beiderlei Gestalt. Sie führte zu einem gewissen frugalen Moralismus, der nicht davor zurückschreckt, in Selbstermächtigung anderen Vorschriften zu machen. Aber er schlägt sich auch im sprichwörtlichen sächsischen Fleiß nieder.
Die Sachsen sind Macher, Anpacker, sie spucken in die Hände, sie warten nicht auf herrschaftliche Direktiven, wenn sie Mißstände ausmachen. Sie sind auch sparsam und machen Unterstützung von Vorleistungen abhängig. Im Grunde genommen verkörpern sie das Ideal der westlichen Demokratie: sie sind freie, mündige, selbstständige und kritische Menschen, die teilnehmen wollen und diese Teilnahme auch erzwingen, wenn sie ihnen verweigert wird.
Schon zu DDR-Zeiten galten die Bezirke Dresden, Leipzig und Karl-Marx-Stadt als renitent und als schweres Pflaster für Parteikader. Schon damals galt Berlin als fremde Welt. Sie waren und sind Seismographen politischer und sozialer Mißstände. Heute dienen die Sachsen immer öfter als Sündenbock, dabei sind oftmals nicht die Sachsen anderen gegenüber intolerant, sondern das Andere der Sachsen führt zur Intoleranz ihnen gegenüber.
Immer wieder hört man etwa Verwunderung, daß gerade dort, wo es kaum Ausländer gebe, die Ablehnung am größten sei. Man begreift das Paradox der kleinen Differenz nicht; diese ist dort groß, wo sie zum ersten Mal auftritt, wo sie noch klein ist, verschwindet jedoch dort, wo Differenzen sich auflösen.
Statt Ermutigung, Dank und Anerkennung ernten sie Befremdung und Abneigung, die zudem medial verstärkt wird. Wenn unliebe Sachsen »Pack«, »Mob«, »Nazis in Nadelstreifen«, als Menschen »mit Haß im Herzen«, wenn das Land »Dunkeldeutschland« genannt wird, dann trifft das auch viele Sachsen, die andere politische Meinungen vertreten.
Sie spüren eine vielfältige gesamtdeutsche Verachtung, im Kleinen wie im Großen, sie empfinden dies als eigene Apartheit. Viele derjenigen, die das Land auf Arbeitssuche verließen, mußten die Erfahrung machen, daß ihnen die Schlüssel fehlen, die Sprach- und Verhaltenscodes der Westdeutschen zu knacken, und fast alle registrieren sensibel, wenn Sprache, Mentalität und Anliegen in Presse und Kunst ridikülisiert werden.
Intern jedoch wärmt die Mundart und läßt die Sachsen zueinander finden. Diese Abneigung wird umso schmerzhafter erspürt, da man eigentlich gastfreundlich und weltoffen ist. Selbst weniger attraktive Regionen haben den Tourismus zur Chefsache gemacht.
Man will den Gast, will den Fremden, will ihn von der Schönheit der Gegend, den Vorzügen der Art, der Kultur, der Küche überzeugen, damit er – wieder zu Hause – vom schönen Sachsen schwärmen kann. Sie selber sind wohl eher bodenständig, zumindest die älteren Jahrgänge.
Sie akzeptieren innere Evolutionen, die naturgemäß langsam und organisch verlaufen, aber sie reagieren sehr sensibel auf zu schnelle und von außen herangetragene Entwicklungen. Die heute am meisten Widerständigen sind mutmaßlich jene DDRSozialisierten mit typisch sächsischem Wesenskern. Ob diese Eigenarten über die Generationen hinweg erhalten bleiben, wird man erst historisch erklären können.
Eine Prognose wagte in der Zeit der Politologe Alexander Clarkson (»Das Problem der Ostdeutschen waren ihre Illusionen«, 2. Mai 2019, zeit.de):
Wir erleben gerade, dass vor allem junge Menschen in Ostdeutschland ihre ostdeutsche Identität entdecken und hochhalten. Sie sind im wiedervereinten Deutschland geboren und haben die DDR gar nicht mehr erlebt. Dennoch fühlen sie sich als Ostdeutsche. Die ostdeutsche Identität ist nicht verschwunden. Sie wurde über Generationen vererbt und ist oft noch stärker geworden. Für die westdeutschen Eliten in Stuttgart, Hannover oder Hamburg, die immer gehofft haben, Ostdeutschland werde sich schon anpassen, ist das ein Schock. Diese Leute müssen jetzt lernen, damit umzugehen.