»Wer sich schon immer gefragt hat, was eigentlich das Gegenteil von Funk ist oder auf einer Party damit angeben möchte, die uncoolste Musik des Planeten entdeckt zu haben: Bei Neofolk wird er fündig«, schrieb das in Berlin ansässige Musikmagazin Rolling Stone im August 2016 in einem Artikel über »die Begleitmusik der Identitären Bewegung«, die unter anderem von Martin Sellner als »rechte Alternative« zum popmusikalischen Mainstream gepriesen wurde.
»Fast allen Bands gemein sind ein verklärter Antimodernismus«, fuhren die Autoren fort, »und die unausgesprochene Frage, wie Folkmusik klänge, hätte es die US-amerikanische Popgeschichte nie gegeben.« Der erste Teil des Satzes ist durchaus zutreffend für die Bandbreite der internationalen Kapellen, die unter dem Sammelbegriff »Neofolk« firmieren, wobei etliche mit »Folk« im eigentlichen Sinne wenig bis gar nichts zu tun haben.
Der zweite Teil des Satzes paßt zumindest zu einer Variante des Genres, die ihre Blütezeit ungefähr zwischen 1997 und 2005 hatte und überwiegend in einem Teil Deutschlands entstanden ist, der von Berlin aus gesehen generell eher uncool, rückständig und verdächtig erscheint: nämlich Mittel- oder Ostdeutschland, mit den Schwerpunkten Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
Es war wohl kein Zufall, daß sich gerade in diesen »neuen Bundesländern« eine spezifisch deutsche Form des Neofolk herausbildete, die am Ende wenig mit den angelsächsischen Vorbildern zu tun hatte, die sich um das britische Label World Serpent gruppierten.
Die unheilige, exzentrische Dreifaltigkeit des klassischen Neofolk oder wahlweise »Apocalyptic Folk«, Death in June, Current 93 und Sol Invictus, war 1991 durch Deutschland getourt und hatte die hiesige Gothic-Szene mit ihrem düster-melancholischen Sound aus Akustikgitarren, martialischen Trommeln, Geigen und Flöten ebenso in den Bann geschlagen wie mit ihrem »umstrittenen« okkultistischen, satanistischen, neoheidnischen oder kryptofaschistischen Image, das den Fans endloses fasziniertes Rätselraten aufgab.
Andere, nicht minder kontroverse Bands aus diesem Umfeld waren NON, Blood Axis oder Coil. Einiges davon war schon vor der Wende als begehrtes subkulturelles Gut in den Osten gesickert, und wurde nun – zusammen mit all den anderen gängigen Darkwave‑, Punk- und Postpunkprodukten – von einer stetig wachsenden »Gruftie«-Szene begierig aufgesaugt.
1992 wurde das Wave-Gotik-Treffen in Leipzig ins Leben gerufen, das bis heute alljährlich zu Pfingsten stattfindet und bis zu 20 000 Gäste aus aller Welt anzieht. Eine starke Stellung innerhalb der Szene nahm Anfang bis Mitte der neunziger Jahre das Spartenprogramm der »Neuen Deutschen Todeskunst« ein, für das Gruppen wie Goethes Erben, Das Ich oder Relatives Menschsein standen.
Zentriert um das in Oberfranken ansässige Label Danse Macabre handelte es sich hier um eine rein westdeutsche Erscheinung. Einer der zahllosen Ostgrufties, die vom Neofolkfieber gepackt wurden, war der 1973 in Dresden geborene Stephan Pockrandt, der ab 1993 das einflußreiche Fanzine Sigill herausgab, das bald den Untertitel »Magazin für die konservative Kulturavantgarde Europas« verpaßt bekam.
Pockrandts Herangehensweise war die eines enthusiastischen Dilettanten, unbefangen, naiv und mit geringem Bewußtsein für die womöglich »politische« Dimension der behandelten Themen – eine Disposition, die wohl auch der von West-Komplexen abgeschirmten DDR-Sozialisation zu verdanken war.
Die politische Polarisierung setzte erst ab ungefähr 1996 ein, als die linksradikale Publizistik in Teilen der »Schwarzen Szene« eine frische Beute entdeckt zu haben glaubte, mit der man trefflich antifaschistische Denunziationssüppchen kochen konnte. Volkmar Wölk veröffentlichte in diesem Jahr unter dem Pseudonym Jean Cremet (nach einem französischen Kommunisten und Sowjetagenten) den folgenreichen Artikel »Jenseits von Böhse Onkelz und Skrewdriver: Über (neo-)faschistische Tendenzen in der Independent-Musik« (analyse & kritik, Nr. 389), der immerhin das Verdienst hatte, etliche Zeitgenossen auf jene interessanten Pfade geführt zu haben, mit deren Anprangerung und Bekämpfung Wölk seinen Lebensunterhalt bestreitet.
Fortan hatte Sigill (wie auch seine Nachfolger Zinnober und Zwielicht) trotz seiner apolitischen Haltung den Stempel eines »Kulturmagazins einer modernisierten Rechten« für »extreme, okkulte, reaktionäre und obskure Positionen« (Christian Dornbusch).
1997 war schließlich so etwas wie das Geburtsjahr des ostdeutschen Neofolks, der mit westdeutschen Bands wie Ernte ( Moers, Nordrhein-Westfalen) oder Hekate (Koblenz) eine Handvoll Vorläufer hatte (Von Thronstahl des in München lebenden Szeneveteranen Josef Klumb folgte erst 1998).
Pockrandt gründete in Dresden das Label Eis & Licht, eigens um das unbetitelte Debütalbum des Hallenser Duos Orplid herauszubringen, das sich zu einem der wichtigsten Projekte der Szene entwickeln sollte. 1999 folgte die Gruppe Forseti um den aus Jena stammenden Andreas Ritter mit der CD Jenzig, ebenfalls auf Eis & Licht; und als Dritter im Bunde der neuen Dreifaltigkeit schloß sich im selben Jahr Henryk Vogel aus dem brandenburgischen Finsterwalde mit seinem Projekt Darkwood an, auf einem eigenen Label namens Heidenvolk, ebenfalls mit Sitz in Dresden.
Eis & Licht wurde in der Folge zum Zentrum der »neuen deutschen Welle« des Neofolk, und brachte Bands wie Leger des Heils (Halle), Dies Natalis (sächsische Lausitz), Sonne Hagal (Rathenow, Brandenburg), Nebelung (Bonn) aber auch internationale Projekte wie Scivias (Ungarn), Changes (USA), Camerata Mediolanense (Mailand) oder Ostara (Australien / Großbritannien) heraus.
Für eine Belebung der Szene besonders im Osten sorgte außerdem der Jenenser Christian Kapke, der von 2001 bis 2005 das Konzertfestival »Flammenzauber« auf der Wasserburg Heldrungen in Thüringen organisierte und das Rezensions- und Diskussionsportal »Lichttaufe« (später »Nonpop«) leitete.
Kapke war der Enge des NPD-Milieus entflohen und gehörte einer völlig neuen Generation von Neofolkern an, die keine Wurzeln mehr in der »Schwarzen Szene« hatte. Was im Dunkeldeutschland von Halle, Jena, Leipzig und Dresden herangewachsen war, konnte auf einen traditionellen Fan der World-Serpent-»Familie« zunächst ziemlich befremdlich wirken.
Gewiß, da waren die Runen und Ruinen, die Akustikgitarren und Trommeln, die strengen Posen, das Spiel mit der Ästhetik der zwanziger und dreißiger Jahre, das Neuheidentum, die historischen Bezüge und Befragungen, die irritierenden Samples, die ambivalente Inszenierung des Heroischen.
Im Vergleich zu den anglophonen Paten erschienen die deutschen Neofolker jedoch ironie- und humorbefreit, steif, bemüht und schwülstig. Ihre bewußt deutschsprachigen Texte hatten einen altertümlichen, »hehren«, »poetisierenden« Tonfall, der nicht immer glückte und zuweilen knapp an unfreiwilliger Komik entlangschrammte.
Aber es fehlte ihrer Musik auch das Perverse, Dekadente und Überdrehte, für das David Tibet, Douglas Pearce oder Boyd Rice so berühmt-berüchtigt waren. Der Unterschied in der Stimmung war etwa so groß wie zwischen Baudelaire und Eichendorff oder Jean Genet und Hermann Hesse.
Als Deutsche, die sich ihrer Wurzeln sehr bewußt waren, griffen die Künstler folgerichtig auf gänzlich andere Quellen zurück als die Engländer, wobei sich die Jugendbewegung, die deutsche Romantik und die Mystik des »Geheimen Deutschlands« von Stefan George bis Rolf Schilling als naheliegende Anknüpfungspunkte anboten.
Dazu gehörte der Mut zum »Uncoolen«, Pathetischen, Gemütvollen und Erhabenen. Auch Einflüsse aus der DDR wurden übernommen. Auf dem legendären Konzert im Juni 1999 auf der Burg Falkenstein im Harz, das ihnen zum Durchbruch verhalf, sangen Forseti »Sag mir, wo du stehst« der »linientreuen« Gruppe Oktoberklub – mithin ein Lied, das schon zu Ulbrichts und Honeckers Zeiten subversiv gedeutet werden konnte.
An der Seite von ungleich krasser auftretenden Bands, die sich mit SS-Totenköpfen, Wolfsangeln und eisernen Kreuzen schmückten, führte Ritter damit die ikonoklastische Tradition des »alten« Neofolk ebenso fort, wie er ihr Neues hinzufügte.
Schon die Song- und Albumtitel dieser »Neuen Deutschen Folklore« rüttelten am Purgatorium der aus der postheroischen, postnationalen Bundesrepublik verbannten Wörter, Bilder und Stimmungen: »Verlorenes Heer«, »Notwendfeuer«, »Sturmgeweiht«, »Geheiligt sei der Toten Name«, »Nächtliche Jünger«, »Im Schatten der Queste«, »Gesang der Jünglinge«, »Deutsche Sonnenwend«, »Abendland« und so weiter.
Immer wieder war hier Trauer um Verlorenes und der Wunsch nach einer Wiederverzauberung der Dinge spürbar. Das Ergebnis konnte ebenso peinlich wie entwaffnend und anrührend sein, so etwa die beiden Alben von Andreas Ritter Windzeit (2002) und Erde (2004), die selbst eingefleischte Neofolkhasser überzeugt und ergriffen haben.
Das Schicksal Ritters verlief tragisch: Er überlebte 2005 einen Herzstillstand, der seine Gesundheit und seine kognitiven Fähigkeiten irreparabel beschädigte. Auch um Orplid, bestehend aus Frank Machau und dem gebürtigen Merseburger Uwe Nolte, der auch als Lyriker und Graphiker tätig ist, ist es still geworden: Das bislang letzte Album Greifenherz erschien 2008; ein neues ist für dieses Jahr angekündigt.
Henryk Vogel ist mit Darkwood gelegentlich noch auf der Bühne präsent, hat jedoch seit dem Album Schicksalsfahrt (2013) nichts Neues mehr veröffentlicht. Als Erben des deutschsprachigen Neofolks à la Eis & Licht war noch bis 2016 die 2007 gegründete österreichische Gruppe Jännerwein aktiv.
Diese geriet im selben Jahr in die Schlagzeilen, weil sie – ein alter Krampf in der xten Neuauflage – genötigt wurde, sich von Martin Sellners Lob und der Etikettierung als »Vorzeigeband der Identitären« zu distanzieren. Nichtsdestotrotz empfahl ein anoymer identitärer Rezensent ihr Album Eine Hoffnung (2015) mit diesen schwärmerischen Worten: »Die alpine Art ist ein ernsthafter Ausdruck ihrer Identität; die Musik und die Texte geben verinnerlichte Werte wie Heimatverbundenheit, Idealismus und Wahrnehmung von Göttlichkeit wieder.«
Wer wagt es, die Staffette von Ritter, Vogel oder Nolte zu übernehmen?