Wie die Kaninchen auf die Schlange starren viele auf Sachsen: Nachdem bei der Bundestagswahl 2017 die Alternative für Deutschland mit 27 Prozent als stärkste politische Kraft in Sachsen hervorgegangen ist, macht sich im Blick auf die sächsischen Landtagswahlen im September 2019 Unruhe breit.
Was sich hier zeigt, ist im Grunde nichts anderes als die Angst von Demokraten vor der Demokratie. Die Inbrunst, mit der überlegt wird, wie eine politische Kraft, die etwa ein Drittel der sächsischen Bevölkerung repräsentiert, aus den landespolitischen Prozessen herausgehalten werden kann, ist nicht nur scheinheilig; sie ist zutiefst antidemokratisch.
Gehört Sachsen noch zu Deutschland? fragt Frank Richter mit dem Titel seines neuen Buches. Der frühere Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung hatte sich 2014 viel Anerkennung erworben, als er seine Einrichtung für einen Dialog mit Vertretern der PEGIDA-Bewegung öffnete.
Nicht nur für ihn war das eine Konsequenz aus den Erfahrungen der 1989er Revolution: Nur durch öffentliche Gespräche über ideologische Gräben hinweg lassen sich Auswege aus einer politischen Krise finden. All das, wofür Frank Richter damals stand, scheint er nun hinter sich gelassen zu haben.
Erkennbar wurde das schon bei einer Podiumsveranstaltung im Dresdner Lingnerschloß am 21. Februar 2019: Frank Richter moderierte das Gespräch von Susanne Dagen und Antje Hermenau mit den Dresdner Publizisten Hans-Peter Lühr und Paul Kaiser.
Letztere hatten der Buchhändlerin Susanne Dagen in einem offenen Brief ihre Kooperation mit dem Antaios-Verlag vorgehalten, womit sie sich zu denen gesellt habe, die »einem generellen Umsturz der Verhältnisse« das Wort reden. Als Moderator stellte Frank Richter eingangs die Leitfrage in den Raum, ob sich denn Dagen mit ihrem Tun und Denken noch innerhalb des »Gesinnungskorridors« befinde.
Mit seinem neuen Buch schwenkt er nun vollends ein auf die Paradoxie des politischen Mainstreams: Es werden Veränderungen angemahnt, um den Status quo zu befestigen. Zunächst verortet er Sachsen im Osten und sich im Westen: »Die Vorliebe des Westens, den Einzelnen zum Ausgangspunkt politischer Überlegungen zu machen und das Gemeinwohl von ihm abzuleiten, ist mir sympathisch.«
Auch die »Vorliebe des Ostens, der Gemeinschaft den Vorrang einzuräumen und das Wohl des Einzelnen in ihr aufgehoben zu wissen«, sei ihm vertraut. Und immerhin: Sie sei »nicht weniger wertvoll.« Doch hier, wo die Frage, warum Sachsen anders ist, zum Greifen nahe ist, kommt keine Vertiefung.
Das »vorrangige Anliegen« seines Buches sei es, »auf eine Gefahr« hinzuweisen:
Sachsen droht sich zu einem Gemeinwesen zu entwickeln, in dem autoritäres, nationalistisches und völkisches Gedankengut die Oberhand gewinnt und das sich von den Prinzipien der Liberalität, Pluralität und Offenheit verabschiedet. Die politischen Kräfte der Neuen Rechten haben an Stärke gewonnen. Sie greifen nach der Macht. Sie halten nichts von der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Sie fordern die Bewahrung, Verteidigung und Rückeroberung der deutschen Kultur und Identität.
Man möchte hier zurückfragen, wie denn »Pluralität« gelebt werden soll, wenn man eine gesellschaftlich zunehmend relevante politische Strömung ausgrenzt? Ob es von »Offenheit« zeugt, wenn über die Lage der deutschen Kultur und Identität nicht debattiert werden soll?
Ob es »der demokratischen Grundordnung« widerspricht, wenn sich eine demokratisch gewählte Partei dem Gewicht ihrer Wählerstimmen entsprechend an der politischen Gestaltung beteiligen will? Wie schnell man schon durch die vorurteilslose Wahrnehmung des Alltagslebens mit den Eigenschaften von Nazis etikettiert werden kann (und soll!), führt Frank Richter direkt vor:
Die grundsätzliche Unterstellung, dass der Lernfortschritt einheimischer Schüler durch die bloße Anwesenheit nicht einheimischer Schüler gefährdet sein könnte, offenbart ein völkisches und tendenziell rassistisches Menschenbild.
Den sächsischen Gegen-Rechts-Wahlkämpfern des Jahres 2019 gibt er sieben Thesen mit auf den Weg. Es gelte den von der Neuen Rechten »aufgeblasenen« Ängsten zu begegnen; »mit Fakten, Zahlen und realistischen Konzepten«. Zum Beispiel:
Es ist nicht schwer zu erklären, dass Deutschland Zuwanderung braucht, um seine ökonomische Stärke und die sozialen Standards zu erhalten.
Warum eigentlich sollen wir nicht das Ziel verfolgen, daß Deutschland selbst die Fachkräfte ausbildet, die es braucht – und diese dann anständig bezahlt werden können? Es ist merkwürdig, wie hier kurzfristiges, wirtschaftliches Interesse als Argument für mehr Zuwanderung eingesetzt wird.
Man könnte ja auch darauf hinweisen, daß eine ethisch fragwürdige Selektion der Migranten nach wirtschaftlichen Verwertungsinteressen nicht auch noch dazu dienen muß, die Geringschätzung der Arbeiter und Handwerker und die Vernachlässigung der Fachkräfteausbildung in Deutschland zu verstetigen.
Aber so viel Differenzierung wäre wohl schon verdächtig. So kommt der Autor zu der kaum originellen Forderung:
Trotz aller berechtigten Kritik an bestimmten Positionen der Linken muss allen Demokraten an der geschlossenen und gemeinsamen Ablehnung der Neuen Rechten gelegen sein.
Die Begründung für diese Einheitsfront bleibt nebulös. Mehr Klarheit bringt der polnische Philosoph Ryszard Legutko, der meint:
Sowohl der Kommunismus als auch die liberale Demokratie wollen die bestehende Realität zugunsten einer besseren Welt verändern. Sie sind – um im Jargon der Gegenwart zu sprechen – Modernisierungsprojekte. […] Beide Systeme greifen tief und ungeduldig in das soziale Gewebe ein und legitimieren ihr Tun damit, daß diese Eingriffe den gegebenen Zustand verbesserten, indem sie ihn ›modernisierten‹.
Jetzt wird erkennbar: Der allgemeine »Kampf gegen Rechts«, der weder im Blick auf die AfD, noch auf die Neue Rechte durch eine akute Bedrohung von Demokratie, Pluralität oder Offenheit gerechtfertigt ist, richtet sich gegen das Bestehende, gegen gewachsene soziale Bindungen, gegen Tradition, gegen regionale Verwurzelung, gegen eine generationenübergreifende Verantwortung für die Bewahrung unseres Natur- und Kulturerbes, ja sogar gegen eine Solidarität mit anderen Völkern in ihrem Bemühen, das ihre zu bewahren.
Bei diesem totalitären Unterfangen ist kein Platz für Differenzierungen oder für den offenen Dialog über ideologische Gräben hinweg. Es scheint nicht übertrieben, wenn Legutko schreibt:
Wer sich außerhalb des Mainstreams begibt, wird entweder als Sonderling, der nicht ernst zu nehmen ist, oder als Faschist behandelt, der eliminiert werden muß.
Nicht zufällig schließt Legutko daran an:
Die Krönung dieser Veränderungen in der Auffassung von Demokratie war die Europäische Union, die nach dem Vertrag von Maastricht eine neue politische Rolle zu spielen begann.
Auch Frank Richter kommt auf das Europa-Thema zu sprechen. Den vielleicht größten Anteil am Vertrauensverlust in die Politik habe die »immer wieder unterstellte« Unterwürfigkeit unter die Interessen der Wirtschaftsunternehmen und Lobbyverbände.
Die Europäische Union muss als politisches Projekt erkennbar werden, das gut ist für Arbeitnehmer, Sozialhilfeempfänger und Rentner und nicht nur für Aktienbesitzer, international agierende Konzerne und die Inhaber großer Vermögen.
Ja, warum sollte es nicht demokratisch sein, eine Partei zu wählen, die das Volk darüber entscheiden lassen will, ob unser Land aus einer zentralistischen, von unten nach oben verteilenden EU wieder austreten soll? Schon heute wäre es möglich, bestimmte Politikfelder zu »re-nationalisieren«.
Damit ist kein Nationalismus gemeint, der andere Nationen geringschätzt, sondern eine Dezentralisierung von Politik. Nur dann, wenn Politik wieder in den Nationalstaaten, Regionen und Bundesländern gestaltet werden kann, ist wirkliche demokratische Mitwirkung möglich.
Erst dann wird die Politikverdrossenheit, die wohl eher eine Demokratieverdrossenheit ist, wieder schwinden. Nicht eine ihrem Stimmenanteil entsprechende politische und mediale Repräsentanz aller politischen Strömungen gefährdet die Demokratie, sondern die zu große Entfernung der Machtzentralen von den Menschen und die Nivellierung regionaler Unterschiede.
In unseren Zeiten bestehe »die Pflicht der Klugen und Weisen darin, sich den Lügenpropheten in den Weg zu stellen«, so Richter. Dem mag man zustimmen – wenn auch nicht in der gemeinten Stoßrichtung. Seine Titelfrage beantwortet Richter nicht. Sein Schlußsatz lautet: »Von Herzen unterstütze ich die Initiative ›Unser Land – Deine Zukunft‹ von ›Banda Internationale‹.
Sie wirbt deutschlandweit darum, nach Sachsen zu ziehen, in Sachsen zu studieren, zu arbeiten, zu lieben und zu wählen – am besten schon im September 2019.« Diese linke Kapelle will, daß »bis zum 30. Mai eine Million Wahlberechtigte ihren Hauptwohnsitz nach Sachsen verlegen«.
Nur so bestehe »für Sachsen die Chance auf eine Zukunft«. Frank Richters Mahnung zur Bewahrung der freiheitlich demokratischen Grundordnung mündet in einen Aufruf zur Wahlmanipulation! Ähnlich erbärmlich hat sich vor 30 Jahren schon einmal eine deutsche demokratische Republik von der politischen Bühne verabschiedet.
Erst jetzt stellt sich die Frage, ob Sachsen noch zu Deutschland gehört, wirklich. Es scheint, daß die in Sachsen schon deutlich erkennbare politische Strömung der Regionalisierung nicht eine Bedrohung der Demokratie ist, sondern eine Retterin der Demokratie.