Zu Lebzeiten war Rolf Peter Sieferle ein Geheimtip. Seine Bücher erschienen zwar in bekannten Verlagen und wurden rege besprochen, drangen aber kaum über das wissenschaftlich interessierte Publikum hinaus. Kurz nach dem Freitod von Rolf Peter Sieferle im September 2016 erschienen zwei schmale Publikationen aus dem Nachlaß, die seinen Namen schlagartig bekannt machten und ihn in die Bestsellerlisten katapultierten.
Finis Germania und Das Migrationsproblem brachten beide auf ihre Art die Zutaten für einen Bestseller mit, die nur des äußeren Anlasses bedurften, um ihre Wirkung zu entfalten: die Zuspitzung, die Lesbarkeit, den Zeitpunkt und den Skandal. In denkbar größtem Kontrast steht zumindest äußerlich die dritte Nachlaßpublikation von Sieferle.
In einigen Nachrufen wurde bereits erwähnt, daß ein 600seitiges Manuskript abgeschlossen vorliege, das sein eigentliches wissenschaftliches Vermächtnis darstelle. Aus den 600 Manuskriptseiten sind 1500 Druckseiten geworden, ein wahrer Ziegelstein und dickes Brett zugleich. Noch mehr als der Umfang dürfte aber manche das Thema erstaunen, Krieg und Zivilisation.
Der Skandal dürfte indes auf sich warten lassen. Nicht, weil es nichts für den Mainstream Anstößiges zu entdecken gebe, sondern eher, weil das Durchmustern bei der Seitenzahl echte Arbeit bedeutet. Hinzu kommen sicherlich zwei Dinge, die eine Rezeption erschweren.
Zum einen ist Sieferle bislang nicht als Militärhistoriker hervorgetreten, was die Fachleute skeptisch stimmen dürfte, und zum anderen wird dieses Thema in Deutschland überhaupt ängstlich gescheut, weil es einem dunklen, lange überwundenen Zeitalter angehört.
Im Migrationsproblem, das Sieferle kurz vor seinem Tod abschloß, findet sich bereits ein Hinweis darauf, warum ihn dieses Thema, ganz im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen, so umtreibt:
Ein wesentliches Problem jeder Herrschaftsausübung, die Neigung zu einer Kombination von ideologischen Phantasmen und Machtexzessen, bis hin zur Kriegsführung, scheint für die westlichen Länder beendet zu sein. In näherer Zukunft ist kein großer Krieg zwischen den komplexen Gesellschaften zu befürchten, da alle wissen, daß sie in ihm mehr zu verlieren als zu gewinnen haben.
Das ist ein nüchterner Blick auf die Langzeitperspektiven der europäischen Kultur. Sieferle macht nicht den Fehler, die Abwesenheit von Krieg unserem Regierungssystem oder der europäischen Einigung zuzuschreiben. Sollte jemand der Meinung sein, mit einem Krieg mehr gewinnen als verlieren zu können, kann die Entscheidung für den Krieg ebenso pragmatisch fallen.
Hinzu kommt, daß die Zukunftssicherung nicht dadurch gewährleistet wird, daß man auf Krieg verzichtet, jedenfalls dann nicht, wenn weniger komplexe Gesellschaften das ganz anders sehen. In Krieg und Zivilisation versucht Sieferle nun, dem Zusammenhang von komplexen Gesellschaften und ihrem Denken über den Krieg auf den Grund zu gehen.
Die Verschränkung von Ideen- und Ereignisgeschichte, die das Buch auszeichnet, führt er leider nur für das Zeitalter der Weltkriege konsequent durch. Auf über 500 Seiten geht Sieferle teilweise sehr detailliert auf die Vorgeschichte und den Verlauf der beiden Weltkriege ein.
In der Konzeption des Buches muß daher der vorhergehende Teil als ein großer Anlauf auf dieses Finale der Kriegsführung in Europa angesehen werden. Sieferle behandelt dabei zunächst ganz kursorisch die Fragen nach den anthropologischen Ursprüngen des Krieges, die er bis ins Mittelalter verfolgt.
Die Antike kommt dabei etwas kurz, was daran zu liegen scheint, daß diese Tradition mit der Völkerwanderung einen Abriß erfuhr und später erst wiederentdeckt werden mußte. Daran schließen sich Kapitel über die Militärrevolution der Frühen Neuzeit, die Hegung des Krieges im 18. Jahrhundert und die Rolle des Militärs im hundertjährigen Frieden zwischen 1815 und 1914 an.
Unterbrochen wird diese Argumentation durch ein Kapitel über »Europäische Traditionen des Denkens über den Krieg«, das auch in den chronologisch angeordneten Kapiteln immer wieder durch Reflexionen über den Bellizismus ergänzt wird.
An die große Erzählung des Zeitalters der Weltkriege schließen sich Überlegungen zu Konsequenzen aus dem Zweiten Krieg und den aktuellen Kriegsszenarien an. Der Texterschließung dienen ein Sach- und ein Personenregister. Hinzu kommen im Anhang Thesen zur »Universalgeschichte des Krieges« und zur »Geschichte des Bellizismus«, die so etwas wie die Quintessenz des Ganzen darstellen, ohne die Dimensionen des Buches erahnen zu lassen.
Zur Gegenwart lautet die These: »Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war von einem rapiden Legitimitätsverlust des Krieges in den westlichen Ländern geprägt. Krieg galt als Inbegriff der ›sinnlosen‹ Zerstörung.« Plastisch wird diese Einschätzung durch die persönliche Motivation des Autors zur Beschäftigung mit dieser Materie, die jedem bekannt vorkommen dürfte, der eine bundesdeutsche Schule oder Universität besucht hat:
Als ich 1968 das Studium der Geschichte begonnen habe, war die Befassung mit dem Krieg das Entlegendste, was man sich vorstellen konnte. Kriegsgeschichte war an spezielle Institutionen der Bundeswehr verbannt, von denen wir keine weitere Kenntnis besaßen. An den zivilen Universitäten gehörte sie einer finsteren Vergangenheit an, von der wir eher mythische Vorstellungen hatten. […] Das konkrete Kriegsgeschehen wurde völlig ignoriert, sowohl in strategischer als auch in taktisch-operativer Hinsicht, geschweige denn, daß das ›Kriegserlebnis‹ der Soldaten thematisiert wurde.
Im Ausland, vor allem in Großbritannien, nahm Sieferle hingegen ein reges Interesse für diese Dinge wahr, die ihn jahrelang beschäftigt haben. Mittlerweile hat sich die Situation in Deutschland etwas geändert, was vor allem von der weltgeschichtlich geänderten Situation, dem Ende des Kalten Krieges und der Beteiligung der Deutschen an Auslandseinsätzen, herrührt.
Wer sich noch an das Gerangel erinnern kann, das die Qualifizierung des Afghanistaneinsatzes durch den damaligen Verteidigungsminister Guttenberg als Krieg ausgelöst hat, weiß aber auch, daß sich grundsätzlich gar nichts geändert hat:
Die Erfahrungen der Weltkriege, vor allem dann des Zweiten Weltkriegs, brachten schließlich eine Ernüchterung, und die bellizistische Revolte wurde in den Alltag abgedrängt, in Extremsport, Drogenkonsum und Popkultur.
Interessant ist es, diese retrospektive Einschätzung mit Sieferles Epochenwechsel abzugleichen, in dem er bereits 1992 feststellte:
Deutschland ist mental vollständig pazifiziert worden. Die bloße Vorstellung, Krieg könnte weiterhin legitimes Mittel der Politik sein, erweckt bis in die Führungsspitzen der Bundeswehr hinein blankes Entsetzen wie wohl sonst nirgendwo in der Welt.
Deutschlands Perspektive sei es, eine Art größeres Hongkong zu bilden. Die dahinterstehende Einsicht, wer den Krieg als letztes Mittel aufgebe, sei nicht besonders friedfertig, sondern im Zweifel erpreßbar, hat sich nicht nur im Fall Hongkongs bewahrheitet.
Vor diesem Hintergrund dürfen wir davon ausgehen, daß Sieferle mit seinem monumentalen Nachlaßwerk eine realistische Perspektive auf den Krieg etablieren wollte, die er durch seine wissenschaftliche Reputation gedeckt sah und dementsprechend nicht der besserwisserischen Nörgelei gleichgeschalteter Wissenschaftsverlage aussetzen wollte.
Der Text sollte unverändert erscheinen, was zu Lebzeiten nicht mehr gelang. Beginnen wir mit der naheliegenden Frage nach der Bedeutung des Krieges für die Entstehung der europäischen Zivilisation. Denn Sieferle zufolge liegt der Schlüssel für die Beantwortung der Frage, warum die Industrialisierung in Europa und nicht in anderen agrarischen Zivilisationen stattgefunden hat, eben in der frühneuzeitlichen Militärrevolution.
Das ist an sich kein neuer Gedanken, und Sieferle nennt seine englischen Gewährsmänner dafür. Allerdings steht diese Einsicht unter dem generellen Verdacht, damit die Herrschaft des alten weißen Mannes etabliert zu haben, die es nach überwiegender Meinung zu beenden gilt.
Von dieser Warte aus wird die Beschäftigung mit dieser Epoche eine Verlustgeschichte ergeben, im umgedrehten Fall kann sie erklären, warum es bis heute keinerlei Möglichkeit gibt, die Welt ohne die Begriffe des alten weißen Mannes zu denken.
Sieferle ist dabei nicht so kurzsichtig, sich auf die technischen Weiterentwicklungen allein zu beschränken. Neben dem Einsatz von Feuerwaffen und der Vergrößerung der Streitkräfte waren es vor allem strategische Leistungen, die diese Revolution ermöglichten.
Zum einen mußten die Strategien mit der Größe der Streitkräfte wachsen und durch die wachsenden Einsatzmöglichkeiten komplexer werden. Zum anderen mußten die Finanzierungsprobleme, die der Unterhalt großer Heere mit sich brachte, fiskalisch und administrativ gelöst werden.
Sieferle geht dabei auf die These von Michael Roberts zurück, der für die Zeit zwischen 1560 und 1660 eine Revolution, im Sinne eines Übergangs von einem Gleichgewichtszustand in den nächsten, postuliert hatte. Der eng gefaßte Zeitraum rief Kritik hervor, die Sieferle kontert.
Die Verwässerung von Roberts These sei das übliche Schicksal jeder kühnen These, »wenn sie in die Hände von Spezialisten und Empirikern gerät, die selbst zu keiner Generalisierung fähig sind«. Ganz in diesem Sinne dürfte Sieferles Buch in Strecken zu verstehen sein, auch wenn seine Thesen oftmals nicht besonders zugespitzt sind: als eine Generalisierung von Erkenntnissen der Spezialisten.
Das hat den Vorteil der Verstehbar- und Vergleichbarkeit, die Sieferle durch oft eingeschobene Zusammenfassungen und Aufzählungen erreicht. Das Besondere an der europäischen Entwicklung hat seinen Grund in der politischen Gestalt Europas und dessen natürlichen Grundlagen.
Im Gegensatz zu anderen Regionen gab es keine Zentralmacht, sondern die wesentlichen Mächte standen in einem ständigen Wettkampf miteinander. »Wichtig an dem innereuropäischen Rüstungswettlauf seit dem späten Mittelalter ist, daß keine Seite je die Oberhand gewann, sondern sich das militärische System als Ganzes unter hohem Selektionsdruck weiterentwickelt.«
Das ist auch der Hintergrund für die sich daran anknüpfende ökonomische Entwicklung. Allerdings bleibt das Militärwesen der Frühen Neuzeit »eindeutig dem agrargesellschaftlichen Ancien Régime« verhaftet, diesseits der »sozialmetabolischen Transformation«, wie Sieferle den Übergang ins Industriezeitalter im Hinblick auf den Verbrauch von endlichen Ressourcen nennt.
Den entscheidenden Aspekt der Weiterentwicklung sieht Sieferle in den logistischen Problemen, die immer größere, stehende Heere mit sich bringen. Detailliert rechnet er vor, wie problematisch die Verpflegung der Truppe auf Dauer und lange Strecken war. Neben dem Bau von Straßen und Kanälen brachten diese Probleme eine Schulung der Offiziere, Kartierung der Staaten und Gliederung der Armeen mit sich, was wiederum eine neue Stufe der Koordination nötig machte.
Letztendlich resultiert der moderne Staat aus den gewachsenen Anforderungen des Militärs, mit anderen Worten des Krieges. Sieferle beschreibt das als funktionalen Zusammenhang mit sich wechselseitig verstärkenden Elementen. Aus dem aufgrund der europäischen Fragmentierung notwendigen und ständigen Kriegszustand, steigt der Ressourcenbedarf des Staates, der rational erwägt, wie er diesen dauerhaft decken kann.
Daraus folgen Gewaltenteilung, rationale Verwaltung, Rechtsstaat und ein effektives und verläßliches Finanzsystem. Allerdings besteht das Problem, daß die Kriege das Erwirtschaftete aufzehren, weshalb der liberale Pazifismus eine Friedensdividende propagierte, die aus der wachsenden Produktion des Friedens und dem daraus folgenden Gewinn resultieren sollte.
Europa sei diesen Weg gerade nicht gegangen, »sondern die Wachstumsökonomie hat sich inmitten von Kriegen entfaltet«. Allerdings sei dazu der innere staatliche Frieden notwendig gewesen. Krieg und Wachstum schlössen sich nicht aus, im Gegenteil.
Aus dieser Logik folgt für Sieferle aber auch, daß, sofern die Möglichkeiten dazu gegeben sind, der Krieg schnell zu einem totalen werden kann, der sich gegen das richtet, worauf die militärische Leistungsfähigkeit beruht: die Wirtschaft und damit den Zivilisten.
Aus dem langen ideengeschichtlichen Exkurs über das »Denken über den Krieg«, in dem Sieferle zunächst auf die antike und die christliche Position eingeht, ist für die oben ausgeführten Positionen vor allem das Werk von Thomas Hobbes wichtig, der sich explizit über die Voraussetzungen eines inneren Friedens Gedanken gemacht hat.
Was Sieferle bei ihm herausarbeitet, ist das logische Problem, wie bei den von Hobbes gemachten Annahmen über die Entstehung des Leviathans, die Verteidigung dieses Friedens gegen äußere Feinde aussehen soll. Der Staat muß verteidigt werden, weil er die Sicherheit und das Leben seiner Bürger garantiert, weil nur er den Rückfall in den barbarischen Kampf aller gegen alle verhindern kann:
Wer also den Staat verteidigt, riskiert sein Leben, um den sicheren Tod zu vermeiden.
Dennoch beharrt Sieferle darauf, daß sich dieses Problem im Rahmen von Hobbes Theorie nicht widerspruchsfrei lösen läßt. Sieferle sieht darin die Folge eines völlig neuen Denkens, das dem Ehrbegriff des Mittelalters und des Adels abgeschworen hat, aber noch kein neues Ethos hervorbringen konnte.
Antike und Christentum kannten Dimensionen, die höher standen als das Leben. »Um als höchstes Gut zu gelten, muß das Leben im Prinzip etwas Angenehmes sein.« Hobbes ist hier eine Ausnahmegestalt seiner Zeit, die etwas vorwegnahm, was uns erst heute richtig plausibel erscheint.
Hobbes antizipiert damit den fundamentalen Umsturz der Werte am Ende des 17. Jahrhunderts, dessen Folgen sich erst im 18. Jahrhundert auswirkten: Das Streben nach Reichtum und Wohlstand wird zu etwas Positivem umgedeutet, das nicht mehr die Moral des Einzelnen und den Zusammenhalt der Gemeinschaft bedroht, sondern in jeder Hinsicht als segensreich zu betrachten ist.
Den Hintergrund bildete der steigende Außenhandel, der einige der älteren ökonomischen Annahmen, etwa die Gründe für Armut und Reichtum, zu widerlegen schien. Dieses neue Denken stand in einem Widerspruch zu der geschichtsphilosophischen Überzeugung, daß Wohlstand die Wehrtüchtigkeit schwäche und ein auf diesem Prinzip beruhendes Gemeinwesen gegen Barbaren wehrlos sei.
Aber auch hier präsentierte der Fortschrittsglaube die passende Lösung: Durch die militärisch-technische Überlegenheit Europas würde niemand in der Lage sein, die europäische Zivilisation von außen zu bedrohen. Sieferle zeigt nun, daß diese Bedrohung von innen kam und sich schließlich in den Weltkriegen entlud.
Im langen Anlauf zum Weltkrieg behandelt Sieferle zwar auch die Juli-Krise in all ihren Details, viel eher will er aber zeigen, welche langfristigen Entwicklungen hinter der Katastrophe von 1914 stecken. Eine der wichtigsten Ursachen ist die Etablierung der Demokratie in den Nationalstaaten.
Was auf den ersten Blick paradox klingen mag, wird verständlich, wenn man in eine Zeit schaut, in der das Für und Wider der Demokratie offen erörtert werden konnte, in das 18. Jahrhundert. Dort nimmt Sieferle die These des Moralphilosophen Adam Ferguson auf, wonach der Krieg in der republikanischen Antike ein grausamer »totaler« war, wohingegen der Krieg der Monarchien seiner Gegenwart ein zivilisiert gehegter sei.
Ferguson führt das auf den ritterlichen Ehrenkodex des Adels zurück, bei dem der Duell- und Ausgleichscharakter im Mittelpunkt stand. Ein Ritter konnte vor einem Ritter kapitulieren; sobald »Fußvolk« im Spiel war, wurde das schwierig, weil es zwischen Ungleichen keinen Ausgleich geben konnte.
Weiterhin hatte der Dreißigjährige Krieg gezeigt, daß ungehegte Kriege niemandem nützen. Die Unterscheidung von Kombattanten und Nichtkombattanten rührt daher, Krieg war eine Angelegenheit der Fürsten, die möglichst mit einem Treffen zu erledigen war.
Die Bevölkerung hatte sich rauszuhalten und wurde dafür möglichst vor Schäden bewahrt.
Im Gegensatz zu Entwicklungmilizen verhinderten die stehenden Heere den Bürgerkrieg und kürzten wegen der hohen Kosten den Krieg zwischen den Staaten ab. Sie waren also ein Mittel, den Krieg zu begrenzen und den totalen Krieg zu vermeiden.
Erschüttert wurde diese fast schon zivile Lösung durch die Erfahrungen des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges und die Konfrontation mit den französischen Revolutionsheeren, die demonstrierten, daß die Beteiligung des Volkes ein unwiderstehliches Argument auf seiner Seite hatte: den Erfolg.
Die logische Konsequenz daraus war die »Militarisierung der Gesellschaft« und die Brutalisierung der Kriegsführung. Ein Zusammenhang, der Sieferle an tribale Verhältnisse erinnert, weshalb er vom »neotribalen Nationalstaat« spricht. Die bislang von allem Kriegerischen ausgeschlossenen Bürger kultivierten einen bürgerlichen Bellizismus und forderten ihre Beteiligung an der Verteidigung des Vaterlandes, was schließlich die Einführung der Wehrpflicht zur Folge hatte.
Die Konsequenz war die Rückkehr der Leidenschaft auf das Schlachtfeld:
Der Volkskrieg wurde aber zum erbittertsten Krieg, angesichts dessen sich manche bald wieder nach den ›gehegten‹ Kriegen der Fürsten und Kabinette zurücksehnten.
Die Geburt des Volkskrieges aus dem Geist der Revolution führt schließlich dazu, daß sich die moralischen Maßstäbe völlig verändern:
Die Feinde der Menschheit, die Fürsten, Aristokraten und Tyrannen mußten als Verbrecher und Rebellen behandelt werden, d. h. sie verdienten keine Schonung.
Das galt natürlich auch für ihre Truppen. Zwischen den Napoleonischen Kriegen und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs lag der »hundertjährige Frieden«, in dem sich die friedliche Transformation von der spät agrarischen zur industriellen Gesellschaft vollzog, die sozialmetabolische Transformation: »Seit Mitte des 19. Jahrhunderts trat ein neues Muster des exponentiellen technischen Fortschritts« auf, der keine Gleichgewichte erzeugte, sondern alle paar Jahre die »Parameter der Kriegsführung« veränderte.
Die Transformation machte auch erst die großen Massenheere möglich, weil sie die Voraussetzung schuf, »daß über längere Zeiträume hinweg solche Massen von der Wirtschaft ernährt und versorgt werden konnten«. Die Kriege des 19. Jahrhunderts waren noch gehegt, weil man den Gegner nicht vernichten, sondern Ziele erreichen wollte, und diese möglichst so, daß man danach wieder in Frieden miteinander leben konnte.
In der Politikwissenschaft spukt bis heute das pseudokantische Argument, daß Demokratien friedlicher seien als Despotien.
Eine Vergleichbarkeit sieht Sieferle erst gegeben, wenn Demokratien so zahlreich als Nachbarländer vorkommen, daß überhaupt die Gelegenheit zum Kriegführen zwischen Demokratien besteht.
Am frühesten war das in Südamerika der Fall, dessen Staaten nach Unabhängigkeit und Demokratisierung zahlreiche Kriege gegeneinander führten. Daher sieht Sieferle im Verhältnis von Demokratie und Krieg eher ein Definitionsproblem.
Die eigentliche Pointe lautet aber, daß Demokratien Kriege, die sie führen, ihrem eigenen Selbstverständnis folgend nicht gegen ihresgleichen, sondern gegen Despotien führen müssen.
Der Gegner wird zur Despotie erklärt, der Verbündete ist demokratisch verfaßt, egal wie es sich damit in Wirklichkeit verhält. Ohne diese Dichotomie ist ein Krieg für eine Demokratie nicht begründbar:
Der Krieg der pazifistischen Demokratien tendiert daher immer dazu, Kreuzzugsqualitäten zu gewinnen.
Sieferle bringt das in einer logischen Schlußformel auf den Punkt. Aus den Bedingungen, daß alle Kriege, die von Demokratien geführt werden, Verteidigungskriege sind und ihre Feinde notwendig Despotien, folgt, daß alle Kriege, die Demokratien führen, gerecht sind und der Aufhebung des Krieges dienen.
Fazit: Demokratien können nur totale Kriege führen, bis zur völligen Vernichtung bzw. Assimilation des Gegners.
Die an Carl Schmitt geschulte Einsicht ist für das Selbstverständnis der gegenwärtigen Eliten verheerend. Allerdings gibt es niemanden, der sie zu dieser Einsicht zwingen könnte, weil er als Menschheitsfeind markiert und vernichtet würde.
Die merkwürdige Sprachlosigkeit dem Phänomen Krieg gegenüber rührt vielleicht auch daher, daß der Krieg gegenwärtig von der europäischen Zivilisation wieder rein professionell betrieben wird und den Bürger daran möglichst gar nicht mehr beteiligen möchte.
Was in der Frühen Neuzeit noch funktionierte und die Hegung des Krieges zur Folge hatte, wird in der Gegenwart durch die grassierende Hypermoral in sein Gegenteil verkehrt, was zu einer weiteren »Funktionsverschiebung vom agrargesellschaftlichen ›rationalen‹ ökonomischen Krieg zu einem neuen Typus des ideologisch motivierten Kriegs« führen könnte.
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