Wir ’89er: Ein Rückblick auf eine Zeit voller Hoffnung und ohne Partei

PDF der Druckfassung aus Sezession 91/August 2019

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Immer mal wie­der krie­ge ich die Fra­ge gestellt: »Wie hast du eigent­lich das Jahr 1989 erlebt, also den 9. Novem­ber natür­lich?« Logisch, der Mau­er­fall. Ich muß da stets aus­wei­chen. Ich war zwar schon damals, als Sech­zehn­jäh­ri­ge, ordent­lich politisiert.

Aller­dings inter­es­sier­ten mich eher die ganz gro­ßen Fra­gen (natür­lich auf, rück­bli­ckend, äußerst beschei­de­nem Niveau): Evo­la, Nietz­sche, und von Benn die Essays; Befrei­ung oder Nie­der­la­ge; Chris­ten­tum als Heils- oder als Unter­ta­nen­re­li­gi­on. Hat­te die Zei­ten­wen­de 1789 statt­ge­fun­den oder bereits 1517 oder gar mit Karl dem Gro­ßen? Und wie kriegt man das zusam­men, wenn man zwar mit vie­len Aus­län­dern, ja über­wie­gend mit Aus­län­dern befreun­det, aber trotz­dem gegen Zuwan­de­rung ist?

Dane­ben war ich damals, anno 1989, nicht bloß Möch­te­gern­phi­lo­so­phin, son­dern vor allem von All­tags­din­gen auf­ge­rie­ben: die soge­nann­te wil­de Jugend. Als die Jun­ge Frei­heit zu einem Jubi­lä­um ihre Autoren auf­for­der­te, über »ihren 9. Novem­ber 1989« zu schrei­ben, hat­te ich spa­ßes­hal­ber in mei­nen alten Tage­bü­chern nach­ge­le­sen, die ich über Jah­re säu­ber­lich führ­te (Rezen­si­on der jewei­li­gen Lek­tü­re mach­te den Haupt­teil aus).

9. Novem­ber 1989: »Bojan tut, als wüß­te er von nichts. [Der »Jugo« Bojan, wie man damals noch sag­te, hat­te eine Son­nen­bril­le von mir ein­be­hal­ten] Er muß sich ent­schei­den, ob er ein Freund ist oder nur Assi-Pack! Eng­lisch wie­der soo ner­vig!! Ms Rei­del haßt mich. Ihr Pech. SIE hat ein Pro­blem. Dabei … I love this lan­guage!! Nach­mit­tags im 51.Store eine Cedix­sept gekauft. 49 Mark. Muß­te sein.« Cedix­sept? Es ging um eine Jeans! Auch in den fol­gen­den Tagen und Wochen: Neben Gos­sip und gele­gent­lich juve­ni­len geschichts­phi­lo­so­phi­schen Betrach­tun­gen (Groß­mäu­li­ges zu Nietz­sche) fin­de ich kei­nen ein­zi­gen Ein­trag zum Mauerfall.

Wenn ich je genervt bin vom poli­ti­schen Des­in­ter­es­se mei­ner Kin­der, soll­te ich mir wohl mein eige­nes Tage­buch vor Augen füh­ren. Der 11. Novem­ber war für mich – bit­te­re Wahr­heit – eher neben­säch­lich. Dabei hat­te ich zahl­rei­che Ver­wand­te und einen engen Brief­freund (Resul­tat eines Luft­bal­lon­wett­be­werbs) »drü­ben«, und die regel­mä­ßi­gen Fahr­ten in die »Ost­zo­ne« zähl­ten zu mei­nen bedeu­tends­ten Kind­heits­er­in­ne­run­gen. Trotz allem war der Mau­er­fall für mich nicht tage­buch­wür­dig, Asche auf mein Haupt.

Und doch fir­mier­te ich einst als Ver­tre­te­rin die­ses »Epo­chen­jahrs«. Ich war eine jener sel­te­nen Blü­ten, die »abseits von Bier­hal­len-Chau­vi­nis­ten, rechts­extre­men Kadern und kurz­haa­ri­gen Gewalt­tä­tern das Undenk­ba­re wag­ten: Rechts zu sein« (Roland Bubik). Das Buch, mit dem die Neue Rech­te ins Licht der Öffent­lich­keit trat, hieß Wir ’89 er. Wer wir sind und was wir wol­len. Neben Die­ter Stein und den dama­li­gen JF-Autoren Roland Bubik (der als Her­aus­ge­ber fun­gier­te), Claus Wolf­schlag (bis heu­te JF-Urge­stein), Frank Lie­ber­mann (auch heu­te noch an Bord des Mut­ter­schiffs JF), Manu­el Och­sen­rei­ter und sechs wei­te­ren, war ich eine der Beiträgerinnen.

Aus dem Vor­wort von Bubik, der damals als äußerst smar­ter und coo­ler Redak­teur die JF-Rubrik »Zeit­geist und Lebens­art« lei­te­te: Heu­te sei­en es die alten »68er-Revol­teu­re, die ent­schei­den­de Posi­tio­nen der Gesell­schaft beset­zen, sie ver­kör­pern die alt­her­ge­brach­te Struk­tur. Pro­test und Oppo­si­ti­on kom­men von rechts.«

Der 89er-Titel kann heu­te in die Irre füh­ren. Kürz­lich traf ich einen ver­dien­ten Alt­po­li­ti­ker wie­der, der längst bei der AfD unter­ge­kom­men ist. Damals, vor Jahr­zehn­ten, waren wir über Wir ’89er ins Gespräch gekom­men. Er ging nun, heu­te, davon aus, daß das Buch 1989 erschie­nen sei. Er woll­te mir ein Kom­pli­ment machen: daß man mir über­haupt nicht ansä­he, daß ich die fünf­zig bereits erreicht hät­te … Das war pein­lich für uns beide.

Wir ’89er ist tat­säch­lich erst 1995 erschie­nen. Da war ich ein­und­zwan­zig. Mei­nen eige­nen Bei­trag, in dem ich mich als Mit­glied einer Bewe­gung aus­wei­se, »die sich durch eine poli­ti­sche Posi­ti­on rechts von der Mit­te und links vom extre­mis­ti­schen Luna­tic Frin­ge defi­niert« (Roland Bubik), lese ich heu­te mit pein­lich roten Wan­gen, vor allem wegen des Fra­ge­bo­gens, der jedem Autoren­ar­ti­kel vor­an­ge­stellt war.

Pathe­ti­scher ging es nicht. Wor­an glaubst Du? – An die Flam­me, die Licht gibt, ver­zehrt und nie­mals erlischt. Dei­ne Vor­bil­der? – Man soll­te nichts nach­bil­den – vor­an! … und noch ein paar wil­de­mäd­chen­ar­ti­ge Ant­wor­ten, an die ich mich nicht mehr gut erin­ne­re. Wor­an ich mich hin­ge­gen sehr gut erin­ne­re, sind Zeit­geist und inter­ne Stim­mung damals, anno 1995.

Was den Zeit­geist angeht: Die Betrof­fen­heits- und Schuld­stolz­wel­le erreich­te weni­ge Jah­re nach den ras­sis­ti­schen Aus­schrei­tun­gen in Ros­tock-Lich­ten­ha­gen und Hoyers­wer­da ihren vor­läu­fi­gen Höhe­punkt. Es war die Zeit, als Zigeu­ner­schnit­zel und Neger­kuß aus dem kuli­na­ri­schen Ange­bot ver­schwan­den, was bei unser­eins nur des­halb Unbe­ha­gen weck­te, weil damit eine über­grei­fen­de poli­ti­sche Kor­rekt­heit Ein­zug hielt. In Deutsch­land wur­de das als Gesamt­phä­no­men erst Ende der neun­zi­ger Jah­re aufgegriffen.

Für das Ursprungs­land USA lie­gen Daten vor, die über Jah­re aus den Leit­me­di­en gesam­melt wur­den. 1990 ging es dem­nach in 65 Arti­keln um »Poli­ti­cal cor­rect­ness«, 1993 in 4914, 1994 in 6985 pro­mi­nen­ten Bei­trä­gen. Für irgend­wie »pro­ble­ma­tisch« hielt der Main­stream die poli­ti­sche Kor­rekt­heit erst nach der Jahr­tau­send­wen­de. Inso­fern waren »Wir 89er« eine Art Avant­gar­de – zu einer Zeit, als weit und breit (gut: eini­ge weni­ge unse­rer Leu­te ver­lus­tier­ten sich bei den Repu­bli­ka­nern) kei­ne poli­ti­sche Alter­na­ti­ve in Sicht war.

Roland Bubik (wie­wohl er im Haupt­fach BWL lern­te) hat­te bei Rolf Peter Sie­fer­le stu­diert. Er war enthu­si­as­miert von die­sem Leh­rer, den damals (Sie­fer­les Skan­dal­werk Finis Ger­ma­nia war noch 22 Jah­re ent­fernt) nur genaue, wache Leser »rechts« ein­ord­ne­ten. Wenn wir uns tra­fen, brach­te Bubik oft pro­vo­kan­te Früch­te aus Dis­kus­sio­nen mit Sie­fer­le mit.

Teils erin­ne­re ich mich im Wort­laut dar­an. Es ging um Mut­ter­schaft, Här­te und Sen­ti­men­ta­li­tät, und wir haben aben­de­lang dar­über debat­tiert. Mei­nen ers­ten Arti­kel hat­te ich unter Roland Bubiks Ägi­de in der JF über die damals recht jun­ge »Techno«-Bewegung ver­faßt. Heu­te erscheint mir das kin­disch. Als groß­städ­ti­sche Ober­stu­fen­schü­le­rin ent­sprach das aber mei­nem Erfahrungshorizont.

In der Schu­le quatsch­ten sie uns voll mit unge­fäh­rem Behut­sam­keits­ge­döns, drau­ßen auf der Stra­ße konn­te man in Offen­bach als jun­ge blon­de Frau unbe­läs­tigt kaum ein paar Meter gehen. Und in die­sen Tech­no­clubs unter dem Frank­fur­ter Flug­ha­fen und im legen­dä­ren »Omen« in der Innen­stadt spiel­ten sie Marsch­mu­sik 2.0! Beein­dru­cken­de Mus­kel­män­ner und Dis­ko­the­ken­wal­kü­ren tanz­ten sich die See­le aus dem Leib, zu har­ten, zwin­gen­den Rhythmen.

In mei­ner gut­be­hü­te­ten Vor­stadt­welt – und bevor Tech­no zur Peace-Kul­tur wur­de – war das eine Ansa­ge! Ich, damals längst noch nicht voll­jäh­rig, katho­lisch sozia­li­siert, Mäd­chen­schul­gän­ge­rin, war hyp­no­ti­siert. Und ich war kru­de poli­ti­siert. Ich stam­me aus einer bie­der-flei­ßi­gen, buch­fer­nen Ver­trie­be­nen­fa­mi­lie, CDU-Wäh­ler. Gefühls­mä­ßig war ich früh »rechts«.

Ich war trot­zig und eine Rebel­lin und spür­te gern über­all Tabus auf. Ich, als Jugend­li­che ohne jeden aka­de­mi­schen Anschluß, schnapp­te nach jedem Häpp­chen, was sich mir bot, um die­ses Rechts­ge­fühl zu unter­füt­tern. Als mein Nach­bar (deut­lich älter als ich, eine Omni­bus-Bekannt­schaft) begann, mir Woche für Woche sei­ne aus­ge­le­se­ne Jun­ge Frei­heit in den Brief­kas­ten zu ste­cken, wur­de ich eine flei­ßi­ge Horterin.

Ich sam­mel­te alle Aus­ga­ben die­ser fas­zi­nie­ren­den Zei­tung, acker­te mit Text­mar­ker Grund­la­gen­ar­ti­kel zu The­men wie »Post­mo­der­ne«, »Kom­mu­ni­ta­ris­mus«, »hei­mat­ver­bun­de­ne Öko­lo­gie« durch und leg­te mir ein hand­ge­schrie­be­nes Lexi­kon mit »wich­ti­gen Begrif­fen« an. Die­ser Haus­nach­bar, Claus Wolf­schlag, beglei­te­te mei­ne ers­ten Arti­kel für die JF (ich hat­te ja noch nicht ein­mal Abitur) mit einem stren­gen Lek­to­rat, das mich oft beschäm­te und mir den Kopf geraderückte.

Als Roland Bubik mich dann frag­te, ob ich Inter­es­se hät­te, für einen Sam­mel­band mit dem Titel Wir ’89er bei­zu­tra­gen, fühl­te ich mich geehrt. Ich hat­te ja gera­de erst als Noch-nicht-Teil­neh­me­rin in die rechts­in­tel­lek­tu­el­le Sze­ne hin­ein­ge­schnup­pert. Ich hat­te seit­her (als halb ver­schüch­ter­te, halb kecke Begleit­per­son bei Knei­pen­sit­zun­gen) Leu­te ken­nen­ge­lernt, die in deut­schen Leit­feuil­le­tons schrie­ben, Bücher in gro­ßen Ver­la­gen ver­öf­fent­licht hat­ten und heim­lich »zu uns« hiel­ten. (Teils hal­ten die­sel­ben immer noch heim­lich zu uns. Damals waren das für mich Hel­den. Heu­te? Schwei­gen wir.)

Neben­bei gab es in die­ser Zeit auch zahl­rei­che Bekannt­schaf­ten mit Leu­ten, die gleich­wohl irgend­wie rechts und auch irgend­wie intel­lek­tu­ell, sprich: bele­sen, aber – oft bewußt – nicht »anschluß­fä­hig« waren. Anschluß­fä­hig wor­an? Ich wür­de sagen: an einen druck­fä­hi­gen Mini­mal­kon­sens, an bun­des­deut­sche Debat­ten. »Auf dem Boden der FDGO ste­hend« war ein kate­go­ri­sie­ren­des und eini­ger­ma­ßen trenn­schar­fes Schlagwort.

Ich hat­te Kon­takt zu Leu­ten, die die­ser frei­heit­lich-demo­kra­ti­schen Grund­ord­nung skep­tisch gegen­über­stan­den. Aus höchst unter­schied­li­chen Grün­den. Radi­ka­len (im Wort­sin­ne) Ent­wür­fen stand ich offen gegen­über – das ent­sprach mei­nem Alter und mei­nem Tem­pe­ra­ment. Bubik erklär­te mir damals, was ein luna­tic frin­ge sei und war­um man sich (und zwar – wich­tig! – nicht aus Oppor­tu­ni­täts­er­wä­gun­gen, son­dern aus Grün­den der geis­ti­gen Hygie­ne) von ihm abgren­zen soll­te. Ich ver­stand. Ich voll­zog nach. Er hat­te recht.

Bis heu­te aber tut mir der luna­tic frin­ge, all die­se Reichs­bür­ger, Schild & Schwert-Kämp­fer, der abge­häng­te alt­rech­te Rest auf eine gewis­se Wei­se leid. Sie sind so eif­rig, so ver­strickt in ihren Eifer, sind ver­bohrt, sind der fleisch­ge­wor­de­ne Gegen­ent­wurf zu jeder Anschluß­fä­hig­keit. Ein kla­rer Schnitt, ein Bruch mit die­sen Leu­ten sei aber unab­ding­bar – die­se Devi­se ging damals auch von Die­ter Stein aus.

Die »Alte Rech­te« wur­de gna­den­los abser­viert. Im Grun­de war es rich­tig. Ich hat­te ja selbst oft genug gese­hen, daß mit die­sen Leu­ten, wie ehren­wert ihre Anlie­gen (Oder-Nei­ße-Linie, diver­se Geschichts­my­then) auch waren, kein Blu­men­topf zu gewin­nen war. Wie gesagt, das war nur zu einem klei­nen Teil ein tak­ti­scher Schritt. Geis­ti­ge Fle­xi­bi­li­tät, das merk­te ich rasch, bedeu­te­te nicht Gegen­warts­schläue und rhe­to­ri­sche Geschmeidigkeit.

Der wuch­ti­ge Damp­fer der alten Rech­ten hat­te schlicht Rost ange­setzt und war zudem ret­tungs­los über den Untie­fen der Lage auf Grund gelau­fen. Die Selbst­be­wuß­te Nati­on, her­aus­ge­ge­ben von den Welt-am-Sonn­tag-Redak­teu­ren Heimo Schwilk und Ulrich Schacht, war damals gera­de erschie­nen: ein ers­tes Mani­fest nicht­lin­ker Den­ker, das für gewal­ti­ges Rau­schen im Blät­ter­wald sorgte.

Die­ses Buch (1994) mit pro­mi­nen­ten Bei­trä­gern wie Botho Strauß, Gerd Berg­fleth und Hans-Jür­gen Syber­berg stell­te eine Art Ursze­ne der Neu­en Rech­ten dar und wird weit­hin bis heu­te als sol­che rezi­piert. Unser Sam­mel­band ’Wir 89er – tol­ler Neben­ef­fekt: In der Jah­res­zahl stand »68« kopf – war gewis­ser­ma­ßen als Jugend­fas­sung die­ser Stim­mung gedacht.

Bubik schrieb im Vorwort:

»Im Rah­men mei­ner publi­zis­ti­schen Tätig­keit stieß ich immer wie­der auf jun­ge Men­schen, die in das all­ge­mein gepfleg­te Bild vom Rech­ten nicht paß­ten. Da kün­dig­te sich etwas Neu­es an. Nicht nur auf der Ebe­ne der poli­ti­schen Argu­men­ta­ti­on oder Pole­mik, nein, tie­fer noch: In der Lebens­auf­fas­sung, im Bild vom Leben. Wie auf einer Ent­de­ckungs­fahrt begeg­ne­te ich einer bun­ten, krea­ti­ven Viel­falt von Prä­gun­gen, Emo­tio­nen, Vor­stel­lun­gen, Lebensformen.«

Und wei­ter:

»Die 89er sind, erfreu­li­cher­wei­se, kein Block homo­gen den­ken­der Ideo­lo­gen. Unter ihnen sind Libe­ra­le, die Mei­nungs­frei­heit und die Plu­ra­li­tät der Lebens­sti­le ein­for­dern. Sie wen­den sich gegen die Gleich­ma­che­rei von links. Allein die­ses Ziel gibt ihnen das Bewußt­sein Rech­te zu sein. Es tre­ten Kon­ser­va­ti­ve auf, die ange­sichts all­ge­mei­ner Auf­lö­sung ihrer Wert­vor­stel­lun­gen nicht mehr ›bewah­ren‹ kön­nen, son­dern ihnen wie­der Gel­tung ver­schaf­fen müssen.«

Das war uner­hört – damals. In den Neun­zi­gern, ich muß es beto­nen für jene Leu­te, die zu die­ser Zeit noch Klein­kin­der oder weni­ger waren, gab es kei­ne Alter­na­ti­ve! Es herrsch­te poli­ti­sche Gra­bes­stil­le. Man konn­te als jun­ger Mensch auf viel­fäl­ti­ge Art links sein: Öko, Kif­fer, Mit­glied bei Amnes­ty-Inter­na­tio­nal oder Green­peace, Juli, Juso – oder eben unpo­li­ti­scher Pop­per mit Lacoste-Shirt.

Wenn man kraß war und in sozia­ler Hin­sicht wenig zu ver­lie­ren hat­te, ging man in eine Bur­schen­schaft und zum RCDS, das war aber weit­ge­hend Klem­mis und Neu­ro­ti­kern vor­be­hal­ten. Maxi­malst war man straight egde, aber die­se Typen taten nur streng, waren in Wahr­heit aber harm­los und unpolitisch.

Dar­um lös­te unser mun­te­res Buch (einem Echo zur Selbst­be­wuß­ten Nati­on gleich) ein beträcht­li­ches Nach­be­ben aus. Hier erklär­ten sich äußer­lich voll­kom­men nor­ma­le Leu­te, fast durch­gän­gig Stu­den­ten oder Stu­dier­te, für: rechts. Der Band, erschie­nen bei Ull­stein unter der kur­zen Ägi­de Rai­ner Zitel­manns (der damals nur Lek­tor war, heu­te Mil­lio­när ist) wur­de rund­um rezen­siert, von den Leit­me­di­en bis zur Tita­nic. Wir 89er gaben Inter­views, wir wur­den ins Fern­se­hen geladen.

Um zu bewei­sen, daß man über sich selbst lachen kön­nen muß, habe ich einen Video­mit­schnitt aus dem ZDF-Län­der­jour­nal unlängst mei­nen Kin­dern vor­ge­führt. Ich hat­te ihnen erzählt, wie mich der Mode­ra­tor damals (hin­ter den Kulis­sen) in den Arm nahm und tät­schel­te (#mich­auch): »Ihr ers­ter Fern­seh­auf­tritt? Kei­ne Sor­ge, wird total easy!«

Dann saß da die Mama im Stu­dio, mit mäch­ti­gem Ohr­ge­hän­ge, aben­teu­er­li­chen Stök­kel­schu­hen, Haar­ge­flecht und grell­oran­gem Kleid, beglei­tet von Manu­el Och­sen­rei­ter, einem damals kaum erwach­se­nen, grund­ar­ti­gem Bur­schen, der einen All­gäu­er Dia­lekt sprach. Der Mode­ra­tor fuhr live gleich von null auf hun­dert: Wir sei­en rechts­ra­di­kal, anti­se­mi­tisch und aus­län­der­feind­lich. Dazu mögen wir doch bit­te mal Stel­lung nehmen!

Och­sen­rei­ter beharr­te mit freund­li­chem Lächeln dar­auf, daß halt eine Moschee nicht in ein bay­ri­sches Dorf pas­se, und ich beton­te mei­nen lite­ra­ri­schen Phi­lo­se­mi­tis­mus, brach­te dann aber das Wort »Ausch­witz« nicht über die Lip­pen: »Wir dür­fen Aus­witsch, äh, Aus­witsch, ver­dammt! Aus…« usw. Du lie­be Güte! Es war eben die eine Sache, in Schu­le, Fami­lie und sozia­lem Umfeld »rechts« zu sein und das cool zu ver­tei­di­gen – und eine ande­re, das »im Fern­se­hen« zu tun.

Unser Buch ran­giert heu­te im Anti­qua­ri­at deut­lich über dem Ori­gi­nal­preis. Das ist bedeut­sam, zumal poli­ti­sche Zeit­geist­li­te­ra­tur aus ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten aller­meist zum Cent­wert zu haben ist. Kei­nem von jenen, die sich damals als Out­law posi­tio­nier­ten, stand ein Auf­fang­netz zur Ver­fü­gung. Nie­mand hät­te zur Not als Refe­rent, Bei­geord­ne­ter oder Schreib­kraft bei einer Par­tei ando­cken kön­nen, falls ihm aus dem inop­por­tu­nen Auf­satz ein beruf­li­cher Strick gedreht wor­den wäre. Und es wur­den Stri­cke gedreht.

Waren wir Hel­den? Ach komm, nein. Wir waren küh­ner, roman­ti­scher, ganz­heit­li­cher als die Leu­te von heu­te. Wir waren ein Anfang. Wir woll­ten noch spielen.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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