Identitätspolitik ist in der westlichen Welt zu einem maßgeblichen Hebel innerhalb der Machtverhältnisse geworden. Man sieht in ihren heutigen Vertretern meist Nachkommen der neuen Linken, die in den 1960er Jahren Frauen- oder Selbstbestimmungsrechte für Minderheiten einforderten.
Diese Sicht ist nicht ganz richtig, weil die Anliegen der Identitätspolitik hinter die Experimente der Kulturlinken hinausreichen und ihre Wurzeln in der Zeit der Aufklärung haben: Die Identitätspolitik hat sich im späten 18. Jahrhundert herausgebildet und wurde zum ersten Mal von konservativen Bewegungen benutzt, die sie auf kollektive Identitäten wie Nationen und Völker bezogen.
Die Politisierung der Identitätsfrage war im Grunde eine Reaktion konservativer Kräfte auf die Aufklärung und insbesondere auf deren Bekenntnis zum Universalismus und zur Gleichmacherei. So hob die deutsche Romantik die Bedeutung kultureller Differenzen hervor. Adam Müller etwa vertrat die Ansicht, daß die auf der Pluralität der Kulturen gegründeten Identitäten authentischer seien, als das abstrakte Konzept des Universalismus und der Menschheit.
Er prangerte damit die mit den Menschenrechten verbundenen Ideale als abstrakten Unsinn an, weil es den Menschen schlechthin überhaupt nicht gebe. Der Liberalismus hat in der Aufklärungszeit seinen Beitrag zur Entwicklung der Identitätspolitik geleistet. Der Liberalismus versuchte, die Politik aus der Autorität Gottes zu befreien, und gerade deswegen mußte die Politik auch von der Autorität der Wahrheit befreit werden: nicht von der bloß faktischen Wahrheit, sondern von einer Wahrheit mit metaphysischem Geltungsanspruch.
Indem der Liberalismus die Wahrheit aus der Politik verbannte, trat der Patriotismus – also das Wir-Interesse – als Fixpunkt öffentlicher Normen an ihre Stelle. So bezeichnet Rorty den Liberalismus im ursprünglichen Sinne als Wir-Liberalismus, weil sich die klassischen Liberalen als Nationalisten zum kollektiven Recht des Eigenen bekannten, wobei sie zugleich die Metaphysik als Quelle rechterzeugender Kräfte verwarfen.
Heutzutage haben jedoch die Kulturlinken der 68er Jahre die kollektive Identitätsfrage des Wir-Liberalismus zugunsten der Heterogenität der Gesellschaft aufgegeben, indem sie jede Art von Autorität und Nationalismus ablehnen. Rorty bezeichnet diese Kulturlinken als Identitätsliberale. Letztlich bildeten sich zwei Hauptpole des Identitätsbezugs heraus: dem Wir-Liberalismus der klassischen Liberalen steht der Identitätsliberalismus der heutigen Kulturlinken gegenüber. Beide Pole stimmen aber in einem Punkt überein: Sie wollen keine metaphysische Substanz vertreten.
Die Neue Linke lehnt die vorgegebene Tradition und Kultur ab und ist auf die von der kollektiven Substanz abweichenden Minderheitsrechte fixiert, und die Liberalen lehnen diese Sonderrechte wiederum ab, weil sie sich auf die Marktgesetze und das Recht des Stärkeren berufen. Die Kulturlinken der 68er Jahre haben die Identitätsfrage zugunsten der globalen Finanzkartelle politisiert und sogar – zugespitzt formuliert – Karl Marx verraten, indem die alte Rhetorik des Klassenkampfes, die die Dichotomie der Gesellschaft im Widerspruch von Kapital und Arbeit kannte, von ihnen im Großen aufgegeben und durch den Gegensatz zwischen Mehrheitsgesellschaft und heterogenen Minderheiten ersetzt wurde.
Statt Fragen der sozialen Ungleichheit in den Mittelpunkt zu stellen, war in den letzten zwei Jahrzehnten Diversity das dominierende Emanzipationsprojekt der europäischen linken Parteien. Wenn eine Sekte von den Mehrheitsnormen abweicht, wird ihr auf die Schulter geklopft, und sie wird ermuntert, ihre Geschichte zu erzählen. Diese neu-empfindsame, oder eher überempfindliche Gesellschaft gibt allerdings an keiner Stelle zu erkennen, daß sie sich auch durch die Geschichte verarmter heterosexueller Weißer bereichert fühlen könnte.
Insofern ist der essentielle Wesenszug der heutigen Identitätspolitik der Linken ihre Tendenz zur Fragmentierung und Überindividualisierung. Das heißt eigentlich dann das Ende der Solidarität als Kern der Nationalpolitik. Insofern befinden sich die neuen Linken in einem nihilistischen Emanzipationsmodus und der Destrukturierung, welche paradoxerweise den Weg wiederum für den neo-liberalen Kapitalismus, den sie ursprünglich ablehnten, ebnet.
Denn die Auflösung der Strukturen, wie etwa der staatlichen, rechtlichen und solidarischen Strukturen, und die Hinwendung zu partikulären Anliegen ist nicht mit der Auflösung der Macht, wie viele Linke immer noch glauben, gleichbedeutend. In seiner Staatstheorie unterscheidet Carl Schmitt zwischen Macht- und Rechtstheorie.
Wenn man nach dem Grund des Rechts und nach der Rechtfertigung des Rechts frage, sei innerhalb der Machttheorie auf die Machtverhältnisse zu achten. Schmitt stellt fest, daß die Macht sich dabei einem eigenständigen Inhalt des Rechts entzieht. Das vorhandene Recht beruft sich auf die Autorität und die herrschende Anschauung. Im Gegensatz dazu entsteht das Recht im Rahmen der Rechtstheorie nicht aus der Autorität, sondern das Recht legitimiert sich von selbst.
Das Recht gilt dann also auch, wenn die meisten Menschen oder Minderheiten anderer Ansicht sind. Dies ist möglich, wenn das Recht einen Inhalt besitzt, der eben nicht aus den Machtverhältnissen entsteht. Schmitt plädiert in seiner Staatstheorie für dieses Primat des Rechts und wendet sich gegen dessen Liberalisierung und Relativierung.
Wichtig dabei ist, daß es sich beim Primat des Rechts um ein machtbegrenzendes Moment handelt, das sowohl staatliche als auch personale Autorität überprüft und hegt. Sowohl Liberale als auch die heutigen Kulturlinken bezeichnen das Zusammenwirken der einzelnen Menschen als den Ursprung des Rechts, und insofern erkennen sie keine über die Machtverhältnisse hinaus prägende Wahrheit an.
Die Liberalen beziehen sich auf die Mehrheit der Gesellschaft und die Kulturlinken auf deren Minderheiten; während die Liberalen die Mehrheit als rechterzeugende Kraft betrachten, nehmen die Kulturlinken den entgegengesetzten Standpunkt ein, da Recht bei ihnen durch die Anliegen der Minderheiten symbolisiert wird.
Dennoch folgen beide Lehren der Logik der Machttheorie und sind insofern unfähig zu erläutern, was genau die Identität und die rechtsbegründenden Normen in der betroffenen Gesellschaft ausmachen. Denn sie beziehen sich lediglich auf die wechselnden Zahlen der Mehrheit oder jene von Minderheitengruppen. Bei Carl Schmitt ist der Staat nicht der Schöpfer des Rechts. Vielmehr ist das Recht der Schöpfer des Staates.
Insofern unterscheidet er zwischen Legalität und Legitimität. Der Wert des Staates ergibt sich aus seiner Verwurzelung im Recht. Er ist höchste Gewalt, weil er vom Recht ausgeht und insofern verwirklicht er das Recht in Gestalt der Gesetze. Demnach lautet die entscheidende Frage: Woher kommt denn das Rechtliche?
Carl Schmitt hält daran fest, daß das Recht und die Gerechtigkeit aus dem jeweiligen Denktypus des Volkes entspringen. Die verschiedenen Völker seien nämlich verschiedenen Denktypen zugeordnet, und mit der Vorherrschaft eines bestimmten Denktypus könne sich eine geistige und damit politische Herrschaft über ein Volk verbinden. Die geistige Herrschaft als solche ist nach Schmitt die Herrschaft der sich dynamisch entwickelnden und gleichzeitig vorgegebenen Tradition, welche die Substanz der Gesellschaft – nämlich die Identität derselben – in einem konkreten Gebiet auf dem Globus herausschält.
Alles Recht ist daher in diesem Sinne Situationsrecht. Die Identität entsteht daher weder aus den Marktverhaltensregeln der Liberalen noch aus dem Emanzipationsprojekt der Linken, sondern sie ergibt sich aus dem Denktypus des Volkes. Ein solcher Denktypus kommt für Schmitt in einem dynamischen Prozeß zustande und ist daher gerade nicht rassistisch im biologischen Sinne.
Er wurzelt in der kulturellen Vergangenheit der Gesellschaft. Der entscheidende Punkt ist, daß dieser Prozeß im Schmittschen Sinne niemals auf die Machtverhältnisse zurückgreift, sondern sich nur durch den Staat verwirklicht. Während die Linken und Liberalen die Identität politisieren, steht die Identität als Substanz der Gesellschaft bei Schmitt über der Politik und dem Staat, und insofern ist Politik nicht rechterzeugende, sondern rechtverwirklichende, also identitätverwirklichende Kraft.
Die Politik wirkt somit als Beschützer der Identität vor deren Politisierung. Denn die Schmittsche Identität kommt aus den historischen Erfahrungen des Volkes (Boden, Staat, Kirche) und insofern sollte die Rechtsordnung Ausdruck der Lebensordnung sein, unabhängig von politischen Machtverhältnissen. Die Substanz der Gesellschaft – ihre Identität nämlich – ist im Grunde eine sinnstiftende Erzählung, die Carl Schmitt gemäß seiner Verfassungslehre im Grundgesetz verankert sehen wollte. Denn sie wird damit vor den sich in permanenter Veränderung befindlichen politischen Machtverhältnissen geschützt.
In der Bundesrepublik standen jedoch nie sinnstiftende Erzählungen im Mittelpunkt der kollektiven Selbstvergewisserung. Es waren, wie zuletzt etwa Herfried Münkler ausführte, Geschichten über die Wirtschaftskraft, also ein Leistungsmythos. So verlagerte sich das Bedürfnis nach mythischer Erzählung und symbolischer Repräsentation von Politik und Staat auf Markt und Konsum.
Der Volkswagen wurde zum Zeichen des Dazugehörens, und der Mercedes war das Symbol des gelungenen Aufstiegs, die Bestätigung des Erfolgs. Es fehlte insofern immer an starken Erzählungen, die sich auf die deutsche Geschichte und die Kraft der christlich-deutschen Identität zurückbesonnen hätten. Merkels Berater Herfried Münkler stellte in einem Gespräch vom 19. September 2018 mit der Wochenzeitung DIE ZEIT fest, daß die Wiedervereinigung Deutschlands kein neuer demokratischer Gründungsmythos der Deutschen geworden sei.
Er forderte »haltende Narrative«, damit die Folgen der Globalisierung ausbalanciert werden könnten. Mit der starken Erzählung wird eigentlich die spezifische Identität vor den fremden Identitäten geschützt, während ein wechselseitiger Austausch geschichtlich gesehen stets zwischen den Identitäten erfolgt. Es geht darum, die Identität der Gesellschaft im Schmittschen Sinne zu bewahren.
Dazu gehören sicher Freund- und Feindbilder, und insofern wird mit den Erzählungen zum Schutz der Identität politisch gekämpft. Im Machtspiel der »Großen Erzählungen« kommt es darauf an, die Erzählungen der Gegenseite zu durchschauen und auf sie zu reagieren. Obwohl Münkler feststellt, daß die deutsche Gesellschaft eine starke Erzählung als solche brauche (und zwar eine, die über die jeweiligen Machtverhältnisse hinausgehen sollte), zielt er darauf ab, den Sinn des Narrativs umzuinterpretieren und gleichzeitig seine Funktionen beizubehalten.
Er will nämlich starke Gegenerzählungen konzipieren, um damit das Wesen des Narrativs, das auf Freund- und Feind-Dualismus beruht, zu dekonstruieren und die dominierende Vorstellung vom clash of civilizations zu entkräften. Insofern will er ein Narrativ für die Gesellschaft entwickeln, welches der Gesellschaft eine spezifische Perspektive gibt, aber gleichzeitig dem Globalisierungsprozeß, das heißt den globalen Ambitionen, unterworfen bleibt.
Diese Ansicht kann man getrost als die Pflanzstätte so diffuser Erzählungen wie die vom »Wir schaffen das« beschreiben, die eher die Gesellschaft spalten als sie zusammenbringen. Der Denktypus des Volkes und der Schutz der deutschen Identität sollte im Gegensatz dazu innerhalb der Neuen Rechten jenseits von Machtverhältnissen konzipiert werden. Andernfalls würde sie die Spielregeln der neuen Linken – also die modernen Dichotomien der Gesellschaft zwischen Mehrheit und Minderheit – unter anderen Vorzeichen weiterführen.
Die Identität ist kein nebensächliches Phänomen, das durch die Propagierung einer Leitkultur bewahrt werden könnte, wie Bassam Tibi sich das vorstellte. Es handelt sich vielmehr um eine Existenzfrage, und daher sollte die Identität mit Carl Schmitt auf dem Niveau einer Verfassungslehre debattiert werden: Die Identität würde dabei nicht als Objekt der Verfassung, sondern als verfassungsgebender Wille des Volkes betrachtet werden!
Denn dies ist die Voraussetzung dafür, daß ein freies Volk keine Rechtsordnung begründe, welche die Kontinuität der eigenen Identität aufgrund ungünstiger Machtverhältnisse zu leugnen oder gar auszuhebeln imstande ist.