»Glauben Sie an den Storch?« – unter diesem Titel erschien in einer polnischen Zeitung im Sommer 1939 eine Karikatur. Zu sehen waren darauf eine Handvoll Störche, die weit über den Köpfen diskutierender Passanten schwebten, mit Säcken im Schnabel, bei denen keine Kinder, sondern englische Pfundzeichen zu erkennen waren.
Unerreichbar hoch segelten sie dahin; die ursprünglich aus London in Aussicht gestellte Finanzladung erschien als ein Mythos, wie der babybringende Storch selbst. Es stand in diesen Angelegenheiten wirklich nicht gut. Eigentlich hätten nach den Vereinbarungen Polens mit den Westmächten Frankreich und Großbritannien beachtliche Mittel bereit stellen sollen.
Polen hatte Zusagen für umfassende Zahlungen bekommen, wenn es gegen Deutschland Stellung bezöge. Geliefert wurde aber nichts. Der in dieser Frage maßgebende Mann Polens, der damalige Außenminister Josef Beck, beklagte sich im Nachhinein über die angeblich unpolitische Haltung der britischen Verhandlungspartner, die das verursacht habe.
Treuherzig versicherte sein Kontaktmann, der Außenministerkollege Halifax, die britische Staatsbank sei »unabhängig«. Er könne daher in dieser Sache keinen Einfluß geltend machen. Also wurde trotz Zusagen nichts gegeben und nichts geliefert, Polen blieb allein. Aber dennoch herrschte in Warschau in den Regierungskreisen weiterhin überwiegend Optimismus.
An sich stand ja alles zum besten, nach den geschlossenen und mehrfach bekräftigten Verträgen. Frankreich und Großbritannien hatten gerade eben erst unbedingte Unterstützung für einen Konflikt mit Deutschland zugesagt. Die Sowjetunion hatte versprochen, in keinem Fall gegen Polen in einen solchen Konflikt einzugreifen. Sogar Waffenlieferungen an Polen waren von Moskau in Aussicht gestellt worden, auch dies noch einmal verstärkt zugesagt, im Frühjahr 1939.
Man muß jetzt nicht besonders betonen, wie komplett nur Monate später das alles nicht mehr von Bedeutung gewesen ist. Aber es wirft natürlich ein Schlaglicht auf die Verhältnisse, unter denen im Europa des Jahres 1939 das entstanden ist, was heutzutage als Auftakt zum Zweiten Weltkrieg als bekannt vorausgesetzt werden kann. Unter dem Stichwort Optimismus stellt das Datum des 24. März 1939 einen besonderen Tag dar.
In Warschau versammelte damals Josef Beck seine diplomatischen Mitstreiter zu einem größeren Treffen. Es galt, die kommenden Entwicklungen anzukündigen und möglichen Irritationen durch die letzten Ereignisse vorzubeugen. Gerade hatte sich die Slowakei von Tschechien abgespalten und das Deutsche Reich im tschechischen Landesteil unter der Bezeichnung »Protektorat Böhmen und Mähren« einen eigenen Herrschaftsbereich eingerichtet.
Zwar waren diesen Entscheidungen deutsche Konsultationen mit Großbritannien vorausgegangen, aber die internationale Presse schrieb von einem deutschen »Coup«. Man versammelte sich an besagtem 24. März als ein Klub von Personen, die sich schon lange kannten. So gut wie alle Anwesenden waren Teil der »polnischen Legion« gewesen, die nach einer vorausgegangenen Geschichte als Untergrundbewegung vor einem Vierteljahrhundert im Jahr 1914 ganz offiziell als vermeintlich pro-deutsch-österreichischer Verband in den ausbrechenden Ersten Weltkrieg gezogen war.
Unter dieser Flagge waren jedoch stets in letzter Konsequenz nur eigene, nach außen hin gern verschwiegene polnische Ziele verfolgt worden. Mit Erfolg. Wie in diesen Kreisen prognostiziert, brach 1917/18 in Ostmitteleuropa die alte Ordnung zusammen: das russische Zaren- ebenso wie letztlich das deutsche und das österreichische Kaiserreich. Die »polnische Legion« hingegen stellte ab 1918 den Kernbestand des staatstragenden Personals der nach mehr als einem Jahrhundert wieder neu hergestellten polnischen Republik.
Dazu gehörten auch die polnischen Botschafter in den großen europäischen Hauptstädten, die im Frühjahr 1939 fast alle immer noch zu diesem informellen Verein gehörten, der jetzt auf den nächsten großen Coup setzte: den erneuten deutschen Zusammenbruch unter einer nationalsozialistischen Regierung, die sich in Europa restlos isoliert hatte.
In den Worten des langjährigen Leiters der polnischen Außenpolitik, Josef Beck klang dies am 24. März so: »Wir haben diese entscheidende Situation in unserer Politik erreicht und dabei sämtliche Trumpfkarten in unserer Hand. Das spricht nicht gerade gegen uns. Auf dieser Grundlage werden wir die weiteren Aktionen angehen.«
Diese Trumpfkarten bestanden in den oben kurz angesprochenen Bündniskonstellationen, mittels derer sich inzwischen wesentliche Kräfte in Europa gegen Deutschland richteten. Das diplomatische Kalkül einer sich für klug haltenden Politik und der drohende Ausbruch völlig anders dimensionierter Gewaltereignisse beschäftigten damals vielfach die Gemüter. Für Polen galt es, nach mehr als fünf Jahren eine Politik zu Ende zu führen, die am 26. Januar 1934 formal begonnen hatte.
An diesem Tag hatte man seinerzeit mit Deutschland ein Abkommen über gegenseitigen Gewaltverzicht geschlossen. Ganz Europa gab sich überrascht über diese Entwicklung, galt doch der polnisch-deutsche Konflikt seit 1919 als gesetzter Standard der europäischen Verhältnisse. Direkte und indirekte Gewalt war seitdem beiderseits vielfach eingesetzt worden, keine Seite war mit den Grenzziehungen zufrieden.
Im deutschen Auswärtigen Amt und der Reichswehr gab es namhafte Stimmen, die Existenz der Republik Polen sei eigentlich ohnehin überflüssig. Deutsche Reichskanzler wie Gustav Stresemann gingen davon aus, dieses Problem lösen zu können. Auf der anderen Seite sah man sich in Warschau stets als Nachfolger des polnischen Imperiums der Frühen Neuzeit, also eigentlich auf Augenhöhe mit Frankreich oder Großbritannien.
Wenn man diesen Anspruch nun aber in London und Paris durchsetzen wollte, mußten harte Wege gegangen und ein Dilemma gelöst werden. In keinem Fall durfte Polen sich als Satellitenstaat des Westens behandeln lassen. In jedem Fall aber mußte man trotzdem im Zweifel an der Seite des Westens stehen, wenn der gegen Deutschland vorgehen sollte.
Daraus resultierte eben die Politik des 26. Januar mit ihrem vorläufigen Gewaltverzicht gegen Deutschland – der so lange Geltung haben würde, bis die Westmächte selbst gegen Deutschland aufträten. »Der Kommandant (d. h. Józef Piłsudski, d. Verf.) hat zu seiner Zeit Schwierigkeiten vorausgesehen, die aus ungesunden Romanzen mit den Deutschen entstehen werden.
Jedoch war er der Meinung, daß wir keinen vernünftigen Zustand mit den Ländern Westeuropas erreichen, wenn wir nicht – zumindest eine Zeit lang – eine eigene deutsch-polnische Politik zustande bringen.« In diesem Sinn erläuterte Josef Beck seine Politik gegenüber seinen Regierungskollegen. Er arbeitete seit Jahren daran, die Alliierten auf die polnische Seite zu bringen. Im Sommer 1938 sprach er erstmals in Warschau davon, sich »innerhalb von 24 Stunden auf die Seite der Alliierten« schlagen zu können – wenn diese sich handlungsfähig gezeigt hatten.
Allerdings wollte er dafür von den Westmächten zudem einen Preis haben, in Form von Land und Rechten. Da zugleich noch nicht sicher war, ob sich London und Paris wirklich militärisch gegen Deutschland wenden würden, wollte Beck auch von einem weiteren deutschen Zugewinn profitieren.
Im Frieden also mit Hitler, im Krieg gegen ihn, so erläuterte Beck seine Politik auf zwei Konferenzen im Warschauer Schloß:
»Zu diesen Ausführungen im königlichen Schloß fügte ich immer kategorisch hinzu: (1) Wir dürfen und wir können nicht die ersten sein, die gegen die Tschechoslowakei auftreten, und (2) sollten meine Annahmen nicht zutreffen, muß die Politik Polens sich innerhalb von 24 Stunden ändern, denn für den Fall eines wirklichen europäischen Krieges mit Deutschland dürfen wir nicht einmal indirekt an der Seite Deutschlands zu finden sein.«
Auf daß diese Haltung im Westen endlich verstanden wurde, erläuterte Beck sie im Juni 1938 persönlich – und fast wortgleich – dem US-Botschafter Anthony Drexel Biddle. An einem breiten Konflikt des Jahres 1938 hätte sich die Republik Polen also bereits beteiligt, wenn er gegen Deutschland gerichtet gewesen wäre. Folgte 1938 noch kein Krieg, sondern das Münchner Abkommen mit seiner Neuaufteilung der Tschechoslowakei, so war die Sache seit dem Frühjahr 1939 klar: Großbritannien und Frankreich stellte sich quasi bedingungslos gegen Deutschland und hinter Polen.
In Warschau schien man also am Ziel aller langjährigen Wünsche zu sein und gab jedwede Zurückhaltung auf. Beck selbst hielt vor dem Parlament eine flammende Rede, über deren Wirkung Frankreichs Botschafter notierte:
»Als er von der Tribüne herabstieg, jubelten ihm alle Mitglieder des Sejm lange stehend zu; die Mitglieder der Regierung und das Publikum der Tribünen beteiligten sich an dieser Kundgebung. Gewisse Mitglieder des diplomatischen Corps, fortgerissen von dem allgemeinen Elan, glaubten das Recht zu haben, auch ihrerseits dem Außenminister ihre sichtbare Ermutigung geben zu dürfen. Alle anwesenden Polen bebten in starker patriotischer Bewegung und brachten durch ihre Begeisterung die Entschlossenheit der ganzen Nation zum Ausdruck. Einige Zwischenrufe hatten gleichzeitig gezeigt, daß wenigstens einige Abgeordnete die Illusionen der Masse über die wirklichen Kräfte Polens teilten. ›Wir haben keinen Frieden nötig‹, hatte eine Stimme während des erhebenden Schlußwortes des Ministers in den Saal gerufen.«
Josef Beck durfte es an diesem Tag erleben, im polnischen Parlament aufgenommen zu werden wie der sprichwörtliche »verlorene Sohn«. Die Zeit seines öffentlichen Spiels mit den deutschen Ambitionen ging vor den Augen der Welt und der polnischen Innenpolitik zu Ende. Über Jahre hatte er persönlich den Eindruck einer deutschfreundlichen Haltung erwecken müssen, um den Preis zu erhöhen, den die Westmächte für ein Bündnis mit Polen zu zahlen bereit waren.
Nun bestand in Warschau eine demonstrative Einigkeit von Regierung wie Opposition, die auf das Gegenteil hinauslief. Was von Berlin aus vorgetragen wurde, sei die Forderung nach einem einseitigen polnischen Zugeständnis. Einseitige Zugeständnisse würde kein Staat von Ehre machen. Verletzung der Ehre bedeute Krieg. So lautete letztlich der Dreisatz dieses Auftritts, dessen sachliche Widersprüche und gewollte Illusionen gravierend waren, aber dem bewegten Publikum nicht auffielen.
Es war in dessen Augen die Zeit gekommen, weitere Zeichen demonstrativer Entschlossenheit gegen deutsche Ambitionen im Osten Mitteleuropas zu schaffen. Das bedeutete unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht zuletzt weiteren Druck auf die deutsche Volksgruppe in Polen. Mit großer Geste wurden vor diesem Hintergrund öffentlich im Frühjahr 1939 die eigenen Streitkräfte mobilisiert. Das zeigte jedenfalls Stärke und Kampfbereitschaft nach außen hin.
Die Voraussetzungen waren gut: Die westlichen Militärattachés attestierten Deutschland eine militärische Schwäche, und die diplomatischen Kreise in Warschau und London hielten das NS-Regime für instabil. Gleichzeitig war es der polnischen Regierung gelungen, endlich einen erstrangigen Kontakt zu den Westmächten zu knüpfen und somit jene Aussicht auf Unterstützung durch fremde Mächte zu erreichen, die vor sechs Jahren gefehlt hatte. In der Tat veranstalten die britischen Vertreter vor Ort in Warschau geradezu einen Wettbewerb an Spekulation darüber, wie Polen weiter militärisch vorgehen würde.
Eine vollkommen eigenständige polnische Militäraktion hielt Botschafter Kennard in jedem Fall für unwahrscheinlich, auch wenn sie derzeit von einigen Kollegen diskutiert werde, womit er wohl unter anderem die englischen Militärattachés meinte: »Ich teile nicht die Alarmstimmung von einigen meiner Kollegen, wonach die polnische Regierung ein Ergebnis mit Deutschland erzwingen will. Aber die Polen verstehen die deutschen Methoden und es wäre nicht das erste Mal, wenn sie ein Blatt aus dem deutschen Buch reißen würden.«
In den britischen Militärkreisen in Warschau herrschte Lust vor, sich an einem solchen Unternehmen zu beteiligen. Ein weiteres Memorandum von Militärattaché Colonel Mason-MacFarlane vom 29. März forderte den Krieg innerhalb von drei Wochen und nannte als Verbündete gegen Deutschland die Länder Polen, Rumänien, Jugoslawien und eventuell Ungarn. So schienen die Perspektiven für eine polnische Großmachtrolle in Europa in diesem Frühjahr 1939 so günstig zu sein wie nie zuvor.
Allerdings: Die Störche des Westens blieben 1939 letztlich in der Tat aus. Sie brachten weder die zugesagten Finanzmittel, noch die versprochenen Großangriffe der französischen Armee auf Deutschland, noch die britischen Bombenangriffe auf Berlin. Militärs planen bekanntlich oft den kommenden Krieg mit den Mitteln des letzten. Für die Überlegungen der polnischen Legionäre, das Jahr 1919 im Jahr 1939 noch einmal zu wiederholen, trifft dies beispielhaft zu.