Die fehlende Grenzschließung im Jahre 2015 und die Krise in Permanenz des Establishments haben die Resonanzräume der politischen Rechten erweitert. Das Ausgreifen einer grundsätzlichen und alternativen politischen Strömung ist jedoch vorerst quantitativer Natur. Das zahlenmäßige Wachstum der »Mosaik-Rechten« beinhaltete oftmals keine qualitative Entwicklung.
Der »Kooperationsverbund kritischer Kräfte« (Hans-Jörg Urban), der als arbeitsteiliges, heimat orientiertes Mosaik aus Periodika, Partei und Außerparlamentariern personellen Zuwachs erfuhr, blieb zu oft eben dies: eine Ansammlung kritischer Kräfte, doch ohne Ambitionen, über die Ablehnung der Merkel-Ära hinauszudenken.
Selbst der migrationskritische Grundkonsens, der unterschiedlichste weltanschauliche Akteure temporär zusammenfügen konnte und einstweilen, bei Fortdauern des nichteuropäischen Andrangs auf bundesdeutsches Territorium, noch kann, wurde wiederkehrend als »islamkritischer« Grundkonsens fehlgedeutet, wobei noch nichts über andere Differenzen gesagt wäre. Das liegt nicht zuletzt am Primat der Empörung gegenüber nachhaltiger inhaltlicher Arbeit.
Nicht ohne ironische Note ist zu konstatieren, daß Rolf Peter Sieferle (1949–2016) es ebenjenem Primat der Empörung verdankt, eine Aufmerksamkeit zu erhalten, die er zu Lebzeiten – unverdientermaßen – nicht kannte. Seine Notizen Finis Germania wurden 40.000 Mal verkauft, viele wurden anhand dieses Bestsellers erstmals auf politische Reflexion von rechts aufmerksam, fanden sich freilich gleich auf vermintem Gelände wieder.
Sieferle aber ist auf diese Weise (wieder) ins Spiel gekommen, und es liegt an der Lektüre- und Denkbereitschaft der Rechten, die tragende Rolle des Denkers fruchtbar werden zu lassen. Hierbei hilft die vom Landtverlag verantwortete Werkausgabe. In ihr sind nun, nach den Wälzern Epochenwechsel sowie Krieg und Zivilisation, die Bände 3 und 4 erschienen. Band 3 ist eine Neuauflage der 1995 erstmals erschienenen Monographie Die Konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen (382 S., geb., 36 €).
Darin beschreibt Sieferle die dezidiert soziale Traditionslinie der seit Armin Mohler als »KR« bekannten vielschichtigen Denkfamilie der Rechten in der Weimarer Republik. Er liefert eine dichte Einführung in ihren Kosmos und porträtiert fünf Köpfe, die für die soziale Frage ebenso bürgten wie für den rechten Selbstläufer der nationalen Selbstbehauptung. Es entstand nach dem verzweifelnden Kriegsausgang 1918 eine »revolutionäre Rechte«, die sich gegen das individualistische liberale Prinzip, gegen den Marxismus, aber auch gegen die Anhänger eines reaktionären Status quo ante zu stellen versuchte.
Die grundlegende Herangehensweise dieser konservativen Revolutionäre negierte die Möglichkeit, »vom Kapitalismus bedrohte Bestände zu retten, ohne die Wirklichkeit selbst einer radikalen Veränderung zu unterziehen« (Sieferle). Daher drängte man nach vorn, brach mit der »Bourgeoisgesellschaft« und suchte den neuen Weg, die »deutsche Synthese« (Werner Sombart) in einer zu bejahenden Moderne.
Aus diesem Grund widerspricht Sieferle mainstreamloyalen Deutungen, wonach die KR als »Konterrevolution«, also als Reaktion auf marxistische bzw. linksradikale »Revolution« zu betrachten sei. Vielmehr handle »es sich um zwei genuine revolutionäre Programme, um Parallel-Revolutionen gegen den gleichen Gegner«, den Sieferle für die KR bereits im Epochenwechsel als den Liberalismus und sein ökonomisches Derivat Kapitalismus beschrieb.
Diesem »Hauptgegner« wollte man eine Verschmelzung eines nichtmarxistischen Sozialismus und eines nichtreaktionären Nationalismus entgegenstellen. Liegt der Vorwurf nahe, auch der Hitlersche Nationalsozialismus versuchte sich an dieser ideellen Fusion, verweist Sieferle konsequent darauf, daß der »Nationalsozialismus« der Hitler-Fronde wenig zu tun hatte mit dem, was in KR-Kreisen, verschiedentlich aufgeladen, unter »nationaler Sozialismus« firmierte.
Die entscheidende Trennlinie sei die ureigene NS-Depravation in Form einer »materialistischen Grundhaltung der Rassentheorie« gewesen; führende KR-Vertreter – von Spengler und Moeller van den Bruck über Schmitt und Jünger bis zu Strasser und Niekisch – lehnten diese unheilschwangeren Vulgärbiologismen ab, weshalb letztere als Abgrenzungskriterien gegenüber den diversen KR-Standpunkten gelten können.
Nachdem Sieferle derlei terminologische Hürden genommen hat, schreitet er zu seinen fünf biographischen Skizzen. Den Anfang macht, thematisch konsequent, Paul Lensch, der von der Sozialdemokratie zur KR stieß. Als preußischer Sozialer stand er in der Tradition des »Staatsidealismus«, der mit Namen wie Adolph Wagner und Gustav Schmoller verbunden ist. Als Patriot lehnte Lensch die »antinationale Tradition« weiter Teile der deutschen Linken ab; er sah seine Aufgabe darin, mit Weggefährten wie August Winnig und Johann Plenge eine »Nationalisierung der Arbeiterklasse« einzuleiten.
Übergeordnetes Ziel war die Gemeinwohlorientierung der Wirtschaft, die Organisation und Erziehung der vereinzelten Individuen in einem sozialen und autoritativen Staatsverband. Hier kann Sieferle direkt zu Porträt zwei überleiten, zu Werner Sombart, den er als »Schlüsselfigur des Zeitgeistes« einführt. Sombart stand als Schüler Schmollers wie auch als Nachfolger Wagners an der Berliner Universität ebenfalls in der Kontinuität eines konservativen »preußischen Sozialismus«, was nicht bedeutet, daß es keine Schwankungen in den Denkbewegungen des Nationalökonomen gegeben hätte.
Sein grundsätzliches Ziel war indes der »Durchbruch zu einer neuen politischen und ökonomischen Wirklichkeit«. Eine konservative Planwirtschaft sollte privatwirtschaftliche Elemente mit sozialistischen vereinen und dazu beitragen, das »ökonomische Zeitalter« mit seinen Pfeilern Gewinn- und Rentabilitätsprinzip zu überwinden.
Sombart suchte für seine politische wie wirtschaftliche konservative Revolution nach Vollstreckern; daß er sie vorübergehend – 1933/34 – im Nationalsozialismus zu finden glaubte, wird ihm bis heute nicht verziehen, woran auch die damalige Ablehnung durch NS-Stellen aufgrund Sombarts Beurteilung des Rassenwahns nichts ändern kann. Diese temporäre Ambivalenz in bezug auf die Zäsur von 1933 ist auch bei Oswald Spengler, dem dritten Porträtierten, greifbar.
Wie bei Lensch und Sombart betont Sieferle die »Synthese von Preußentum und Sozialismus, von Organisation und Gemeinschaft, von Pflichtethos und Dienst am Ganzen«. Auch Spenglers Nationalisierung der sozialen Frage nach außen – Gemeinschaftsorientierung (etwa der Deutschen) vs. Individualprinzip (etwa der Briten) – wird dargestellt. Erst bei Ernst Jünger sieht Sieferle diese Denkweisen abgeworfen; Jüngers Suche nach Identität und Mission Deutschlands mündete in der These, »daß es sich beim Nationalismus um eine überholte Fragestellung handelte«.
Der weite Weg Jüngers von der Nation zu einem »globalen Universalstaat« mit den Zwischenstufen der »Gepäckerleichterung« mittels Abschied von Traditionen einerseits und dem nationalbolschewistischen »Arbeiter« andererseits ist wohl nirgends so konzise untersucht worden wie von Sieferle, der den Abschluß seiner Monographie dem Soziologen Hans Freyer vorbehält. Dieser kann heute als Metavater des »Ethnopluralismus« bezeichnet werden, war er es doch, der zu Zeiten der KR, also 1918 bis 1932, die »reale Buntheit« der Menschheit in der Pluralität kulturell integrierter Völker als Gegenstück zur Vielfalt emanzipierter und atomisierter Individuen erhalten sehen wollte.
Einer, der diese Vielfalt der Völker und Nationen nicht goutierte, weil es der Universalität seines Konzeptes widersprach, wurde in der KR, auch in ihrem sozialen Flügel, verschiedentlich rezipiert, insgesamt aber naturgemäß kritisch bewertet: Karl Marx. Ihm ist Band 4 der Werkausgabe gewidmet, in der zwei kompatible Sieferle-Studien abgedruckt sind: Marx zur Einführung und Die Revolution in der Theorie von Karl Marx (628 S., geb., 54 €).
Teil 1 ist die wohl beste und zugänglichste Marx-Einführung neben den Kapital-Vorlesungen von Wolfgang Fritz Haug und erschien erstmals 2007; Teil 2 enthält Sieferles umfassende wie kluge Betrachtung der Marxschen Geschichtsphilosophie und ihrer revolutionären Implikationen, die bereits 1979 im Original vorlag.
War Marx von rechts (Dresden 2018) der Versuch einiger Autoren, politischen Ertrag aus einzelnen Marx-Thesen zu erzielen, so ist Sieferles Doppelband ein formidables Grundlagenwerk zur Marxschen Theoriebildung, das in seiner Wissenschaftlichkeit ebenso beeindruckt wie in seiner tiefschürfenden Durchdringung komplexer Gegenstände. »Vieles von dem«, mahnt Sieferle konkludierend, »was heute unter Marxismus gehandelt wird, hat mit dem historischen Marx wenig zu tun.«
Wer Sieferle liest, weiß besser als jeder linke Marxlesekreis, warum und weshalb diese Annahme zutreffend ist. Wenn Armin Mohler der »Ahnherr« einer Neuen Rechten ist, dann verkörpert Rolf Peter Sieferle ihren Lehrmeister. Man muß hoffen, daß nicht zuletzt viele der 2015 Dazugestoßenen diese Maxime beherzigen und sich die von Sieferle erarbeitete Substanz aneignen.
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