Peter Michalzik: 1900. Vegetarier, Künstler und Visionäre suchen nach dem neuen Paradies, Köln: Dumont 2018. 411 S., 24 €
Die Suche nach dem alternativen, dem wirklichen Leben, ist beinahe so alt wie die menschliche Gesellschaft. Aber es gibt Phasen, in denen sie besonders prominent wird. Die Zeit um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert war so eine. In ihr nahm, wie Peter Michalzik in seinem Buch über den Monte Veritá annimmt, der moderne Individualismus seinen Anfang.
Es wurde viel geglaubt, neue Propheten erschienen, ein heimliches Verlangen nach »Bekenntnis, Transzendenz, Erlösung und Mythos«, nach »Leben« und »Freiheit« entstand, durchsäuerte die Künste und ließ immer mehr Menschen mit der Frage nach dem richtigen, dem besseren Leben zurück.
Einige, wie der Kontorist Henri Oedenkoven und die Pianistin Ida Hofmann, schritten zur Tat und gründeten alternative Wohn- und Lebensprojekte. Ihr Monte Veritá am Lago Maggiore erlangte Weltruhm, nicht zuletzt, weil sich ein Großteil der damaligen Künstler- und Geisteswelt dort versammelte oder seine Fäden darin verspann und auch Bedeutendes schuf. Die Liste der Namen ist schier unendlich: Hesse, Max Weber, Gerhart Hauptmann, Otto Groß, Erich Mühsam, Franziska zu Reventlow, Oskar Maria Graf, D. H. Lawrence, Ernst Bloch, um nur ein paar zu erwähnen.
Eine Gemeinschaft ohne Macht sollte es sein, aus einem Gemisch von Nietzsche und Tolstoi gebraut, eine andere Gesellschaft, Übermensch und Umwertung der Werte einerseits, bedürfnislos, gerecht und vegetarisch andererseits. Körper und Sexualität sollten befreit werden, schöpferisch und kreativ wollte man sein, man wollte sich wieder »spüren, überhaupt etwas spüren«, das »Leben selbst« empfinden und leben.
Die dem Rufe folgen, könnten individueller nicht gewesen sein. Gesundheitsapostel, Veganer, Anarchisten, Bohème, Wanderprediger, Dadaisten, Taugenichtse und Genies.
Aber die hehren Ideale erweisen sich bald als Illusionen. Das Ideal der Reinheit – vielleicht der zentrale Begriff – wird rasch im Menschlich-Allzumenschlichen verdreckt. Aus freier Liebe entstehen Liebesdramen und Kinder ohne Bindungen, die »Ekstase und Leere werden Geschwister«, das Dauerglück wird zum existentiellen Unglück und manch eine ist so unglücklich, daß sie dies schon wieder für Glück hält – denn man spürt sich ja wieder! Sechs Frauen begehen da oben Selbstmord.
Die seltsam paradigmatische Dynamik des Scheiterns aus Idealismus innerhalb von 20 Jahren, spiegelt sich auch in den theoretischen Beiträgen, die vom Berg in die Welt sickern. War man anfangs »hoffnungsfroh und zukunftsorientiert«, herrschten in der zweiten Phase Düsternis und Pessimismus vor und schließlich endete das Ganze als dadaistische-anarchistische Farce und als Kommerz. Aber die interne Lüge war von Anfang an systemisch im selbstbetrügerischen Plan der herrschaftsfreien Gesellschaft, die doch durch Oedenkoven gekauft war, angelegt. »Die paar guten Ideen erstickten unter der Degeneriertheit.«
Peter Michalzik macht sich nicht die Mühe, das Tohuwabohu zu sortieren, sondern versucht es durch kurze splitterhafte Texte, die vielleicht das Problem der Gleichzeitigkeit lösen sollten, im Präsens gehalten sind, die zudem romanesk agieren, also fiktiv sind, als wäre er dabeigewesen, abzuspiegeln. So wechseln in einem fort die Protagonisten, und da er sie zudem meist nur mit Vornamen anspricht, verliert man vor lauter Friedas, Idas, Lottes und Elses schnell den Überblick – nur die wahren Größen, die jeder ohnehin unterscheiden kann, die Hesse und Weber, werden mit Nachnamen benannt.
Lediglich ein dünnes äußeres Gerüst wird den Schnipseln aufgestülpt, das ist die Dauerreferenz zu Nietzsche und Tolstoi, die wie zwei Überväter agieren sollen, aber in Wirklichkeit nichts mit dem Projekt zu tun hatten.
Einiges Interessante erfährt man über Max Weber höchstselbst, über die schillernden Figuren Otto Groß, dessen psychoanalytisches Werk gerade neu entdeckt wird, und die Reventlow, viel Peripheres und Anrüchiges über diesen und jenen, aber insgesamt will sich kein ganzes Bild fügen. Noch nicht mal die Ursachen für diese Sehnsucht nach der Alternative werden deutlich. An Sachinformationen bieten die entscheidenden Wikipedia-Artikel mehr Information als 400 Seiten dieses Buches.
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