Michael Martens: Im Brand der Welten

Michael Martens: Im Brand der Welten. Ivo Andrić – Ein europäisches Leben, Wien: Paul Zsolnay 2019. 494 S., 28 €

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Als ich das ers­te Mal nach Mon­te­ne­gro reis­te, war es unab­ding­bar, als ers­ten Bestim­mungs­ort die Vil­la Andrić in Her­ceg Novi anzu­vi­sie­ren. Benannt nach sei­nem lang­jäh­ri­gen Besit­zer Ivo Andrić (1892 – 1975) ist das Haus samt groß­zü­gi­gem Gar­ten heu­te eine Art Kreu­zung aus Park­ca­fé und Museum.

Man kann dort einen domaća kafa trin­ken und sich ein­füh­len in das Ambi­en­te die­ser nach wie vor ser­bisch gepräg­ten Stadt, in der nicht zuletzt ein osma­ni­scher Uhr­turm his­to­ri­sche Asso­zia­tio­nen weckt. Dabei war der Namens­ge­ber der Vil­la, die er nach dem Tod sei­ner Frau im März 1968 nie mehr betre­ten hat, weder (ortho­do­xer) Mon­te­ne­gri­ner noch Ser­be, son­dern in Bos­ni­en gebo­re­ner (katho­li­scher) Kroa­te, der den viru­len­ten Chau­vi­nis­mus aller Volks- und Reli­gi­ons­grup­pen im süd­sla­wi­schen Raum als Feind jeder »ehr­li­chen Gemein­schaft« brand­mark­te, der einem »Schau­er, der nicht auf­hört«, glei­che. In allen Tei­len des alten Jugo­sla­wi­ens hat­te Andrić lei­den­schaft­li­che Leser – aber heu­te hat er eben­dort auch lei­den­schaft­li­che Gegner.

Micha­el Mar­tens, dem eine in jeder Hin­sicht her­aus­ra­gen­de Bio­gra­phie gelun­gen ist, zitiert einen iro­ni­schen Spruch, wonach die Ser­ben Andrić has­sen wür­den, weil er zwar als Ser­be starb, aber doch als Kroa­te gebo­ren wur­de, wohin­ge­gen die Kroa­ten ihn has­sen, weil er als Ser­be starb, wäh­rend die mus­li­mi­schen Bos­ni­er ihn has­sen, weil er schlicht­weg gebo­ren wor­den sei. Mar­tens selbst trifft noch prä­zi­ser den Kern, wenn er schreibt:

»Von den Kroa­ten trenn­te ihn viel, mit den Ser­ben ver­band ihn längst nicht alles. Der Jugo­sla­wis­mus war die ein­zi­ge poli­ti­sche Idee, der er ein Leben lang ver­bun­den blieb.«

Die süd­sla­wi­sche Ein­heit von Slo­we­ni­en bis Maze­do­ni­en war Andrićs Lebens­traum, und die­sen träum­te und leb­te er so bedin­gungs­los wie sys­tem­un­ab­hän­gig. Kon­se­quen­ter­wei­se dien­te er sowohl der Mon­ar­chie vor dem Zwei­ten Welt­krieg wie dem sozia­lis­ti­schen Ver­such unter Josip Broz »Tito« nach 1945 ohne aus­drück­li­che Abwei­chun­gen von der Gene­ral­li­nie des jewei­li­gen Regimes, was ihn prag­ma­tisch bis oppor­tu­nis­tisch erschei­nen läßt. Die wei­chen­stel­len­de Ent­schei­dung für Jugo­sla­wi­en fiel dabei früh.

Zunächst als jun­ger Kroa­te aktiv in der ser­bisch gepräg­ten, aber bereits pan­ju­go­sla­wisch ori­en­tier­ten Anti-Habs­burg-Bewe­gung »Jun­ges Bos­ni­en«, absol­vier­te er sein Abitur. Er war zeit­wei­se, nach dem in sei­nem Sehn­suchts­ort Kra­kau erleb­ten Kriegs­aus­bruch 1914, als for­scher Geg­ner des k. u. k.-Imperiums inhaf­tiert und erklomm ab 1918 – dem Jahr, in dem sein Debüt Ex Pon­to erschien – dank cle­ve­rer Netz­werk­ge­stal­tung und sei­ner poly­glot­ten Sprach­vir­tuo­si­tät die Kar­rie­re­lei­ter der jun­gen jugo­sla­wi­schen Diplomatie:

Das »König­reich der Slo­we­nen, Kroa­ten und Ser­ben« wur­de 1918 aus der Tau­fe geho­ben und elf Jah­re spä­ter zum König­reich Jugo­sla­wi­en, des­sen außer­or­dent­li­cher Gesand­ter in Ber­lin er 1939 wur­de. Knapp zwei Jah­re spä­ter, nach dem Bruch zwi­schen Bel­grad und Ber­lin, wur­de er ausgewiesen.

In den Kriegs­jah­ren wid­me­te er sei­ne Schaf­fens­kraft der Lite­ra­tur und ver­faß­te sei­ne heu­te als Haupt­wer­ke gel­ten­den Roma­ne. Er ver­wan­del­te, so sein Bio­graph, »Bos­ni­en in Wor­te«, setz­te aber letzt­lich dem gan­zen Bal­kan, die­ser »Grenz­schei­de zwei­er Wel­ten« (Andrić), ein Denk­mal. Andrić, der über­wie­gend in Više­grad an der Dri­na auf­wuchs, schil­der­te in sei­nem bekann­tes­ten Werk Die Brü­cke über die Dri­na (1945) das Leben an die­sem schick­sals­schwe­ren Ort in der »Tür­ken­zeit«. Die »Više­gra­der Chro­nik« stellt den kon­kre­ten All­tag ein­zel­ner Indi­vi­du­en genau­so plas­tisch (und empa­thisch) dar wie die grö­ße­ren Ent­wick­lungs­li­ni­en der vor Ort akti­ven Großmächte.

Daß nicht zuletzt in Više­grad glei­cher­ma­ßen ein­hei­mi­sche sla­wi­sche Mus­li­me (bzw. isla­mi­sier­te Sla­wen) und sla­wi­sche Ser­bisch-Ortho­do­xe die Kon­fron­ta­ti­on zwi­schen Mor­gen- und Abend­land aus­leb­ten – mal unter Auspi­zi­en der Osma­nen, mal der Öster­rei­cher – war ein lebens­lang bear­bei­te­tes Sujet Andrićs. Die bal­ka­ni­schen Ver­hält­nis­se schil­der­te er luzi­de, anschau­lich, scho­nungs­los, ohne mora­lis­ti­sche Beimengungen.

Für sein Œuvre erhielt Andrić 1961 den Lite­ra­tur-Nobel­preis und ist bis heu­te der popu­lärs­te jugo­sla­wi­sche Schrift­stel­ler welt­weit – aber schon Jah­re vor­her konn­te er pro­mi­nen­te Leser für sich ein­neh­men. Mit Carl Schmitt, der Andrić 1941 eine deut­sche Bibel als Abschieds­ge­schenk zukom­men ließ, ver­band ihn das gemein­sa­me Inter­es­se an Léon Bloy, mit Ernst Jün­ger traf er auf Ver­mitt­lung Schmitts eben­falls zusam­men, in Fried­rich Sieburg fand Andrić einen Verehrer.

Gleich­wohl woll­te er nach dem Welt­krieg die deut­schen Kon­tak­te nicht mehr auf­le­ben las­sen. Und doch: Andrićs Bewun­de­rer in Deutsch­land fan­den sich auch nach 1945 mit­un­ter im kon­ser­va­ti­ven Spek­trum: Die umsich­tigs­te Schau zu Bio­gra­phie und Werk­ge­ne­se Andrićs samt inter­na­tio­na­ler Biblio­gra­phie erschien 1992 im Sezes­si­on-Vor­läu­fer Cri­ticón.

Eben­so auf­schluß­reich ist die par­al­le­le Ableh­nung Andrićs durch Ver­tre­ter des Jus­te Milieu der BRD. Mar­cel Reich-Rani­cki über­schrieb 1960 sei­nen Andrić-Total­ver­riß in der Welt: »Was küm­mert uns Wischegrad?«

Nun, Andrić ist, wie Micha­el Mar­tens schreibt, tat­säch­lich »ein Dich­ter von euro­päi­schem Rang«, und wer sein Werk in sich auf­ge­so­gen hat, sieht in Više­grad nicht län­ger mehr ein Kaff mit alter Brü­cke an der heu­ti­gen bos­nisch-ser­bi­schen Gren­ze, son­dern ein sym­bo­li­sches Zen­trum des Weltgeistes.

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Im Brand der Wel­ten von Micha­el Mar­tens kann man hier bestel­len.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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