Vittorio Hösle: Globale Fliehkräfte. Eine geschichtsphilosophische Kartierung der Gegenwart. Mit einem Geleitwort von Horst Köhler, Freiburg / München: Karl Alber 2019. 224 S., 24 €
Der Philosoph Vittorio Hösle galt schon in jungen Jahren aufgrund seiner enormen Produktivität und der Vielfältigkeit seines Denkens als Ausnahmefigur innerhalb der Zunft. Aus diversen Gründen hat er keinen adäquaten Lehrstuhl hierzulande gefunden. Auch deshalb ist er wohl vor einiger Zeit in die USA ausgewandert.
Die Verdienste des Gelehrten werden keineswegs gemindert, wenn man seinen Versuch, zentrale Ereignisse der Gegenwart geschichtsphilosophisch einzuordnen, zu den schwächeren Teilen seines umfangreichen Werkes zählt. Der erste Teil der Studie schlägt einen Bogen von der Situation um 1990 herum, als die Implosion des Ostblocks im Westen weithin einherging mit utopistischen Hoffnungen auf ein »Ende der Geschichte« im Sinne eines universellen liberal-demokratischen Endzustandes, bis in die unmittelbare Gegenwart. Das BrexitReferendum und die Wahl Trumps im Jahre 2016, aber auch Entwicklungen innerhalb der EU wie die politischen Weichenstellungen in Polen wie Ungarn werden von den Deutungseliten fast ausschließlich als Tragödie gesehen.
Hösle schließt sich der gängigen Interpretation an. Wenigstens ist er in der Lage, einige differenzierte Gründe für den Aufstieg der »Populisten« zu geben, die über die üblichen Journalistendeutungen hinausgehen. Auch das Thema Migration wird durchaus abwägend beurteilt: zwischen grundsätzlichem Verständnis einerseits und der Einsicht in die Notwendigkeit von Beschränkungen andererseits, die auch für einen Universalisten wie Hösle nötig sind. Schließlich weiß er, daß offene Grenzen eine offene Gesellschaft langfristig zerstören.
Die »Zersetzung politischer Rationalität« macht er größtenteils an der Veränderung und Diversifizierung der Medienwelt fest. Dabei nimmt er nicht zur Kenntnis, daß man der partiellen Entmachtung herkömmlicher medialer Eliten durchaus positive Aspekte abgewinnen kann. Zwar behandelt Hösle einige Geschichtsdenker wie Giambattista Vico und Spengler, aber als echte geschichtsphilosophische Kartierung kann seine Publikation nicht durchgehen. Die Untersuchung wird von Anmerkungen über die Unterschiede zwischen der EU und den USA sowie über das Ende der amerikanischen Hegemonie abgerundet. Diesen Entwicklungen korrespondieren der Aufstieg Chinas und größere Revisionsabsichten Rußlands. Darüber hinaus erörtert der Philosophieprofessor Auswege aus der Krise. Über Rezepte verfügt auch er nicht. Immerhin erfahren wir, daß das goldene Vierteljahrhundert vorbei ist. Sehr erhellend ist diese Erkenntnis freilich nicht.
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