Michel Onfray: Niedergang. Aufstieg und Fall der abendländischen Kultur von Jesus bis Bin Laden, München: Knaus 2018. 701 S., 28 €
Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei, und auch die – um Hegel zu paraphrasieren – hat ein Ende. Diese Wurstigkeit ist kein Fehlgriff, wenn man die philosophische Essenz des Wälzers von Onfray auf einen Nenner bringen will. Zwischen den Sätzen »Der Himmel ist schwarz.« und »Das Nichts ist uns gewiß.« wird auf 638 Seiten die Weltgeschichte, die westliche insbesondere, die sich auf das Christentum bezieht, als Nichts, zum Nichts und ins Nichts ragend entworfen. Am Ende ist alles Wurscht.
Als Geschichtsphilosoph – seit Jahren in Frankreich als enfant terrible geltend und unter »Rechtsverdacht« stehend – nimmt Onfray den kosmologischen Standpunkt ein, oder den kristallographischen. Wenn wir wissen, daß unsere Sonne verglühen wird, welchen Sinn hat dann all das Gezappel auf Erden? Und: »alles ist Kristall«, formt sich nach geheimen, aber strengen Gesetzen zu Gestalten, die wir weder beeinflussen noch vorhersagen können. Es wirkt »eine Kraft«, eine »poetische Kraft«, eine Entropie … konkreter wird es nicht. Man kann sich auch nicht dazu verhalten, weder negativ noch positiv, allein die Tragik zu empfinden bleibt uns. Das ist die Prämisse des Buches plus die diskussionswürdige Aussage: »Eine Kultur schöpft ihre Kraft aus der Religion, von der sie legitimiert wird.« Und da das Christentum nun mal am Ende ist, gibt es auch für die Kultur keine Hoffnung mehr. Nun könnte man meinen, Onfray würde wenigstens die kulturellen Sternstunden, die Leistungen des Westens feiern, aber weit gefehlt.
In Siebenmeilenstiefeln durchhechelt er die ganze Geschichte von Jesus – einer Fiktion – bis zum kommenden Sieg des Islams. Nichts hat Bestand: Paulus am Anfang, ein impotenter Körperfeind, der das Schwert einführte, das dann die gesamte Geschichte bestimmt; ob Patristik, Scholastik, Kirche, Inquisition, Kaiser … alles Idioten und Verbrecher, Brutalos, geile Schweine, Antisemiten vor dem Herrn und Intriganten. Man muß sich in diese Boshaftigkeiten, dieses Schwarzbuch des Christentums, richtig einchanneln, um es – vielleicht – mit schadenfrohem Lächeln genießen zu können. Alles wird entweiht: die Großen waren nicht groß, die Heiligen nicht heilig, die Guten nicht gut, die Helden Narren, die Märtyrer Kindsköpfe, die Philosophen Blender und Blinde – alle! Nur die Zyniker und Kyniker, die Epikureer und Hedonisten, die Pragmatiker und Rationalisten, die Materialisten und Atheisten, die großen Zerstörer, finden ein klein wenig Gnade vor diesem guillotinesken Urteil, aber sinnlos ist deren Schaffen trotzdem.In seinem destruktiven Furor übersieht Onfray gänzlich die Selbstwidersprüche seines Wütens.
Er beklagt die Destruktion aller Versuche, eine Ordnung zu schaffen und zerstört selbst; er bejammert die fehlende Wertschöpfungskompetenz allerorten und kann selber keinen positiven Wert anbieten; indem er die Geschichtsschreibung der Lüge überführt, schreibt er selbst eine verlogene und verbogene Geschichte; wenn er nur Fakten gelten läßt, warum konstruiert er dann Narrative? usw. Wirklich schwer erträglich sind die Vereinfachungen und Populismen – die Zynismen, mit denen er seine Kapitel meist beendet, mögen noch Geschmackssache sein. Zwar gelingen ihm immer wieder markige Sätze – »Religion ist der Glaube einer erfolgreichen Sekte«; »Das Gesetz ist die Erstarrung einer Gewalt zu einer Form«; »Fortschritt ist ein christliches Konzept«; »Kulturen errichten sich auf Fiktionen«; »Religion ist eine kollektive Halluzination«; »Eine alternative Weltgeschichte ist nie die beste Lösung« – aber keiner wird erläutert, begründet oder zu Ende gedacht. Dafür scheut er nicht davor zurück, den ganz dicken Pinsel aufzutragen und direkte Linien von Paulus zu Hitler, von der Peitsche Christi zu den Gaskammern und dergleichen zu ziehen.
In der Anlage will er Spengler gleichen, tatsächlich hat er Lukács’ »Zerstörung der Vernunft« nur historisch ausgeweitet: Alles läuft letztlich auf Hitler und seine späteren Klone hinaus. Schwarze Teleologie. Andererseits: Mit seiner Islamkritik, Kapitalismuskritik, der Darstellung des Holocaust und des Terrors als ewige Wiederkehr und der negativen Bestandsaufnahme der 68er scheint es bei Onfray oberflächlich Anknüpfungspunkte zu geben. Man kann das dicke, flotte Buch, diese unterhaltsame Christenbeschimpfung, auch als Geschichtsrepetitorium lesen oder als böses kleines zynisches Antidot am Urlaubsstrand sogar mit Häme genießen.
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Niedergang von Michel Onfray kann man hier bestellen.