Ich bin der Überzeugung, daß Konservative und Rechte mit dem Staat ausgerechnet denjenigen zu Hilfe rufen, der ihre Vorstellungen von Solidarität, Gemeinschaft und Nation mit Füßen tritt und immer treten wird. Schlimmer noch: der das aus seiner inneren Logik heraus sogar tun muß.
Die Liberalen oder Libertären hingegen lehnen den Staat ab und wollen ihn durch den Markt als Ordnungssystem ersetzen, ohne zu erkennen, daß doch gerade der Staat es ist, der die Voraussetzungen für den Markt schafft.
Kurz: Die den Staat brauchen, lehnen ihn ab. Die ihn fürchten sollten, beten ihn an. Ich hoffe im Übrigen, durch das Aufzeigen dieser paradoxen Situation zu einem wechselseitigen Verständnis und zu einer Annäherung der beiden Lager beitragen zu können. Insbesondere das Subsidiaritätsprinzip könnte sich als Kompromiß herausstellen.
Fangen wir mit den Konservativen/Rechten an. Die Hoffnung geht in diesem Lager dahin, daß der Staat konservativen Werten dienen kann und wird. Dazu muß lediglich, so denkt man, der Marsch durch die Institutionen wiederholt werden, den dereinst die 1968er-Generation erfolgreich durchgeführt hat. Nur muß das heute natürlich mit anderem, konservativ denkenden Personal geschehen. Wenn man das schaffe, werde man eine andere Politik betreiben können – nämlich familienfreundlich, werteorientiert, christlich, geschichtsbewußt und im Interesse des deutschen Volkes.
Der Staat wird in diesen Überlegungen als das große Mittel angesehen, konservative Vorstellungen um- und durchzusetzen. Es komme nur darauf an, dieses Mittel in die Hand zu bekommen. An sich ist der Staat in dieser Sichtweise also wertneutral und wird erst von denjenigen, die die entscheidenden Positionen besetzen, mit Werten befüllt.
Genau in diesem Punkt täuscht sich die Rechte. Der moderne Staat ist nicht wertneutral. Er kann nicht nach Belieben mit neuen Ideen gefüttert werden, so daß er einmal reaktionär, ein andermal fortschrittlich agieren könnte.
Der Staat ist das große Instrument des Fortschritts, die Waffe der Moderne und die Schutzmacht des Individualismus. Er hat sich in der europäischen Geschichte durchgesetzt gegen die Kirche, gegen den Feudalismus, gegen die Städte und Gemeinden, gegen die Familie und letztlich gegen jegliche Form natürlicher Autorität. Seit einiger Zeit ist er auch dabei, sich endgültig gegen die Nation durchzusetzen. Alles, was Konservativen und Rechten wichtig ist, hat der Staat verdrängt oder ist dabei, es zu verdrängen.
Woran liegt das? Der Staat läßt sich nach Max Weber als politischer Anstaltsbetrieb definieren, der das Monopol legitimen physischen Zwanges in Anspruch nimmt. Alles andere, angefangen von der Familie bis hin zur römisch-katholischen Kirche, wird vom Staat als Konkurrenz bekämpft, solange es durch Herrschafts- oder auch nur Autoritätsverhältnisse gekennzeichnet ist. Das einzige, was der moderne Staat neben sich gelten lassen kann, wenn er sein Gewaltmonopol und damit sich selbst erhalten will, ist das Individuum, den vereinzelten Bürger, das Atom.
Gerade zu dessen Schutz und Befreiung ist der moderne Staat entstanden. Um den einzelnen Menschen vor „illegitimer“ Herrschaft zu bewahren, hat er alle Gewalt an sich gezogen. Indem er seine Herrschaft über alles und jeden auf rationalen und für alle gleichermaßen geltenden Gesetzen aufbaute, hat er diese Herrschaft scheinbar oder tatsächlich legitimiert. Innerhalb des staatlichen Rahmens sind die Bürger frei. Sie können Verträge miteinander schließen und Vereine oder Unternehmen gründen. Nur dauerhafte Herrschaftsverhältnisse untereinander dürfen sie trotz aller Vertragsfreiheit nicht herbeiführen. Die Freiheit und Autonomie des einzelnen ist das höchste Gut des modernen Staates, sie ist nämlich das Pendant zum Gewaltmonopol. Fällt das eine, geht automatisch auch das andere verloren.
Übrigens sind auch die totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts keine Gegenbeispiele, sondern vielmehr Bestätigungen dieser Überlegung. In diesen Regimen arbeitete man intensiv daran, die Autoritäten und Zwischeninstanzen zu zerstören, die sich zwischen dem Staat und dem Individuum befinden. Die Kinder wurden möglichst früh aus den Familien geholt, um sie staatlichem Einfluß auszusetzen; die Kirchen wurden entweder für die staatlichen Zwecke eingespannt oder bekämpft; die Gewerkschaften und andere Vereinigungen wurden zerschlagen. Übrig bleiben sollte nur die Masse aus nun völlig wehrlosen Individuen einerseits, der Staat (oder die Partei) andererseits.
Der Nationalsozialismus bildet insofern einen Sonderfall, als er mit der Nation einen antimodernen und gemeinschaftlichen Wert als obersten Staatszweck ausgab. Jedoch scheinen mir die Dinge dann doch so zu liegen, daß dieser Versuch, den Staat als Mittel für einen konservativen Wert einzusetzen, nicht als Erfolg bezeichnet werden kann. Wie sich sehr bald herausstellte, waren Nation und Staat im nationalsozialistischen Verständnis nicht zwei verschiedene Dinge, sondern ein und dasselbe. Wer das anders sah und beispielsweise den Staat bekämpfte, um die Nation zu retten, wurde im Zweifel standrechtlich erschossen. Gerade auch, wenn man sich die letzten Kriegsjahre ansieht, wird man eher davon reden müssen, daß die Nation zum Mittel des Staates gemacht und für ihn geopfert wurde, als daß der Staat ein Mittel gewesen wäre, die Nation zu fördern.
Wer als Konservativer für eine Wiedererstarkung der Familie kämpft, für christliche Werte, für natürliche Autorität, für Dorfgemeinschaft, Tradition und Nation, der sollte den Staat fürchten wie der Teufel das Weihwasser!
Das staatliche Gewaltmonopol und die damit einhergehende Individualisierung der Gesellschaft stehen diesen Werten diametral entgegen. Der moderne Staat kann per se nur in den Dienst des Fortschritts gestellt werden.
Meine Empfehlung für eine konservative Politik hört sich daher so an, als wäre sie den kühnsten Träumen eines Libertären entstiegen: Das Gewaltmonopol des Staates muß aufgeweicht werden. Im Rahmen unserer Verfassung bedeutet das insbesondere, daß die Kompetenzen verlagert werden sollten, und zwar möglichst weg von Bund (und EU) und möglichst nahe an den Bürger heran. Außerdem ist jede Gesetzgebung zu begrüßen, die nicht-staatliche Gemeinschaften als eigenständige Körperschaften anerkennt, in die nicht ohne weiteres hineinregiert werden darf. Besonders ist hier natürlich an die Familien zu denken.
Es sollte dabei nicht verschwiegen werden, was das bedeutet. Ich wähle absichtlich die Familie als Beispiel, weil daran besonders deutlich wird, ob und wie weit wir überhaupt noch willens und fähig sind, konservativ zu denken.
Wenn der Staat die Familie (wieder) als eigenständige Institution, als autonome Einheit anerkennt, stellt sich sofort die Frage, wer dann die Familie nach außen hin repräsentiert und wer in ihr die Entscheidungen trifft. Früher hatte ganz offiziell der Mann diese Autorität, und zwar – aufgepaßt – in Deutschland bis 1958. Da war z.B. Wolfgang Schäuble schon 16 Jahre alt. Auch heute müßte wieder eine zumindest vergleichbare Regelung geschaffen werden, wenn wir die Familie über das hinausheben wollen, was sie laut Gerhard Schröder ist, nämlich einfach nur der Ort, „wo Kinder sind.“
Es ist aber immerhin fraglich, ob wir, sechs Jahrzehnte nach 1958, nicht schon um Lichtjahre zu modern und emanzipiert sind, um uns auf diese Lösung überhaupt noch ernsthaft einlassen zu können. Wenn das aber so ist, wenn sich niemand mehr vorstellen kann, sich aus der Abhängigkeit des Staates zu lösen, um sich in die Abhängigkeit des eigenen Ehepartners (m/w/d) zu begeben, dann ist konservative Politik eben im Bereich der Familie unmöglich geworden.
Entweder ich bejahe die Familie als Institution und akzeptiere die Abhängigkeitsverhältnisse, die sich in ihr automatisch ergeben, oder ich verneine sie und akzeptiere alleine den Herrschaftsanspruch des Staates, der alle Familienmitglieder als gleichberechtigte Individuen behandelt. Im letzteren Fall mag man dann Familienförderprogramme noch und nöcher aufsetzen, aber konservativ ist daran nichts. Wer konservative Familienpolitik darin erblickt, einfach nur mehr Geld dorthin zu schmeißen, wo Kinder sind, der macht damit deutlich, daß er gar nicht mehr an den Wert der Familie glaubt, sondern nur an den Wert des Geldes. Kein Kindergeld und kein Freibetrag erzeugt die Wärme, Solidarität, Gemeinschaftlichkeit und Menschenbildung, die sich in einer intakten Familie einstellen, wenn alle aufeinander verwiesen sind und nicht auf den Staat. Geld ersetzt diese Werte, es bringt sie nicht hervor.
Die Rechte will den Bock als Gärtner behalten, wenn sie dem modernen Staat zutraut, ihre Werte umzusetzen. Der einzige Weg, der meines Erachtens in die richtige Richtung führen könnte, ist eine radikale Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips, eine Verlagerung der Kompetenzen von oben nach unten, vom Bund auf die Länder, Gemeinden, Familien und Bürger. Es besteht allerdings die Schwierigkeit, daß der Bock bereits schon so lange Gärtner ist, daß selbst solche, die sich für konservativ oder rechts halten, sich ein Leben mit weniger Bock gar nicht mehr vorstellen können.
In der zweiten Folge dieses Beitrags wird es um die Denkfehler der Libertären gehen.
Homeland
Am 6. Mai 2020 schrieb ich hier : "Die Felder der deutschen Rechtsliberalen heißen a.) Staatl. Souveränität, b.) Durchsetzung der Grundrechte und c.) Verfassungsgebung (auch direkte Demokratie) und Rechtssicherheit. Klassisch rechts, nicht reaktionär.", eine Provokation, durchaus vom eigenen Ideal getragen (o.k., wer bin ich schon). Eine Reaktion gab es nicht. Ich dachte, gut, Evola hat schon ziemlich viel zugeschüttet, der Rest steht mit hohen Gummistiefeln knöcheltief in der Gedankenlache. Is halt so.
Nun aber freue ich mich, dass endlich jemand auf festen Grund heraustritt, den Blick nach vorne richtet und eine Provokation setzt. Und ich bin gespannt, was der Ausblick auf die Libertären zu Tage fördert. Dann sehen wir weiter.